München – Eine gute Blutzuckereinstellung ist ohne Frage wichtig für Patienten mit Typ-2-Diabetes. Jedoch: Im höheren Lebensalter – etwa mit 70 oder 80 Jahren – ist es nicht mehr vorrangig bestimmte HbA1c-Werte zu erreichen, da die langfristigen Auswirkungen der guten oder schlechten Blutzuckerkontrolle weniger ins Gewicht fallen. Vielmehr rücken Therapiesicherheit, Symptomvermeidung und Lebensqualität in den Fokus. Und wichtig dafür sind eher die Blutglukosewerte über den Tagesverlauf. So die Botschaft eines Symposiums auf dem EASD-Kongress in München [1].
Richtwert für betagte Patienten: Tageswerte niemals unter 5 oder über 11 mmol/l
Prof. Dr. Guntram Schernthaner, Wien, verwies auf ein Positionspapier der International Association of Gerontology and Geriatrics (IAGG) und der European Diabetes Working Party for Older People (EDWPOP). Es enthält leicht eingängige Ober- und Untergrenzen, angegeben in SI-Einheiten, betont dabei aber, dass die individuellen Komorbiditäten und der kognitive und funktionelle Status des Patienten zu berücksichtigen sind.
„Im Allgemeinen sollte ein HbA1c-Ziel von 7 bis 7,5 Prozent angestrebt werden“, so Schernthaner. „Um das Hypoglykämierisiko zu reduzieren, sollte kein Patient unter Therapie eine Nüchternglukose unter 6 mmol/l haben, kurz: ‚nicht unter 6‘.“ (Das entspricht 108 mg/dl.)
Die Therapie sollte erst dann begonnen oder intensiviert werden, wenn der Patient konsistent Nüchternblutzuckerwerte über 7 mmol/l zeigt („nicht vor 7“; das sind 126 mg/dl). Und im Tagesverlauf sollte der Blutzuckerspiegel niemals 5 mmol/l (90 mg/dl) unter- und niemals 11 mmol/l (198 mg/dl) überschreiten.
Eine Empfehlung der American Diabetes Association (ADA) nennt zwar für betagte Patienten ebenfalls HbA1c-Zielwerte, diese sind jedoch flexibler als bei jüngeren Patienten mit Typ-2-Diabetes: Nur bei Patienten mit einer weiteren Lebenserwartung von mindestens 10 bis 15 Jahren – ohne ernsthafte mikrovaskuläre Komplikationen – wird hier zu Zielwerten unter 7% geraten.
Bei Typ-2-Diabetikern mit einer längeren Krankheitsdauer (über 10 Jahre), mit relevanten Komorbiditäten und/oder einer Kombinationstherapie, die auch Insulin umfasst, sind laut den US-amerikanischen Empfehlungen bereits Zielwerte zwischen 7% und 8% ausreichend.
Und bei Patienten mit ausgeprägten mikrovaskulären Komplikationen, sonstigen Komorbiditäten und/oder einer Lebenserwartung von nur noch etwa 5 Jahren sei selbst ein Zielwert unter 8% nur noch in Einzelfällen sinnvoll – hier sei eher ein Zielbereich von 8% bis 9% angemessen: „Es ist unwahrscheinlich, dass diese Patienten von einem Krankheitsmanagement mit aggressiver Glukosesenkung noch profitieren“, so Schernthaner.
Oder: Niemals unter 100, allgemein nicht über 200 mg/dl …
„Wichtig ist vor allem die Vermeidung jeglicher Hypoglykämien sowie schwerer Hyperglykämien“, betont Dr. Dr. Andrej Zeyfang, Stuttgart, im Gespräch mit Medscape. Was das für den einzelnen Patienten bedeutet, das ist sehr variabel – es hängt nicht nur vom Lebensalter ab, sondern auch von den Komorbiditäten, der Art der Therapie und dem kognitiven und funktionellen Status des Patienten. Daher ist es schwierig, konkrete Grenzwerte zu definieren.
Einige Zahlen zur Orientierung nennt Zeyfang auf Nachfrage aber doch, und sie weisen auf ähnliche Ziele hin wie das von Schernthaner zitierte Positionspapier: „Der Blutglukosewert sollte möglichst niemals zweistellig werden, also nicht unter 100 mg/dl sinken“, steckt er das untere Limit ab; das würde einer Untergrenze von etwa 5,6 mmol/l entsprechen.
Als Obergrenze könne für viele ältere Patienten ein Wert bis knapp unter 200 mg/dl (11,1 mmol/l) gelten. Ausnahmen könne man in der täglichen Praxis bei den wenigen Patienten mit Typ-2-Diabetes machen, die sehr schlank oder gebrechlich und insulinsensitiv sind, so Zeyfang: „Diese Patienten zeigen größere Schwankungen und können im Tagesverlauf auch einmal kurzzeitig Werte bis maximal 300 mg/dl erreichen.“ Das wären etwa 16,7 mmol/l.
