Nutzen und Nebenwirkungen von Statinen – ein umfassender Review in „The Lancet“ zieht Bilanz

Dr. Jürgen Sartorius

Interessenkonflikte

22. September 2016

Die Zeitschrift The Lancet hat einen umfassenden Review zur Primär- und Sekundärprävention vaskulärer Erkrankungen durch Statine veröffentlicht [1]. Das Fazit: Bislang sind die Risiken der Statin-Anwendung in den Publikationen oft überbetont und der Beitrag der verbreiteten langjährigen LDL-Senkung zur Verringerung vaskulärer Erkrankungen zu wenig gewürdigt worden.

Die Gruppe von 28 Autoren aus verschiedenen Instituten für öffentliche Gesundheit in Großbritannien und den USA spricht sich daher dafür aus, die Publikationen der letzten Jahre, die auf Risiken bei der Anwendung von Statinen aufmerksam machten, hinsichtlich ihrer bevölkerungsstatistischen Gültigkeit zu relativieren.

Durch die Einnahme von Statinen seien bei vielen Patienten Herzinfarkte und Schlaganfälle vermieden worden, betont der Erstautor des Reviews, Prof. Dr. Rory Collins, Clinical Trial Service Unit der Universität Oxford, Großbritannien. Dies sei in Relation zu den Nebenwirkungen zu sehen, die zwar zweifellos möglich, aber meistens schon durch das Absetzen der Statine reversibel seien. Die überwiegende Mehrheit der Patienten mit vaskulärem Risiko profitiere eindeutig von der Statingabe.

Koautor Prof. Dr. Liam Smeeth, London School of Hygiene and Tropical Medicine, geht noch einen Schritt weiter: „Die beste gefundene wissenschaftliche Evidenz zeigt uns, dass Statine effektive und sichere Wirkstoffe sind, die eine entscheidende Rolle für die Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen, den weltweit führenden Ursachen für Morbidität und Mortalität, spielen.“

„Der Review legt nahe, das „Polypill für alle über 55“-Thema wieder aufzunehmen – diese Kombipille ist aber bisher an den Nebenwirkungen gescheitert“, sagt dazu Dr. Uwe Popert, niedergelassener Allgemeinmediziner aus Kassel, Lehrbeauftragter für Allgemeinmedizin der Universität Göttingen und Mitglied im Arbeitskreis Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Allgemein-und Familienmedizin (DEGAM). In Deutschland ist z.B. die Polypill Sincronium® (Hexal AG, mit ASS, Atorvastatin und Ramipril) auf dem Markt.

Benefits für vaskuläre Primär-und Sekundärprävention eindeutig bewiesen

 
Die beste gefundene wissenschaftliche Evidenz zeigt uns, dass Statine effektive und sichere Wirkstoffe sind. Prof. Dr. Liam Smeeth
 

Evidenzen aus großen Populationsstudien und randomisierten kontrollierten Studien (RCTs), Tierversuchen und genetischer Forschung haben einen eindeutigen Zusammenhang zwischen höheren LDL-Cholesterinspiegeln und einem erhöhten Risiko für vaskuläre Erkrankungen gezeigt, heißt es im Review. Laut Metaanalysen aus großen RCTs zur Statintherapie sei bei Reduktion des LDL-Cholesterins um 1 mmol/l mit einer Abnahme der koronar bedingten Todesfälle, von Herzinfarkten und ischämischen Schlaganfällen sowie koronaren Revaskularisierungen um etwa 25% pro Jahr zu rechnen. Eine Senkung um 2 mmol/l halbiere sogar diese Risiken.

„Auffällig an der Argumentation der Autoren ist allerdings, dass ausschließlich die Lipidsenkung durch Statine besprochen wird“, betont Popert. „Deswegen kann dieses Review nur als Empfehlung für Statine gesehen werden – neue Medikamentengruppen wie die PCSK-9-Hemmer müssen erst ihre Wirksamkeit beweisen. Aus einer LDL-Senkung kann man bei Nicht-Statinen eben nicht direkt auf das Ausmaß der Vermeidung von Herzinfarkten schließen.“

 
Der Review legt nahe, das ,Polypill für alle über 55‘-Thema wieder aufzunehmen. Dr. Uwe Popert
 

Nebenwirkungen sind selten und meist reversibel

Zu den immer wieder berichteten Nebenwirkungen der Statintherapie gehören Fälle von Myopathie mit erhöhten Kreatinkinasewerten. Diese sind allerdings mit etwa 1 zusätzlichem Fall pro Jahr unter 10.000 Statin-behandelten Patienten laut Review selten. Als weitere Nebenwirkung von Statinen gilt die Erhöhung des Risikos, eine Diabetes-Erkrankung zu entwickeln. Aber auch dies sei mit 10 bis 20 Fällen pro 10.000 behandelten Patienten pro Jahr selten. Die Autoren betonen auch, dass dieser Zusammenhang fraglich sei – und andererseits wirkten Statine wiederum auch den negativen vaskulären Folgen eines Diabetes entgegen.

