Husten beim Kind: Britische Studie liefert sieben Kriterien, wann Antibiose sinnvoll ist – deutsche Ärzte skeptisch

Petra Plaum

Interessenkonflikte

26. September 2016

Hamburg – Eine große prospektive Kohortenstudie aus Großbritannien liefert neue Argumente gegen die rasche Antibiotika-Gabe beim hustenden Kind: Von 8.394 Jungen und Mädchen bekamen 37,2% schon bei der Erstuntersuchung ein Antibiotikum. Allerdings sank das Hospitalisierungsrisiko der Kinder dadurch nicht [1]. Die Autoren identifizierten 7 Prädiktoren für einen Krankenhausaufenthalt. Lagen 4 oder mehr vor, stieg das Risiko für eine stationäre Aufnahme.

„Klinische Prädiktoren können uns helfen, zwischen Kindern mit sehr niedrigem, normalem und hohem Risiko für eine Hospitalisierung aufgrund des Atemwegsinfekts zu unterscheiden“, so das Autorenteam um Prof. Dr. Alastair D. Hay vom Centre for Academic Primary Care an der University of Bristol in der Zeitschrift Lancet Respiratory Medicine. „Sie könnten genutzt werden, um in der Primärversorgung die Antibiotikaverordnungen an Kinder mit sehr niedrigem Risiko zu reduzieren.“

Deutsche Pädiater verordnen seltener Antibiotika als britische

„Eine wertvolle Studie, weil sie zeigt, dass in Großbritannien sehr viele Kinder, die sich mit einem Atemwegsinfekt vorstellen, antibiotisch behandelt werden – und das wahrscheinlich zu Unrecht“, kommentiert Prof. Dr. Johannes Liese von der Universität-Kinderklinik Würzburg, 1.Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI). Allerdings ließen sich die Zahlen aus Großbritannien nicht auf Deutschland übertragen: „Wir sind mit unserem Versorgungssystem der niedergelassenen Kinderärzte besser aufgestellt, hier hätten von vornherein viel weniger der Kinder Antibiotika bekommen.“

Auch Dr. Gisbert Voigt, niedergelassener Kinder- und Jugendarzt aus Melle und im Vorstand der Ärztekammer Niedersachsen (ÄKN), betont: „Die Studie spiegelt die Realität eines Gesundheitssystems wider, das eine kompetente primärärztliche Versorgung von Kindern und Jugendlichen durch Kinder- und Jugendärzte nicht kennt. In Deutschland gibt es einen deutlichen Unterschied in der Verordnungshäufigkeit von Antibiotika bei Kindern zwischen Pädiatern und Nicht-Pädiatern.“ Ärzte, die vorwiegend Erwachsene behandeln, verordnen laut Versorgungsatlas dagegen häufiger Penicillin und Co. – sie sind daher auch die wichtigsten Adressaten der Veröffentlichung.

 
In Deutschland gibt es einen deutlichen Unterschied in der Verordnungs-häufigkeit von Antibiotika bei Kindern zwischen Pädiatern und Nicht-Pädiatern. Dr. Gisbert Voigt
 

Wichtige Beurteilungskriterien fehlen
                                                                                            
Für die prospektive Kohortenstudie aus Großbritannien wurden die Daten von 8.394 Mädchen und Jungen im Alter zwischen 3 Monaten und 16 Jahren analysiert. Alle waren aufgrund von Husten, der sie seit maximal 4 Wochen quälte, zwischen Juli 2011 und Juni 2013 in eine von 247 allgemeinmedizinischen Praxen in Großbritannien gekommen. Ärzte und Eltern füllten Fragebögen aus, die demographische Angaben, Erkrankungen in der Vergangenheit und insgesamt 47 Symptome beinhalteten.

Jeder dritte Studienteilnehmer bekam sofort Antibiotika. 78 Studienteilnehmer (0,9%) mussten in den 30 Tagen nach ihrer Rekrutierung mit der Aufnahmediagnose „Atemwegsinfekt“ ins Krankenhaus. Eine Antibiose, so stellten Hay und Kollegen fesr, senkte diese Wahrscheinlichkeit nicht. Kein Wunder, denn bei den hospitalisierten Kindern galt: „Nur 26,9% aller Entlassungsdiagnosen sprachen für eine bakterielle Ursache wie eine Infektion der unteren Atemwege, Tonsillitis und Pneumonie, bei der Antibiotika womöglich benötigt wurden“, berichtet Hay.