Lebensqualität im Alter groß schreiben
Auch Zeyfang betont den hohen Stellenwert der Lebensqualität und Therapiesicherheit und der Berücksichtigung der verbleibenden Lebenserwartung. „Man wird etwa einem Krebspatienten in der letzten Lebensphase nicht zumuten, drei- oder viermal täglich seinen Blutzucker zu messen und diesen so strikt einzustellen, dass er letztlich wegen einer Hypoglykämie im Krankenhaus landet“, beschrieb er ein Beispiel.
Die evidenzbasierte deutsche Leitlinie zu Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes im Alter, an deren Erstellung Zeyfang beteiligt war, wird nach seinen Worten derzeit überarbeitet: „Wir gehen davon aus, dass die Neuauflage im nächsten Jahr als S2k-Leitlinie erscheinen wird.“
Welche Medikamente sind geeignet?
Schernthaner führte anhand aktueller Studiendaten aus, welche Antidiabetika Vorteile für betagte Menschen mit Typ-2-Diabetes haben könnten. So zitierte er eine aktuelle Studie, die neues Licht auf das Thema „Metformin bei Patienten mit moderater Niereninsuffizienz“ wirft: Insbesondere Frauen im Alter über 60 Jahren mit einer geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) unter 60 ml/min waren hier unter einer Metformintherapie häufiger dialysepflichtig geworden als unter Sulfonylharnstoffen. „Das war für uns eine Überraschung“, so der Experte.
Sulfonylharnstoffe sind aber erst recht nicht ideal für Senioren, wie schon seit langem bekannt ist. So stellte Schernthaner eine von ihm geleitete Studie mit 760 Patienten im Durchschnittsalter von 73 Jahren vor. In deren Glimepirid-Arm kamen bestätigte und schwere Hypoglykämien – unabhängig vom HbA1c-Wert der Patienten – signifikant häufiger vor als im Vergleichsarm mit dem DPP-4-Hemmer Saxagliptin.
Weiter verwies Schernthaner auf die kürzlich publizierten Ergebnisse mehrerer Sicherheitsstudien: Sie hatten für den SGLT-2-Hemmstoff Empagliflozin (EMPA-REG OUTCOME), für Pioglitazon (IRIS) sowie für die GLP-1-Rezeptoragonisten Liraglutid (LEADER) und kürzlich auch Semaglutid (SUSTAIN-6) Vorteile hinsichtlich kardiovaskulärer Endpunkte gezeigt.
„45 Prozent der Patienten in der Studie EMPA-REG OUTCOME waren älter als 65 Jahre und von den Teilnehmern der LEADER-Studie waren drei Viertel älter als 60“, so der Experte. „Die Therapie mit Empagliflozin bzw. mit Liraglutid bewirkte im Gesamtkollektiv dieser Studien jeweils eine signifikante Verringerung des ‚3-Punkt-MACE‘ aus kardiovaskulärem Tod sowie nicht-tödlichem Herzinfarkt und Schlaganfall.“
Empagliflozin sei zudem mit einer Verringerung der Herzinsuffizienz-Ereignisse und mit besonders deutlichen Vorteilen hinsichtlich nierenbezogener Endpunkte assoziiert gewesen. Allerdings riet Schernthaner bei Gabe von SGLT-2-Inhibitoren auf eine mögliche Volumendepletion zu achten: Gerade bei älteren Patienten sei diese eher ein Problem als die vielzitierten Harnwegsinfekte.
Beinahe halbiert war bei Patienten nach Schlaganfall in der ProActive-Studie die Rezidivrate, also die Häufigkeit erneuter Schlaganfälle oder transitorischer ischämischer Attacken (TIA), wenn sie mit Pioglitazon behandelt wurden, erinnerte Schernthaner. Und in der erst kürzlich publizierten IRIS-Studie war in der Gruppe, die eine Zusatzbehandlung mit Pioglitazon erhielt, die Rate an 3-Punkt-MACE-Ereignissen um relative 24% gesenkt. Beide Studien schlossen auch zahlreiche ältere Patienten ein.
„Wir haben durchaus Daten zu Endpunktverbesserungen bei betagten Patienten, auch wenn die Studien nicht speziell dafür geplant worden sind“, so Schernthaners Fazit.
REFERENZEN:
1. European Association for the Study of Diabetes (EASD) Congress, 12. bis 16. September 2016, München
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: „Nicht unter sechs und nicht vor sieben“ – mit zunehmendem Alter ändern sich die Therapieziele beim Typ-2-Diabetes - Medscape - 20. Sep 2016.
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