Eine dritte Nebenwirkung sind vermehrte hämorrhagische Schlaganfälle. Randomisierte Studien ergaben, dass die Statintherapie dieses Risiko um etwa ein Fünftel erhöht, Daraus würden sich 5 bis 10 Fälle pro 10.000 Patienten pro Jahr errechnen. Allerdings sei die Zahl der verhinderten ischämischen Schlaganfälle durch Statine wesentlich höher, so dass sich die Zahl der Schlaganfälle insgesamt trotzdem unter der Therapie deutlich verringere, heißt es im Review. Berichte und Verdachtsmomente auf Gedächtnisverlust, Katarakte, Nierenprobleme, Schlafstörungen, Aggression, Selbstmordtendenzen, erektile Dysfunktion und Neuropathien unter Statinen hätten sich in RCTs nicht bestätigt.

Beobachtungsstudien wurden oft überbewertet – oder doch nicht?

In manchen Beobachtungsstudien wurde berichtet, dass bis zu 20% der Patienten unter einer „Statin-Intoleranz“ litten, die sich durch Muskelschmerzen und Schwäche bemerkbar mache. Die Evidenz aus RCTs zeige allerdings, schreiben die Autoren, dass dies „Misinterpretationen“ seien. Solche Nebenwirkungen seien auch eher selten (nur bei 10 bis 20 von 10.000 Patienten pro Jahr) und zudem reversibel.

 
Die Vernachlässigung von … Beobachtungsstudien ist problematisch, denn viele der teuren randomisierten kontrollierten Studien werden längst auf möglichst positive Resultate hin maßgeschneidert. Dr. Uwe Popert
 

Doch hier widerspricht Popert:„Die Vernachlässigung von Real-life-Studien bzw. Beobachtungsstudien ist problematisch, denn viele der teuren randomisierten kontrollierten Studien werden längst auf möglichst positive Resultate hin maßgeschneidert. Die Nebenwirkungsarmut in den Statin-Interventionsstudien beruht z.T. auf Tricks: In der Heart Protection Studie HPS wurden beispielsweise 30.000 Patienten in eine Run-in Phase eingeschlossen, aber nur 20.000 in die endgültige Studie. Vermutlich sind hier viele mit Muskelschmerzen ausgestiegen.“

Und weiter berichtet er aus der Praxis: „Jeder Praktiker kennt das: Die statinbedingten Muskelschmerzen sind mit etwa fünf bis zehn Prozent nicht selten und nehmen nachweislich mit steigender Dosis zu. Prof. Collins und viele seiner Mitautoren kennen das natürlich eher nicht, denn sie sind Epidemiologen“, gibt Popert zu bedenken.

Aus epidemiologischer Sicht sprechen sich die Review-Autoren gegen eine zu starke Berücksichtigung von Beobachtungstudien aus. Denn im Gegensatz dazu gebe es bei RCTs mindestens 2 gleiche Gruppen, von denen die eine ein Placebo erhalte, das dem Ergebnis der Verum-Gruppe gegenüber gestellt werden könne. In Beobachtungsstudien ließen sich seltene Ereignisse im Zusammenhang mit einer Therapie erkennen, sie ließen aber nicht – wie RCTs – zuverlässige Aussagen über häufige oder weniger ausgeprägte Auswirkungen einer Therapie zu.

Das Fazit des Reviews lautet, die in zahlreichen hochwertigen Studien bewiesenen Vorteile der Statine zur Primär- und Sekundärprävention vaskulärer Erkrankungen nicht durch Überbetonung von seltenen Nebenwirkungen zu relativieren. Denn dies könnte dazu führen, dass die Statinbehandlung – durch Verordner oder eigenmächtig durch Patienten – abgesetzt werde und den Patienten damit die bewiesenen Vorteil der Behandlung vorenthalten werden.

 

REFERENZEN:

1. Collins R, et al: Lancet (online) 8. September 2016

 

Kommentar

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