Eine „Revolution“ neuer Wirkstoffe bei Rheuma – doch für Kinder bleibt oft nur der Off-Label-Einsatz

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

7. September 2016

Prof. Dr. Gerd Horneff

Frankfurt – „Es gibt sehr viele neue vielversprechende Therapieansätze, doch für unsere pädiatrischen Patienten sind sie in dieser Breite nicht verfügbar“, betonte Prof. Dr. Gerd Horneff auf dem diesjährigen Rheumatologenkongress in Frankfurt [1]. „Es kann nicht sein, dass wir Kinder schlechter behandeln als erwachsene Rheumatiker, nur weil es Kinder sind!“, so die Kritik des Direktors der Abteilung für Allgemeine Kinder und Jugendmedizin der Asklepios Kinderklinik in Sankt Augustin.

Zwar habe ein heute an juveniler idiopathischer Arthritis (JIA) erkranktes Kind eine deutlich bessere Prognose als noch in den vergangenen Jahrzehnten. Zu verdanken sei das der verbesserten Versorgungsstruktur in Deutschland, der Erarbeitung und Anwendung von Leitlinien und Empfehlungen und der Existenz einer pathogenetisch orientierten, in klinischen Studien mit standardisierten Prüfkriterien als wirksam erwiesenen Pharmakotherapie.

Insgesamt, so Horneff, lassen sich heute Therapieziele formulieren, die weit über eine Symptomkontrolle hinausgehen und mit Remission oder Erreichen eines inaktiven Erkrankungsstadiums, normalem Wachstum und normaler Entwicklung und guter bis sehr guter Lebensqualität bei einer Verringerung von Nebenwirkungen einhergehen. Doch das gilt nur für einen Teil der Patienten und einen Teil der Erkrankungen, insbesondere durch die seit 15 Jahren verfügbaren Biologika.

In-label: Was ist denn überhaupt erlaubt?

 
Es gibt sehr viele neue vielversprechende Therapieansätze, doch für unsere pädiatrischen Patienten sind sie in dieser Breite nicht verfügbar. Prof. Dr. Gerd Horneff
 

„Die Wirklichkeit in der Therapie für den internistischen Rheumatologen sieht so aus: Wir haben eine Explosion von neuen Substanzen, die jetzt oder bald zur Verfügung stehen, doch nur ein kleiner Teil davon wurde im Kindesalter überhaupt untersucht. Und wiederum nur ein kleiner Teil davon ist für die Behandlung von Kindern zugelassen“, erklärte Horneff.

Für die JIA etwa, in der in Deutschland 14.000 Kinder und Jugendliche erkrankt sind, sind die DMARDs MTX (ab 2 Jahren) und Sulfasalazin (ab 6 Jahren) zugelassen, Leflunomid und Ciclosporin hingegen nicht. Abatacept ist ab 6 Jahren für die Therapie der Polyarthritis zugelassen, allerdings ausschließlich in Kombination mit MTX und ausschließlich nach TNF-Hemmern. „Damit bleibt Abatacept, obwohl es als Firstline-Therapeutikum effektiver ist als in der Secondline, weiterhin Off-Label für die Firstline-Behandlung“, verdeutlichte Horneff.

Adalimumab – sowohl in Monotherapie als auch in Kombination – ist zugelassen zur Therapie der Polyarthritis ab einem Alter von 2 Jahren. Anakinra ist ab einem Alter von 8 Monaten zwar für die Therapie der CAPS (Cryopyrin-assoziiertes periodisches Syndrom) zugelassen, nicht hingegen für die Behandlung der JIA. Basierend auf den Studienergebnissen einer Arbeit aus 2012 ist Canakinumab zur Behandlung der systemischen JIA (Still-Syndrom, sJIA) ab einem Alter von 2 Jahren zugelassen – sowohl als Monotherapie als auch in Kombination mit MTX.

 
Wir haben eine Explosion von neuen Substanzen, die jetzt oder bald zur Verfügung stehen, doch nur ein kleiner Teil davon wurde im Kindesalter überhaupt untersucht. Prof. Dr. Gerd Horneff
 

Etanercept ist ab 2 Jahren für die Polyarthritis-Therapie zugelassen, für die Behandlung der Enthesitis-assoziierten Arthritis und der Psoriasisarthritis ist es ab einem Alter von 12 Jahren verordenbar. „Für mich ist völlig unverständlich, weshalb Etanercept in beiden Fällen erst ab zwölf und nicht bereits ab sechs Jahren gegeben werden kann“, sagte Horneff.

Golimumab ist ebenfalls zur JIA-Therapie zugelassen, allerdings erst für Kinder ab 40 kg und in Erwachsenendosis. Tocilizumab ist für Kinder mit Polyarthritis und sJIA ab 2 Jahren zugelassen. Für die sJIA weist eine Studie aus 2012 ein gutes Ansprechen auf Tocilizumab nach. „Bereits nach zwölf Wochen sieht man einen hochsignifikanten Unterschied zu Placebo“, so Horneff. Das hat zu einer Zulassung des Wirkstoffs für Kinder ab 2 Jahren geführt. Anakinra zeigte zur Therapie der sJIA gegenüber Placebo in einer sehr kleinen Gruppe zwar ebenfalls Wirksamkeit, doch das hat nicht zur Zulassung geführt.

