Bei der Entscheidung Pro oder Contra Statine sollte das Vorhandensein arterieller Verkalkungen berücksichtigt werden. Zu diesem Schluss kommen Forscher um Dr. Martin Bødtker Mortensen, Aarhus University Hospital, Aarhus, Dänemark. Die Ergebnisse ihrer BioImage-Studie haben sie im Journal of the American College of Cardiology veröffentlicht [1].
Der Studie zufolge müssen offenbar deutlich weniger Patienten mit Statinen behandelt werden, als die Kriterien der US-amerikanischen AHA- und ACC-Leitlinie zur Risikoreduktion von Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Cholesterinsenkung vorgeben. So sollten laut US-Empfehlungen u.a. Personen mit einem 10-Jahres-Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse über 7,5% Statine erhalten. Letztlich, so beschreiben es die Studienautoren, qualifizierten sich auf diese Weise aber „alle gesunden Menschen zwischen dem 63. und 71. Lebensjahr automatisch für die Statin-Therapie“. Denn der altersbedingte Risikofaktor (beeinflusst auch durch Geschlecht und Ethnie) genüge dann bereits, um die Therapieschwelle zu überschreiten. „Dieses universelle Auswahlkriterium für eine Statin-Therapie führt unweigerlich zu einer Überbehandlung älterer Menschen“, meinen Mortensen und Kollegen.
Keine Unterversorgung trotz signifikant weniger Statin-Gaben

Dr. Uwe Popert
„Die kardiovaskuläre Risikokalkulation mit dem Nachweis von subklinischen Arterienverkalkungen zu kombinieren, ist ein neuer Ansatz“, sagt Dr. Uwe Popert, Sprecher der Sektion Versorgungsaufgaben der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM). Die Auswirkung: „Ein knappes Drittel der Patienten in der Studie erhielt trotz einer Therapieempfehlung gemäß US-Guidelines keine Statine“, so Popert.
Die Befürchtung, es könnte dadurch zu einer Unterversorgung mit Lipidsenkern kommen, bewahrheitete sich dabei nicht. So änderte sich die Sensitivität der Patientenklassifizierung – als Maß einer möglichen Unterversorgung – nur marginal, während die Spezifität deutlich gesteigert werden konnte (= weniger Überversorgung).
Für Deutschland habe die Studie nur einen geringen Aussagewert, sagt Popert gegenüber Medscape. So werde eine Statin-Gabe hierzulande erst ab einem individuellen kardiovaskulären 10-Jahres-Risiko von 20% empfohlen. Das Risiko einer Überversorgung sei daher von vornherein geringer. Ob Patienten mit einem solchen Risikoscore trotzdem (und wenn ja, in welchem Ausmaß) von dem neuen Ansatz profitieren könnten, ließe sich aus der Studie leider nicht ablesen, bedauert der Allgemeinmediziner mit eigener Praxis in Kassel. Denn eine Patientengruppe mit einem 10-Jahres-Risiko von mehr als 20% sei nicht separat untersucht worden.
Therapieentscheidung beruhte auf dem Vorhandensein von arteriellen Kalkablagerungen
Grundsätzlich werden Statine in den ACC/AHA-Leitlinien bei 4 Patientengruppen empfohlen:
Patienten mit klinisch manifester kardiovaskulärer Erkrankung;
Patienten mit LDL-Cholesterinwerten ≥ 190 mg/dl;
Diabetiker ohne kardiovaskuläre Erkrankungen zwischen 40 und 75 Jahren, deren LDL-Cholesterinwerte bei 70 bis 189 mg/dl liegen;
Patienten ohne Diabetes und ohne kardiovaskuläre Erkrankungen, die aber LDL-Cholesterinwerte von 70 bis 189 mg/dl sowie ein 10-Jahres-Risiko für eine kardiovaskuläre Erkrankung > 7,5% haben.
Mortensen und seine Kollegen konzentrierten sich für ihre Studie auf die Patientengruppe, die sich allein aufgrund des errechneten 10-Jahres-Risikos für eine kardiovaskuläre Erkrankung von über 7,5% für die Statin-Therapie qualifizierten. Die Lipidsenker erhielten diese Patienten jedoch nur, wenn sie zusätzlich Kalkablagerungen in den Koronararterien (nachgewiesen per CT) und/oder Plaque in der Arteria carotis (nachgewiesen per Ultraschall) aufwiesen.
Keine Statine erhielten dagegen Patienten mit einem koronaren Kalk-Score von 0 und einer Plaquefläche in der Carotis von 0 mm2.
