Erstmals hat die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG) eine Leitlinie zur Verwendung von nichtmedikamentösen Therapien veröffentlicht. Sie basiert auf einer aktuellen Übersicht von 118 Studien mit insgesamt über 8.300 Patienten mit Migräne, die von einer Gruppe um den Erstautor Prof. Dr. Peter Kropp, Institut für Medizinische Psychologie und medizinische Soziologie der Universität Rostock, in der aktuellen Ausgabe der Nervenheilkunde publiziert wurde [1].

Dr. Thomas Dresler
„Durch die Leitlinie sollen die Möglichkeiten verschiedener Ansätze aufgezeigt werden, da eine medikamentöse Behandlung nicht immer erwünscht oder aufgrund von Nebenwirkungen nicht möglich ist“, erklärt Dr. Thomas Dresler, Psychologe an der Universität Tübingen und Koautor der Leitlinie.
Dabei zeigen sich bereits durch eine ausführliche Beratung von Patienten positive Effekte auf die Häufigkeit von Migräneattacken. Entspannungsverfahren, insbesondere die Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson, und die kognitive Verhaltenstherapie (KVT), die den Umgang mit der Beeinträchtigung durch Migräne positiv beeinflusst, aber auch Biofeedback zeigen signifikante Wirksamkeit. Einen positiven Trend erkennen die Autoren auch für Ausdauersport, allerdings ist die Studienlage hier weniger aussagekräftig. „Mit vielen Verfahren ist eine Reduktion der Migräne um 40% erreichbar“, so Dresler, „in Kombination mit einer medikamentösen Prophylaxe sogar um 65%.“
Dresler verweist dabei auf den potentiellen Vorteil aller nichtmedikamentösen Ansätze: „Deren Einsatz geht oft mit geringeren Schmerzmitteleinahmen einher. Dadurch reduziert sich das Risiko eines zusätzlichen Kopfschmerzes durch Medikamentenübergebrauch.“
Insgesamt empfehlen die Autoren einen multimodalen Ansatz in Kombination mit einer geeigneten medikamentösen Therapie. Auch internetbasierte Beratung steigere messbar den Erfolg der Behandlung in den Punkten Häufigkeit der Attacken und Reduzierung der Menge der benötigten Medikamente. Wichtig für jeden positiven Effekt sei, dass sich die Patienten mit der jeweiligen Methode aktiv auseinandersetzen, diese regelmäßig trainieren und routiniert einsetzen, betonen die Leitlinien-Autoren.
Die erste Empfehlung: Eingehende Information und Beratung
In die Bewertung der aktuellen Studienlage haben die Autoren alle Studien bis Juni 2015 einbezogen, die sich in PubMed zu den Themen nichtmedikamentöse Behandlung aller Migräne-Arten recherchieren ließen. Ausgeschlossen wurden Kasuistiken, Kurzfassungen, Kongresspublikationen und solche ohne Kontrollgruppe. Aufgrund der Verschiedenartigkeit der Studien teilte das Gremium deren Ergebnisse in Evidenzstärken von A bis C ein. So wurden in manchen Settings z.B. verschiedene Typen von Kopfschmerzen gemeinsam berücksichtigt oder auch unterschiedlich hohe Ansprüche an die Dokumentation oder die Einteilung der Ergebnisse gestellt.
Zum Thema Beratung der Patienten fanden die Autoren 11 Studien mit über 2.500 Patienten, deren positive Ergebnisse sie alle mit der Evidenzklasse A bewerteten. Sie empfehlen aufgrund dieser, möglichst jedem Patienten ein Verständnis der Krankheit mit der Unterscheidung zwischen Disposition und Auslöser der Migräne zu vermitteln sowie über die verschiedenen Möglichkeiten der Prophylaxe- und Akutbehandlung zu informieren. Auch auf seriöse Informationsmöglichkeiten, die das Internet bietet, sollte gerade auch bei Jüngeren hingewiesen werden, obschon hier (noch) weitaus weniger Studiendaten vorliegen.
