MEINUNG

Überflutet mit Konsultationen: „Wer Hilfe ruft, kann von ihr überwältigt werden“

Julian L. Seifter, MD

Interessenkonflikte

1. September 2016

Julian L. Seifter, MD

Ich sitze am Krankenhaus-Computer, und browse durch die elektronische Patientenakte (electronic medical record, EMR) meines nächsten Patienten, um eine Notiz von vor 3 Monaten zu finden. Als ich zunächst eine Seite zurück scrolle – dann eine weitere, und noch eine –sehe ich, dass dieser Patient bereits bei dutzenden Krankenhaus-Ärzten unterschiedlichster Disziplinen, Subdisziplinen und Sub-Subdisziplinen vorstellig geworden ist.

Bei all diesen Namen, Notizen und Tests wird mir schwindelig. Hypnotisiert bei den seitenlangen Konsultationen, falle ich zurück in einen Tagtraum über den Zauberlehrling, einem Segment in Walt Disney’s Fantasia, das auf einer Geschichte des deutschen Schriftstellers Goethe basiert.

In dieser Geschichte verlässt ein Zauberer seine Werkstatt, und lässt seinen jungen Lehrling allein zurück, um Wasser zu schöpfen. Der Lehrling wird des Tragens der schweren Kübel müde, und setzt sich deshalb den Hut des Zauberers auf, und weist den Besen an, Wasser für ihn zu tragen.

Der Besen (zumindest in der Mickey-Mouse-Version) lässt sich gefällig Arme wachsen und nimmt den Auftrag mit Gefallen an. Mickey schläft ein. Währenddessen löst der Besen eine steigende Flut in der Werkstatt aus. Als Mickey aufwacht, gerät er in Panik, und zersägt den Besen in Einzelteile, die wiederum zu neuen Besen wachsen, die noch mehr Kübel Wasser tragen. Am Ende erzeugt eine Armee von Besen eine Flut, in der arme Mickey fast ertrinkt, bevor sein Meister zurückkehrt und ihn rettet.

Die Moral von der Geschichte: Wer Hilfe ruft, kann von ihr überwältigt werden.

Die Spezialisten-Truppen rufen

Mickey’s Besen-Brigade ist nicht weit von den Armeen von Spezialisten und Subspezialisten entfernt, die zur Behandlung des Patienten gerufen werden, wenn dieser unschuldig seinen Hausarzt aufsucht. Die zusätzlichen Truppen werden aus einem guten Grund gerufen: Komorbiditäten und eine Akkumulation von Diagnosen.

Die Sub-Subspezialisten sind Teil der Armee: Man geht nicht einfach zu einem Neurologen; man geht zu einem Spezialisten für Bewegungsstörungen, zu einem Spezialisten für periphere Nerven, und zu einem Elektrophysiologen für die Nervenleitungsgeschwindigkeit. Man geht nicht einfach zu einem Orthopäden; man geht zu einem Wirbelsäulen-Spezialisten, einem Hand-Spezialisten, und (warum nicht?) einem Podiater.

Der Vorteil von all dem ist, dass man einen Experten bekommt, der sein Gebiet im Detail kennt. Aber der Zauberlehrling legt auch ein paar ernste Nachteile nahe: einen Patienten, der in Arztbesuchen ertrinkt, dessen Leben von den sich anhäufenden Krankheiten geschluckt wird, und dem allgemeinen Bewusstsein (das oft von Ärzten geteilt wird), dass Dinge aus der Kontrolle geraten.

Von dem Standpunkt des Arztes aus ist es nahezu unmöglich, alle Aufwände zu überblicken und die Gefahr der Fehlkommunikation (oder gar keiner Kommunikation) zwischen den verschiedenen Experten wächst mit jeder zusätzlichen Konsultation. Polypharmakotherapie stellt ein anderes großes Problem dar, wenn sich niemand um alles kümmert.

Vor einem halben Jahrhundert musste der Internist vor allem darüber entscheiden, ob ein Patient zu einem Chirurgen überwiesen werden sollte, oder ob alles in seinem Bereich bleibt. Jetzt haben wir Überweisungen, die sich vermehren wie Besen mit Kübeln. Wir alle haben das Gefühl, dass wir von einer Zeit umfassender Kontrolle über die verschiedenen Erkrankungen eines Patienten zu einem Verlust an Kontrolle und zu einer Zersplitterung von Verantwortung und Authorität vorangeschritten sind.

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....