Bremen – Den vielleicht beeindruckendsten Beitrag auf der Konferenz „Migration, Health and Ethics" lieferten 2 junge Wissenschaftler aus Birmingham, Arshad Isakjee und Surindar Dhesi [1]. Sie haben das Flüchtlingslager im Französischen Calais auf seine Gesundheitsgefahren hin untersucht. Die Ergebnisse sind erschütternd. „Es gibt für die 9.000 Flüchtlinge, die in dem Lager auf eine Gelegenheit zur Flucht nach Großbritannien warten, nur fünf Stellen, um Trinkwasser zu zapfen", sagte Dhesi. „Und dieses Wasser ist mit Fäkalien kontaminiert."
Kein Wunder. Denn es gibt zu wenige Toiletten. Eigentlich sollte es für maximal 20 Menschen eine Toilette geben. „Aber in Calais steht nur eine Toilette für 70 Menschen zur Verfügung." Die hygienischen Zustände sind entsprechend desaströs und die Menschen verrichten deshalb ihre Notdurft lieber unter freiem Himmel – und kontaminieren so das Trinkwasser. Es fehlt an Wasser zum Waschen, an warmem Wasser sowieso.
„Sobald man auf dem Gelände ist, fällt einem die schlechte Luft auf", so Isakjee. Tatsächlich verbrennen die Flüchtlinge alles Mögliche, um sich an den Feuern zu wärmen oder um zu kochen. Schwaden verbrannten Plastiks, Abfalls, schmorender Kleider und Schuhe ziehen über das Lager, berichteten die beiden.
Flüchtlinge in Gesundheitsversorgung integrieren
Auch wenn die Bedingungen nicht überall so katastrophal sind wie in Calais, ist es gleichwohl schwierig, die Menschen aus vieler Herren Länder gesundheitlich zu versorgen. Viele, vor allem junge Männer, beginnen ihre Flucht bei guter Gesundheit. Aber die Strapazen der Flucht, das Warten, die Unsicherheiten und die Lager setzen den Flüchtlingen zu, hieß es auf der Tagung. Besonders natürlich den Alten und Kranken.
„Gerade in Ländern wie der Türkei und Deutschland, in denen viele Flüchtlinge ankommen, stehen die Behörden, Krankenhäuser, Arztpraxen und freiwilligen Helferinnen und Helfer vor großen Herausforderungen“, sagte Prof. Dr. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS). Zahlreiche Referenten sprachen sich für eine rasche Integration der Flüchtlinge in die reguläre medizinische Versorgung aus. Eine Leistung, „die in Deutschland Flüchtlingen nur sehr eingeschränkt gewährt wird", wie Dr. Johanna Offe von „Ärzte der Welt" im Gespräch mit Medscape kritisch anmerkte.
Laut Asylbewerberleistungsgesetz haben Flüchtlinge in den ersten 15 Monaten im Wesentlichen nur bei akuten Erkrankungen, Schmerzen und in der Schwangerschaft Anspruch auf Gesundheitsleistungen. Deutschland bietet den Flüchtlingen aktuell 2 Wege in die Versorgung. In Bremen, Hamburg und Berlin gilt das Bremer Modell, nach dem die Flüchtlinge die Leistungen bei einem Arzt über eine Gesundheitskarte in Anspruch nehmen können. Die Ärzte erhalten die Kosten von den Sozialämtern erstattet. Damit entfällt für die Flüchtlinge der Gang aufs Sozialamt, der in anderen Bundesländern fällig ist, um dort einen Behandlungsschein zu erhalten und damit zum Arzt gehen zu können.
Für die so genannten Papierlosen, also Menschen ohne offiziellen Aufenthaltsstatus, in Deutschland stehen die Dinge schlechter, sagte Offe. Zwar stehe ihnen auch jenes eingeschränkte Leistungsspektrum zu. Aber sei es die Gesundheitskarte oder ein Behandlungsschein – sobald sie sich für eines von beidem bei den Behörden melden, gehen ihre Daten an die Ausländerbehörde. Damit geschieht das, was die papierlosen Menschen in Deutschland um fast jeden Preis verhindern wollen: ihren illegalen Status zu offenbaren und die Abschiebung zu riskieren.