Entspannungsverfahren wirken umso besser, je zuverlässiger sie beherrscht werden
Die 11 in die Übersicht einbezogenen Studien mit über 700 Patienten zu diesen Methoden untersuchten hauptsächlich die Wirkung von Progressiver Muskelrelaxation (PMR) nach Jacobson oder Autogenem Training (AT). Die Ergebnisse für PMR bewerteten die Autoren besser (Evidenz A) als diejenigen, die durch AT erreicht wurden (Evidenz B). Die Leitlinie favorisiert demzufolge die PMR nach Jacobson bzw. deren aktuelle Weiterentwicklungen, da diese nach Auffassung der Autoren von den meisten Patienten zudem einfacher gelernt werden können und damit zuverlässiger einsetzbar sind.
„Für die Praxis ist die Erkenntnis wichtig, dass schon Beratung effektiv ist und die Anfallshäufigkeit reduzieren kann“, unterstreicht Dresler. „Im nächsten Schritt bietet sich die Progressive Muskelrelaxation als leicht zu erlernendes Entspannungsverfahren an.“
Kognitive Verhaltenstherapie ist gesichert wirksam
Die KVT bietet den Patienten Techniken zur Analyse und Verbesserung des eigenen Umgangs mit Stresssituationen und Veränderung von Erwartungshaltungen. Zur KVT bei Patienten mit Migräne empfiehlt die Leitlinie mit gleicher Evidenz standardisierte Programme für Einzel- oder Gruppentherapie. Die KVT bietet einen direkten und symptombezogenen Zugang zu den einzelnen Patienten und hilft ihnen, flexibel mit den Schmerzen und negativen Affekten umzugehen.
„Bei Patienten mit starker Leistungsorientierung ist insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie indiziert“, präzisiert Dresler. „Bei Patienten mit erhöhtem alltäglichem Stresserleben ist der Einsatz von Entspannungsverfahren zunächst zielführender. Ein Austausch mit psychologischen Psychotherapeuten ist zu empfehlen.“
Biofeedback ist prophylaktisch wirksam, Neurofeedback noch nicht bewertbar
Biofeedback wird genutzt, um normalerweise unbewusst ablaufende autonome und zentralnervöse Funktionen willkürlich steuern zu können. In der Migränetherapie lassen sich Rückmeldungen der Gefäßdurchblutung zur Schmerzreduktion nutzen, aber auch Feedback der Spannung verschiedener Gesichtsmuskeln sowie der Temperatur und Hautleitfähigkeit zur Anfallsprophylaxe. Hierfür konnte eine hohe Effektivität ausgewiesen werden. Neuere Ansätze wie das EEG-gestützte Neurofeedback ließen sich aufgrund der Datenlage noch nicht hinreichend bewerten.
Aus 13 Studien mit über 180 Patienten zu Sport gegen Migräne konnten die Autoren insgesamt keine signifikanten Verbesserungen der typischen Symptomatik ableiten. Im Rahmen eines multimodalen Therapiekonzeptes empfehlen sie trotzdem auch ein Ausdauertraining, da dieses in einzelnen Studien durchaus eine Verbesserung der Migränesymptome erzielte. Aber konsistente positive Effekte wie bei Beratung oder PMR ließen sich nicht ableiten.
Das größte Potential liegt in der Prophylaxe
Zur Wirksamkeit nichtmedikamentösen Verfahren im akuten Anfall liegen nur sehr wenige Studien vor. Deshalb beziehen sich die Empfehlungen der Leitlinie überwiegend auf die Prophylaxe der Migräne. Allerdings wird beim Auftreten starker Attacken ohnehin überwiegend auch medikamentös therapiert. Hier favorisiert die Leitlinie ganz klar die Kombination aus beiden Verfahren, da sich dadurch in zahlreichen Studien positive Evidenzen zur Wirkung ergeben haben.
„Wenn die Migräneattacken häufig und stark sind, sollten nicht Medikamente oder nichtmedikamentöse Verfahren eingesetzt werden, sondern am besten beides“, resümiert Dresler. „Jeder Migränepatient kann profitieren, wenn die Möglichkeiten der Behandlung individuell optimiert eingesetzt werden.“
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Migräne: Erste Leitlinie zu nichtmedikamentösen Verfahren – prophylaktisch, begleitend und ergänzend zur Medikation - Medscape - 1. Sep 2016.
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