U.a. anhand der Zahl der auftretenden koronaren Herzkrankheiten (Herzinfarkt, instabile Angina pectoris und koronare Revaskularisation) und der kardiovaskulären Ereignisse (Schlaganfall und kardiovaskulärer Tod) im Beobachtungszeitraum wurde dann der klinische Nutzen des zusätzlichen Risikomarkers „arterielle Kalkablagerung“ bzw. die Sensitivität und Spezifität der neuen Patientenklassifizierung berechnet.
Patienten ohne Verkalkungen hatten ein geringes kardiovaskuläres Risiko
Zwischen Januar 2008 und Juni 2009 wurden insgesamt 5.805 Patienten mit einem Durchschnittsalter von 69 Jahren ohne atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankungen in die Studie aufgenommen. 86% dieser Studienteilnehmer hätten sich aufgrund eines kalkulierten 10-Jahres-Risiko über 7,5% für eine Statin-Therapie qualifiziert.
Die Untersuchungen von Mortensen und Mitarbeitern zeigten dann jedoch nicht nur, dass ein bedeutender Anteil der Studienteilnehmer in dieser Gruppe weder koronare Kalkablagerungen (32%) noch Plaque in der Carotis (20%) aufwiesen. Sie dokumentierten überdies, dass die Gruppe innerhalb der 2,7-jährigen Beobachtungszeit nur ein sehr geringes kardiovaskuläres Risiko aufwies: Beispielsweise entwickelten nur 4 Personen ohne koronare Ablagerungen in diesem Zeitraum eine Herz- oder kardiovaskuläre Erkrankung. Zum Vergleich: Bei Patienten mit einem koronaren Kalk-Score ab 100 traten in den knapp 3 Jahren 69 kardiovaskuläre Ereignisse auf.
Die koronaren Verkalkungen erwiesen sich dabei rechnerisch als präziserer Marker als die Carotis-Plaques: Würde man die Therapieentscheidung allein auf das Vorhandensein von Koronarverkalkungen stützen, würde sich die Spezifität der Risikovorhersage um 22% (weniger Überversorgung) verbessern, während die Sensitivität unverändert bliebe. Wenn nur die im Ultraschall sichtbaren Plaques als Entscheidungsgrundlage dienen würden, könnte man die Spezifität um 16% verbessern, die Sensitivität würde sich geringfügig um 7% verringern (mehr Unterversorgung).
Neue Patientenklassifizierung: „Theoretisch denkbar, in der Praxis wird sie scheitern“
„Schlussendlich hätte einem Drittel der Studienteilnehmer die Statin-Therapie erspart bleiben können“, schreiben Dr. Tasneem Z. Naqvi, Mayo Clinic, Arizona, und Dr. Vijay Nambi, Baylor College of Medicine, Texas, in ihrem Editorial [2]. Denn den Studienteilnehmern ohne koronare Ablagerungen (32%) hätten kaum kardiovaskuläre Ereignisse gedroht.
Als Schwäche der Studie benennen Naqvi und Nambi jedoch die kurze mittlere Beobachtungszeit der Teilnehmer von unter 3 Jahren. Zudem fordern sie randomisiert-kontrollierte Studien, um die nun vorliegenden Ergebnisse zu untermauern. Bis dahin sollten Mediziner diese Strategie aber durchaus mit ihren Patienten diskutieren.
„Theoretisch ist diese Vorgehensweise denkbar, in der Praxis wird sie scheitern“, meint dagegen Popert. Eine Computertomografie, mit denen die subklinischen koronaren Verkalkungen sichtbar gemacht würden, koste beispielsweise rund 750 Euro, die jährliche Statin-Behandlung nur 70 bis 75 Euro. Bei rund 7 CTs, die laut Studie notwendig seien, um eine unnötige Therapie mit den Lipidsenkern zu vermeiden (Number needed to screen), ein nicht unerheblicher finanzieller Faktor.
Auch die zusätzliche Strahlenbelastung der Patienten sollte in die Überlegungen eingeschlossen werden, meint er. Um den Einsatz von Statinen zu verringern ständen ohnehin andere Methoden im Vordergrund, so Popert. Dazu zählten mehr Bewegung, weniger Tabakkonsum und eine ausgewogene Ernährung.
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Statintherapie: Individuelle kardiovaskuläre Risikokalkulation anstatt "Gießkannenprinzip" kann Verschreibungen senken - Medscape - 29. Aug 2016.
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