Rom – Harte Kritik an der Hypertonie-Studie SPRINT übte Prof. Dr. Sverre Erik Kjeldsen, Universität Oslo, Norwegen, beim europäischen Kardiologiekongress [1]: Nicht nur, dass die Ergebnisse aufgrund einer unüblichen Blutdruck-Messmethode falsch interpretiert worden seien – die Art und Weise, wie sie an die Öffentlichkeit gelangt sind, sei unethisch und gefährde vielleicht sogar Menschenleben. Ihretwegen die Leitlinien auf niedrigere Zielwerte zu ändern, wäre geradezu fahrlässig.
Zur Erinnerung: Die Ergebnisse von SPRINT (Systolic Pressure Intervention Trial) sind beim letztjährigen Kongress der American Heart Association unter beträchtlicher öffentlicher Aufmerksamkeit erstmals präsentiert worden. Verglichen wurde eine intensive Blutdrucksenkung mit einem systolischen Zielwert unter 120 mmHg (tatsächlich erreicht wurden im Schnitt 121,5 mmHg) mit einem konservativeren Zielwert von unter 140 mmHg, wie ihn die meisten Leitlinien vorsehen (erreicht: 134,6 mmHg).
Der primäre Endpunkt, die Kombination der 5 schwerwiegenden kardiovaskulären Komplikationen (5-Point-MACE) akutes Koronarsyndrom, Myokardinfarkt, Schlaganfall, akut dekompensierte Herzinsuffizienz sowie kardiovaskulärer Tod, trat unter intensiver Blutdrucksenkung um 25% seltener auf. Daraus errechnet sich eine Number Needed to Treat (NNT) von 61, was bei kardiologischen Indikationen als guter Wert gilt. Die Sterblichkeit sank um 27% (NNT 90).
Besonders starke Risikosenkung bei Älteren
„Alle wichtigen Subgruppen haben von der intensiven antihypertensiven Therapie profitiert“, betonte Prof. Dr. William C. Cushman, Präventionsmediziner an der University of Tennessee, Memphis. Cushman war Hauptautor von SPRINT und Kjeldsens Gegenspieler in der aktuellen Diskussion beim Kongress. Er wies außerdem auf den herausragenden Nutzen hin, der über 75-jährige Patienten aus der intensiven Therapie gezogen haben. Ihre NNT für kardiovaskuläre Komplikationen lag bei 28, für das Sterberisiko bei 41.
„Alles gut und schön, aber es gibt gute Gründe, die Validität der Ergebnisse in Zweifel zu ziehen“, meinte Kjeldsen. Woran der Chefarzt der Kardiologie sich ganz besonders stört, ist, dass der Blutdruck grundsätzlich am unbeobachteten, allein in einem abgeschlossenen Raum sitzenden Patienten mithilfe automatisierter Messgeräte bestimmt wurde.
Unbeobachtete Blutdruckmessung liefert niedrigere Werte
Das ist ein Novum und führt laut Kjeldsen zu deutlich niedrigeren Messwerten als bei der Selbstmessung und noch mehr, als wenn Arzt oder Schwester sich im Raum befinden. Nach seiner Einschätzung, die er mit den Daten aus mehreren Studien untermauerte, dürfte der Unterschied zur beobachteten Messung beim systolischen Blutdruck mindestens 10 bis 20% betragen, möglicherweise aber auch deutlich mehr. In einer aktuell publizierten Studie lag der systolische Praxisblutdruck 16 mmHg und der zuhause gemessene Blutdruck 7 mmHg über dem bei unbeobachteter Messung.
Falls Kjeldsens Einschätzung zutrifft, wurden in SPRINT nicht die Blutdruckziele unter 120 mmHg und unter 140 mmHg verglichen, sondern unter 130 bis 140 mmHg und unter 150 bis 160 mmHg. Dass eine Senkung unter 140 mmHg besser vor Komplikationen schützt als eine Senkung auf Werte zwischen 140 und 160 mmHg, wusste man aber schon vorher.
Für geradezu unethisch hält der norwegische Kardiologe die Pressemitteilung, die der Studiensponsor, die amerikanischen National Health Institutes, schon 2 Monate vor Veröffentlichung der Studienergebnisse an Fach- und Laienmedien herausgegeben hat. „Sie haben einfach verkündet, die Senkung des Blutdrucks unter 120 mmHg rettet Leben, bevor die wissenschaftliche Community die Chance hatte, die Studienergebnisse zu prüfen und zu kommentieren. Jetzt glauben die Leute, das gelte für die normale Blutdruckmessung – damit kann man Menschen umbringen.“
Cushman verteidigte die Strategie der Studiengruppe. Die unbeobachtete Blutdruckmessung mit automatisiertem Messgerät liefert in seinen Augen die „wahren“ Druckwerte des Patienten. Außerdem schätzt er die Abweichung zum Praxisblutdruck eher auf 5, höchstens 10 mmHg.
Die unübliche Messmethode ist jedoch nicht das einzige, was Kjeldsen an SPRINT kritisiert. Seiner Ansicht nach sind die Ergebnisse in erster Linie durch den weichen Endpunkt Herzinsuffizienz getrieben und dessen Inzidenz wiederum durch die Auf- und Abtitrierung von Diuretika, um die Blutdruckziele zu erreichen. Tatsächlich gab es nur bei 2 der einzelnen Unterpunkte einen signifikanten Unterschied.
Das eine war die Inzidenz von Herzinsuffizienz-Dekompensationen, die allein die Hälfte des Unterschieds zwischen den Therapiegruppen ausmachte (38 von 76 Fällen des primären Endpunkts). Das andere waren kardiovaskuläre Todesfälle, unter denen Kjeldsen angesichts des Risikoprofils der Teilnehmer ebenfalls viele Herzinsuffizienz-Fälle vermutet. „Das Hauptergebnis der Studie ist wahrscheinlich ein Artefakt, das vor allem auf einen geringeren Diuretika-Einsatz in der mit geringerer Intensität behandelten Gruppe zurückzuführen ist“, resümierte Kjeldsen.
Dass die Leitlinien aufgrund der Ergebnisse von SPRINT neue, niedrigere Zielwerte etablieren sollten, hielt das zur Abstimmung gebetene Auditorium ebenso wenig für angemessen wie Kjeldsen. Selbst Cushman hatte diese Forderung übrigens weder in seinem Vortrag noch in der anschließenden Diskussion erhoben.
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: SPRINT-Studie im Kreuzfeuer: Experte zweifelt Methodik an – und erteilt Senkung der Blutdruckziele eine klare Absage - Medscape - 30. Aug 2016.
Kommentar