„Gut gehalten“ oder „vorschnell gealtert“? – Top-Ten-Marker für das biologische Alter identifiziert

Simone Reisdorf

Interessenkonflikte

27. September 2016

Stuttgart – Jeder weiß, dass es unter den Personen eines Jahrgangs immer einige gibt, die besonders „alt aussehen“, und andere, die sich „gut gehalten haben“. Doch wie lässt sich das biologische Alter, also der Zustand der Organe, objektiv messen?

Prof. Dr. Alexander Bürkle, Ordinarius für Molekulare Toxikologie an der Universität Konstanz, stellte in seiner Key-Note-Lecture beim Gerontologie- und Geriatriekongress das von ihm koordinierte und mit EU-Mitteln geförderte MARK-AGE-Projekt (European Study to Establish Biomarkers of Human Ageing) vor, das genau hier ansetzt: Eine Formel, die mehrere nachweislich aussagekräftige biochemische und molekulare Marker enthält, soll das biologische Alter jeder Person berechenbar machen [1].

Dieses zu kennen, ist keineswegs nur von akademischem Interesse. Denn liegt das biologische Alter unerwartet hoch, könnte das beispielsweise ein engmaschigeres Monitoring bestimmter Organe erfordern oder die Dringlichkeit einer Therapie oder einer Lebensstiländerung unterstreichen: „Das Wissen um das biologische Alter kann Menschen auch dazu motivieren, eine gesündere Lebensweise anzunehmen“, zeigte sich Bürkle im Gespräch mit Medscape überzeugt.

Marker für das biologische Alter bei 3.300 Probanden gesucht

Die eigentliche Mammutaufgabe des Projektes war es, herauszufinden, welche Marker tatsächlich bedeutsam sind und im Alter deutlich ansteigen oder abfallen. Damit waren Bürkle und seine Mitarbeiter sowie mehrere weitere Teams in Europa – insgesamt mehr als 200 Forscher – 5 Jahre lang beschäftigt.

 
Das Wissen um das biologische Alter kann Menschen auch dazu motivieren, eine gesündere Lebensweise anzunehmen. Prof. Dr. Alexander Bürkle
 

Für die Teilnahme an MARK-AGE wurden 3.300 Probanden gewonnen. Die meisten von ihnen waren 35- bis 74-jährige Personen aus der Allgemeinbevölkerung an 8 repräsentativ verteilten Orten in Europa. Aber auch Menschen aus besonders langlebigen Familien und – als Kontrollpersonen – deren Lebenspartner waren eingeschlossen. Auf der anderen Seite gab es einige Studienteilnehmer mit Erkrankungen wie dem Down-Syndrom, das für seinen progerischen Effekt bekannt ist.

Alle Studienteilnehmer wurden körperlich untersucht, es wurden Blut, Urin und ein Wangenschleimhautabstrich für die DNA-Untersuchung gewonnen und sie füllten umfangreiche Fragebögen aus. Die verschiedenen „Work Packages“ der Studie beinhalteten unter anderem die Messung zahlreicher biochemischer und molekularer Marker

  • mit Bezug zur DNA,

  • mit Bezug zu Proteinen und deren Modifikationen,

  • immunologische Marker,

  • Hormone, Stoffwechselmarker und Marker mit Bezug zur klinischen Chemie,

  • Marker für oxidativen Stress.

Gesucht wurde nach einer Kombination aus mehreren Markern, einem „biologischen Altersscore“ (biologic age score), der das chronologische Alter der untersuchten Population abbildet. Daraus sollte sich dann umgekehrt für neue, unbekannte Personen, deren biochemische und molekulare Messwerte vorliegen, ein „erwartetes“, biologisches Alter ableiten lassen.

Top-Ten-Marker in einer Formel vereint

 
Als das ‚Zugpferd‘ unserer Biomarkeranalyse hat sich die Cytosin-Methylierung in der DNA erwiesen. Prof. Dr. Alexander Bürkle
 

Das ist auch tatsächlich gelungen: Die Forscher fanden für Männer und Frauen getrennt jeweils bis zu 50 bedeutsame Biomarker, die mit dem Altern mehr oder weniger stark assoziiert waren, und bauten jeweils die „Top Ten“ in eine Formel ein. Je nachdem, wie stark die Korrelation eines dieser Marker mit dem Lebensalter in der Studienpopulation gewesen war, wurde er nun in der Formel stärker oder geringer gewichtet.

Die Formel wurde zu Testzwecken gleich auf die Studienteilnehmer angewendet, und bei den meisten Personen passten das chronologische und das errechnete „biologische“ Alter sehr gut zusammen. Es gab aber bei Männern wie Frauen einige Ausreißer in beide Richtungen, eben die „alt Aussendenden“ und die „gut Erhaltenen“.

Um zu beurteilen, ob das so ermittelte biologische Alter auch klinisch relevant ist, werden nach Aussage von Bürkle noch Longitudinal-Studien benötigt. Zu den vorzeitig Gealterten gehörten aber – vor allem bei den Männern – erwartungsgemäß die meisten der teilnehmenden Personen mit Down-Syndrom, was der Formel eine zusätzliche Bestätigung gab. „Wir sind mit der Auswertung der Daten noch immer nicht fertig, es sollen noch zahlreiche weitere Analysen veröffentlicht werden“, kündigte Bürkle an.