Welche Faktoren sprechen dafür, dass ein in der Praxis vorgestelltes Kind später ins Krankenhaus muss? Hierfür erwiesen sich folgende 7 Prädiktoren als aussagekräftig:

1. Kurze Krankheitsdauer (seit maximal 3 Tagen)
2. Fieber (gemessen über 37,8 ̊C oder hohes Fieber in den vergangenen 24 Stunden laut Elternangabe)
3. Alter (bis 2 Jahre) 
4. Rezession (interkostal oder subkostal, vom Arzt bestätigt)
5. Keuchen
6. Asthma und
7. Erbrechen (in den vergangenen 24 Stunden laut Elternaussage).

Alle Anfangsbuchstaben der englischen Wörter (short illness, temperature, age, recession, wheeze, asthma, vomiting) zusammen ergeben das als Eselsbrücke geeignete Akronym STARWAVe.

Teilnehmer, die bei der Erstuntersuchung 0 bis 1 dieser Vorgaben erfüllten, mussten fast nie ins Krankenhaus. Diese Very-Low-Risk-Gruppe sollte nie Antibiotika bekommen, fordern Hay und Kollegen. Bei Kindern mit 2 bis 3 der Kriterien fanden sie ein durchschnittliches Hospitalisierungsrisiko – und empfehlen, Antibiotika hier ebenfalls nicht oder allenfalls verzögert zu verordnen. Erst ab 4 oder mehr dieser Risikofaktoren ermittelten die Wissenschaftler ein hohes Hospitalisierungsrisiko. Auch hier empfehlen sie Antibiotika nicht generell, halten die Gabe jedoch für am ehesten gerechtfertigt.

 
Klinische Prädiktoren könnten genutzt werden, um in der Primärversorgung die Antibiotikaverordnungen an Kinder mit sehr niedrigem Risiko zu reduzieren. Prof. Dr. Alastair D. Hay
 

Die Aussagekraft dieser klinischen Regel bewerten sie als hoch. Sie errechneten einen AUROC-Wert (Area under the curve) von 0,81 (95%-Konfidenzintervall: 0,76–0,85).

Ist STARWAVe auch für Deutschland geeignet?

„Die Grundannahme dieser Studie ist aus meiner Sicht korrekt“, erklärt Voigt gegenüber Medscape. „Von den genannten Symptomen halte ich allerdings die Angabe ,Temperatur ab 37,8 Grad Celsius oder Angabe von hohem Fieber seitens der Eltern in den vergangenen 24 Stunden‘ für wenig aussagekräftig. Fieber in dieser Größenordnung stellt keinen prognostischen Wert dar.“

Zweck der Klassifikation sei offenbar, ‚general practitioners‘ ohne wesentliche Ausbildung in Kinder- und Jugendmedizin eine einfache Entscheidungshilfe an die Hand zu geben, meint Voigt.

Für noch mehr Aussagekraft sollte eine Entscheidungshilfe für Allgemeinmediziner aber weitere Prädiktoren beinhalten, schlägt er vor. „Bemerkenswert finde ich, dass in der Studie ausdrücklich ergänzende Labortests wie CRP-Wert oder Blutbild ausgeschlossen wurden. Damit lässt sich in Zweifelsfällen jedoch durchaus die Entscheidung pro/contra Klinikeinweisung oder Antibiotikatherapie überprüfen.“

Liese ergänzt: „Inzwischen können wir mit einfachen Methoden nicht-invasiv die Sauerstoffsättigung messen, bei Rezession und Obstruktion tun wir das routinemäßig. Den Leitlinien entsprechend sollte ein Kind mit 93 Prozent Sauerstoffsättigung oder weniger hospitalisiert werden. Diese Empfehlung fehlt in dieser Studie.“