Da es keine Studien zu weiteren Biologika gibt oder aber diese noch nicht abgeschlossen sind, sind Certolizumab, Infliximab, Rituximab oder Ustekinumab nicht für Kinder unter 18 Jahren mit rheumatischen Erkrankungen zugelassen, obwohl ein ähnlicher therapeutischer Nutzen wie bei Erwachsenen anzunehmen ist.

Off-label ist gelebte täglich Praxis – besonders bei schwer erkrankten Kindern

 
So dauert es oft zehn bis 15 Jahre bis ein Medikament, das Erwachsenen hilft, auch einem Kind oder Jugendlichen gegeben werden kann. Prof. Dr. Gerd Horneff
 

Off-label ist bei Kindern Standard: Wie eine Untersuchung an einer deutschen Universitätsklinik zeigt, wurden 41% der im ersten Lebensjahr stationär therapierten Kinder mit nicht zugelassenen Substanzen behandelt. In der ambulanten Versorgung erhielten 61% der Patienten (253 von 417) mindestens eine Off-Label-Verschreibung und der Anteil der Off-Label-Verschreibungen an allen Verschreibungen lag bei 31% (553 von 1812).

Auch die Analyse von Krankenkassendaten bestätigt das: Off-Label-Verordnungen bei Kindern erfolgen ambulant in 10 bis 20% und stationär zwischen 30 und 70% der Fälle. Damit ist die Off-Label-Therapie tägliche Praxis in der Versorgung von Kindern und insbesondere von schwer erkrankten, stationär behandelten Kindern. Horneff: „Die medikamentöse Therapie von Kindern mit seltenen Erkrankungen ist praktisch immer off-label.“

Mitunter verhindert die fehlende Zulassung selbst eine leitliniengerechte Therapie. Beispiel JIA-assoziierte Uveitis: Entsprechend der Leitlinie sind MTX und anti-TNF-Antikörper zwar notwendig, aber nicht zugelassen. Das gilt auch für den systemischen Lupus erythematodes, die Lupusnephritis und eine Vielzahl von genetischen autoinflammatorischen Erkrankungen und Vaskulitiden im Kindesalter. Nur für CAPS ist ein Medikament zugelassen.

Fehlende Zulassungen – zu späte, unzureichende und riskante Therapien

Die Folge davon ist, dass Kinder und Jugendliche zu spät oder unzureichend oder nicht den aktuellen Therapiemöglichkeiten entsprechend behandelt werden. „So dauert es oft zehn bis 15 Jahre bis ein Medikament, das Erwachsenen hilft, auch einem Kind oder Jugendlichen gegeben werden kann“, betonte Horneff.

Neben der Problematik der späten Behandlung und der Unsicherheit der Kostenübernahme bedeutet die Off-Label-Therapie auch ein Sicherheitsrisiko für den Patienten. Wie eine Analyse mit stationären Patienten zeigt, traten unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter Off-Label-Therapie häufiger auf als innerhalb der Zulassung: 6 versus 3,9%. Eine weitere Arbeit zeigt das auch für den ambulanten Bereich: 34 versus 1,4%.

 
Wir Rheumatologen sollten entscheiden, welche Medikamente unsere pädiatrischen Patienten bekommen. Prof. Dr. Gerd Horneff
 

Schon bei Erwachsenen treten zahlreiche rheumatische Erkrankungen selten auf, für Kinder trifft das in noch viel höherem Maße zu. Diese sehr seltenen Erkrankungen sind oft besonders schwerwiegend. Damit entsteht ein Dilemma: Denn bei seltenen Erkrankungen sind die Entwicklung und Überprüfung von Therapiestrategien für die Arzneimittelindustrie unwirtschaftlich. Der „paediatric investigation plan“ der European Medicines Agency (EMEA) kann das Problem nicht lösen, denn er orientiert sich an Erkrankungen von Erwachsenen und ihren Parallelen im Kindesalter und keineswegs primär an den speziellen Erfordernissen erkrankter Kinder.

Zwischen Theorie und Praxis

Die vom Gesetzgeber getroffenen Regelungen zur ambulanten Off-Label-Therapie erfordern:

  • eine schwere gesundheitliche Beeinträchtigung (lebensbedrohlich bzw. auf Dauer beeinträchtigend),

  • die mangels therapeutischer Alternativen nicht wirksam behandelt werden könnten und

  • dass Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden könnte bzw. ein Behandlungserfolg zu erwarten ist.

Während die ersten Bedingungen in der Regel erfüllt sind, ist die dritte oftmals problematisch, weil hier kontrollierte Doppelblindstudien vorausgesetzt werden. In der Realität ist das eher Wunschdenken, denn doppelblind-randomisierte Studien stehen allenfalls für sehr wenige, häufigere Erkrankungen zur Verfügung. Gleichwohl ist es keine Seltenheit, dass ein Off-Label-Therapieantrag vom Kostenträger mit der Begründung „fehlende Studienergebnisse aus Doppelblindstudien“ abgelehnt wird.

Die Ausweitung der restriktiven Regeln auf den Gebrauch von Arzneimitteln bei einer stationären Behandlung von besonders schwer erkrankten Kindern könne sogar eine Gefährdung des Kindeswohls nach sich ziehen, stelle aber in jedem Fall einen Eingriff in die Freiheit der Therapieentscheidung des Arztes dar, betonte Horneff und fügte hinzu: „Wir Rheumatologen sollten entscheiden, welche Medikamente unsere pädiatrischen Patienten bekommen.“

 

REFERENZEN:

1. 44. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie (DGRh), 31. August bis 3. September 2016,  Frankfurt am Main

 

Kommentar

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