Bedeutsam: Cytosin-Methylierung, weniger bedeutsam: Telomerverkürzung

„Als das ‚Zugpferd‘ unserer Biomarkeranalyse hat sich die Cytosin-Methylierung in der DNA erwiesen“, berichtet Bürkle. „Sie spielt eine wichtige Rolle in der Epigenetik.“ So hatten die Wissenschaftler beispielsweise in einem Abschnitt, der den Promotor für das Gen ELOVL.2 (ELOVL: elongation of very long chain fatty acids) enthält, bei älteren Personen oftmals an bestimmten Stellen methyliertes Cytosin gefunden. Dies galt für Männer und Frauen in ähnlichem Ausmaß. Ein anderes Gen, dessen Methylierung eine Rolle spielte, war FHL.2 (FHL: Four and a half LIM domains); auch dieses war bei älteren Personen häufiger methyliert.

Weiterhin erwiesen sich bestimmte Glykane – kurze Zuckerketten, die an Proteine angehängt sind – als wichtig, wie Bürkle erklärt: Insbesondere bei Frauen kam im Alter eines dieser Glykane deutlich seltener und ein anderes deutlich häufiger vor als in der Jugend. Das Verhältnis dieser beiden Glykane zueinander war also wiederum ein aussagekräftiger Marker für das biologische Alter.

 
Die Telomer-Verkürzung gehörte damit nicht zu den 50 besten Markern. Prof. Dr. Alexander Bürkle
 

Aber auch schon lange bekannte Marker wie De-Hydro-Epi-Androsteron-Sulfat (DHEAS), das im Alter abfällt, wurden durch die Studie bestätigt; bei Frauen außerdem Ferritin (Anstieg) und bei Männern Lycopen (Absinken).

Interessanterweise spielten auf die Telomere bezogene Parameter keine so große Rolle wie erwartet. Sie erreichten nicht den als Cut-off gesetzten Korrelationskoeffizienten (r ≥ 0,2 oder r ≤ -0,2). „Die Telomer-Verkürzung gehörte damit nicht zu den 50 besten Markern“, so Bürkle.

Erste Anwendung: COBRA-Studie

Eine erste Anwendungsmöglichkeit der Formel hat sich bereits ergeben: In dem ebenfalls von der EU unterstützten Folgeprojekt COBRA (Co-morbidity in relation to AIDS) wird das biologische Alter von Personen mit HIV-Infektion bestimmt. Bürkle ist auch hieran beteiligt.

„Es geht um die Frage, ob die Infektion oder deren Therapie oder beides den Alterungsprozess anheizt“, erklärte er. Denn HIV-infizierte Personen überleben unter antiretroviraler Behandlung zwar heute deutlich länger als früher; sie befinden sich aber oftmals in einem schlechteren Gesundheitszustand – womöglich in einem höheren biologischen Alter – als Personen desselben Jahrgangs ohne HIV-Infektion.

In COBRA eingeschlossen wurden 134 Personen aus bereits bestehenden Kohorten HIV-positiver Patienten (meist Männer) in den Niederlanden und Großbritannien sowie 79 Kontrollpersonen, die jeweils in einem ähnlichen Umfeld und unter ähnlichen Bedingungen leben.

 
Die Ursachen des Alterungsprozesses vermutet man zu etwa 20 Prozent in der genetischen Konstitution, die ja nicht veränderbar ist, aber zu etwa 80 Prozent in Umwelteinflüssen. Prof. Dr. Alexander Bürkle
 

Eine Auswertung hat nun gezeigt, dass der Unterschied zwischen dem biologischen und dem chronologischen Alter bei Personen mit HIV-Infektion tatsächlich größer war als bei den Kontrollpersonen ohne HIV-Infektion: Zwar waren die meisten an der Studie beteiligten Personen biologisch älter, als ihr Geburtsdatum dies erwarten ließ, die Differenz war aber bei den HIV-positiven Studienteilnehmern deutlich stärker ausgeprägt. Der mittlere Unterschied zum kalendarischen Lebensalter lag bei durchschnittlich +6 Jahren (HIV-Negative) versus +13,3 Jahren (HIV-Positive). Der Nachteil für die HIV-infizierten Personen war signifikant (p < 0,001).

Alles schon gelaufen?

Wenn der Alterungsprozess also jedem von uns schon mehr oder weniger stark „in den Knochen steckt“, wozu dient dann das Wissen um den eigenen Zustand? Ist man nicht ohnehin machtlos? Ganz so sei es nicht, macht Bürkle im Gespräch mit Medscape klar: „Die Ursachen des Alterungsprozesses vermutet man zu etwa 20 Prozent in der genetischen Konstitution, die ja nicht veränderbar ist, aber zu etwa 80 Prozent in Umwelteinflüssen“, betont er.

„Zu den Umwelteinflüssen gehört in erster Linie der eigene Lebensstil. Und dieser ist durchaus veränderbar, auch wenn das schwierig ist. Wir glauben, dass ein relativ schlechtes, Besorgnis erregendes Ergebnis, mit dem ein Mensch konfrontiert wird, dazu beitragen kann, ihn zu motivieren, dass er seinen Lebensstil überdenkt.“ Zeigen Lebensstil und eventuelle sonstige Therapien schließlich Wirkung, so könnte eine erneute Bestimmung des biologischen Alters diesem Menschen ermutigende und motivierende Ergebnisse bringen, so Bürkle.

 

REFERENZEN:

1. Gerontologie- und Geriatrie-Kongress, 07. bis 10. September 2016, Stuttgart

 

Kommentar

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