Einen weiteren wichtiger Kritikpunkt sieht Liese, weil Hay und Kollegen suggerieren, dass – weil ab 4 oder mehr Prädiktoren das Hospitalisierungsrisiko steigt – auch die Antibiotikagabe gerechtfertigt sein könnte. Er hält dagegen: „STARWAVe scheint tatsächlich vorhersagen zu können, ob ein Kind im Krankenhaus aufgenommen wird. Die klinischen Symptome, vor allem das Keuchen, sind jedoch prädiktiv für eine virale Atemwegsinfektion. Deshalb erachte ich STARWAVe als nicht geeignet, eine Antibiotikaverordnung davon abhängig zu machen.“

Liese nennt ein Beispiel: Kleinkinder, die 4 oder mehr STARWAVe Kriterien erfüllen, haben häufig eine virusbedingte obstruktive Bronchitis und profitieren zwar von einer stationären Behandlung mit Sauerstoff- und Flüssigkeitsgaben, jedoch in der Regel nicht von Antibiotika. Im Sinne einer rationalen Antibiotikaverordnung, so Liese, können und sollen bei diesen meist viralen Infektionen Antibiotikagaben wenn möglich vermieden werden.

Unnötige Antibiotikagaben vermeiden – was sich in Deutschland tut

In Deutschland, betont Liese, werden Kinder mit den in der Studie genannten Symptomen aktuell signifikant seltener mit Antibiotika behandelt als in Großbritannien.

 
Den Leitlinien entsprechend sollte ein Kind mit 93 Prozent Sauerstoffsättigung oder weniger hospitalisiert werden. Diese Empfehlung fehlt in dieser Studie. Prof. Dr. Johannes Liese
 

Auf dem Kongress für Kinder- und Jugendmedizin in Hamburg wurden gerade die Ergebnisse einer noch unpublizierten bayerischen Surveillance-Studie mit 637 Teilnehmern mit akuten Atemwegsinfekten präsentiert, an der er beteiligt war: Zwischen 2013 und 2015 wurde 1- bis 5-Jährigen, die mit Fieber sowie Husten oder Schnupfen zum Kinderarzt kamen, ein Rachenabstrich entnommen und mittels Multiplex-PCR auf verschiedene virale Erreger getestet [2]. Tatsächlich fanden sich bei 83% der Kinder virale Erreger. 14% hatten Antibiotika verordnet bekommen.

Auch hierzulande müssten Antibiotika-Verordnungen noch weiter reduziert werden, fordert Liese. Dafür setzt er vor allem auf vermehrte Aufklärung der Eltern. So könne z.B. die Broschüre „Wann muss ich mir Sorgen machen?“, die gemeinsam von der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie und dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte erstellt wurde und seit Ende 2015 in Kinderarztpraxen ausliegt, Eltern informieren.

In Niedersachsen läuft seit einem halben Jahr eine Kampagne von Landesärztekammer (ÄKN), Landesapothekerkammer und Landesgesundheitsamt, die nach dem Motto „Weniger ist mehr!“, die Antibiotikaverordnungen reduzieren soll. Mit Plakaten, Broschüren und Veranstaltungen erreicht die Kampagne Mediziner und Patienten gleichermaßen. „Tatsächlich ist es gelungen, insgesamt die Verordnung von Antibiotika in Niedersachsen zu vermindern. Dies gilt besonders für die Verordnung von Antibiotika durch Pädiater“, berichtet Voigt.

„Seitens der ÄKN haben wir daher in Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Landesgesundheitsamt eine Fortbildungsserie im niedersächsischen Ärzteblatt zur rationalen oralen Antibiotikatherapie veröffentlicht, die aus meiner Sicht sehr positiv aufgenommen wurde.“ Auch Mütter und Väter, betont Voigt, seien sensibilisiert und legen zunehmend Wert darauf, bei ihrem Kind auf eine Antibiotikatherapie zu verzichten. „An dieser Stelle zeichnet sich gerade auf Seiten der Eltern ein Sinneswandel ab.“

 

REFERENZEN:

1. Hay AD, et al: Lancet Respir Med (online) 1. September 2016

2. 112. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und 54. Herbsttagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH), 14. bis 17. September 2016, Hamburg

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....