Aus Sicht der Ärzte macht die Versorgung von Flüchtlinge umso weniger Probleme, je mehr Erfahrung sie mit der Versorgung von Flüchtlingen sie schon gesammelt haben und je besser sie über die rechtlichen Aspekte informiert werden. Das ist eines der Ergebnisse der Studie, die Jennifer Koch, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Bremer Instituts für Public Health und Pflegeforschung (IPP), in Bremen vorgetragen hat.
Das Bremer Modell
Das Bremer Modell macht die Versorgung von Flüchtlingen und die Abrechnung einfacher. Sie erhalten eine Gesundheitskarte der AOK Bremen/Bremerhaven. Die Leistungen werden direkt über die KV abgerechnet und vom Amt für Soziale Dienste getragen.
„Dass die Hausärzte der Stadt so souverän mit den Bedingungen der Flüchtlingsversorgung umgegangen sind, liegt auch daran, dass die KV Bremen gute Informationen herausgegeben hat", sagte Koch. „Ich hätte eigentlich erwartet, dass die Hausärzte unsicherer sind mit den rechtlichen Rahmenbedingungen."
Im Jahr 2015 sind rund 10.000 Flüchtlinge vor allem aus Syrien und Afghanistan in Bremen angekommen und 2.700 unbegleitete Jugendliche. In diesem Jahr waren es bisher 550 unbegleitete Minderjährige und Hochrechnungen zufolge werden 2016 rund 4.000 andere Flüchtlinge an die Weser kommen.
Das Bremer Gesundheitsamt schickt sie, wenn sie nach der Erstuntersuchung einen Arzt brauchen, vor allem zum Hausarzt. Das zeigt die Statistik, die die Leiterin des Gesundheitsamtes, Dr. Monika Lelgemann, auf der Tagung vorlegte. In einem Quartal überweisen sie im Schnitt 190 Patienten an einen Hausarzt, 150 an einen Kinderarzt (U-Untersuchungen) und 139 an einen Zahnarzt – insgesamt relativ wenige, meint Lelgemann.
Durch die vielen unbegleiteten Jugendlichen, die in die Stadt kommen, nimmt Bremen eine Sonderstellung ein. „Wie andere Großstädte ist auch Bremen bei den Jugendlichen beliebt", erläuterte Lelgemann. Die überproportional vielen Jugendlichen erhöhen die Tuberkuloserate, da diese bei Minderjährigen häufiger ist. Je 100.000 Einwohner verzeichnete Bremen 2015 eine Tuberkulose-Inzidenz von 11,41 und liegt damit bundesweit an der Spitze, knapp vor Berlin. Nach und nach wird die Zahl der jungen Leute aber kleiner. Seit Ende November 2015 würden sie über den Königsteiner Schlüssel gleichmäßig auf die Bundesländer verteilt, sagte Lelgemann.
Bremen hat die Versorgung der Flüchtlinge also relativ gut organisiert. Das Beispiel von der Weser könnte dazu anregen, die Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge während ihren ersten 15 Monaten im Land auszuweiten, meinte Offe von „Ärzte der Welt“. Aber Deutschland mache dicht, moniert sie. Und das, obwohl das Recht auf Gesundheit ein Menschenrecht sei. „Mit ihren Regeln will die Bundesregierung den Gesundheitstourismus verhindern“, so Offe. „Aber die Gefahr ist gering. Nur wenige Flüchtlinge kommen wegen der Ärzte ins Land. Zugleich hält die eingeschränkte Versorgung niemanden von der Flucht nach Deutschland ab.“
REFERENZEN:
1. Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie: Pressemitteilung, 31. August 2016
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: „Bremer Modell“ – Vorbild für die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen deutschlandweit? - Medscape - 21. Sep 2016.
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