ESC-Kongress: Bewegung statt „Ruhe“stand – körperlich aktive Senioren haben halbiertes kardiovaskuläres Sterberisiko

Sonja Böhm

Interessenkonflikte

29. August 2016

Rom – Kardiovaskuläre Prävention war – wie im vergangenen Jahr – Thema der diesjährigen ESC-Auftakt-Pressekonferenz. Die Erkenntnisse aus den aktuell präsentierten Studien: Wer etwas für seine kardiovaskuläre Gesundheit tun möchte, sollte den Begriff „Ruhe“stand nicht allzu wörtlich nehmen und sich außerdem um ein hohes Einkommen und eine glückliche Partnerschaft bemühen.

Zur Frage, welche körperliche Aktivität in welcher Intensität nötig ist, um die bestmögliche kardiovaskuläre Prävention zu erreichen, stellten norwegische Kardiologen außerdem eine neue App vor. Sie berechnet über eine kontinuierliche Pulsmessung mittels eines als Armband zu tragenden Trackers einen Score (PAI = Personal Activity Intelligence).  „Das Ziel ist, Ihren PAI Score über ein Zeitfenster von 7 Tagen über 100 zu halten, um sich vor einem vorzeitigen Tod an einer Herzerkrankung zu schützen“, erläuterte Dr. Javaid Nauman von der Cardiac Exercise Research Group (CERG) der norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie in Trondheim, wo der Tracker entwickelt wurde [1].

FINRISK: Moderate Aktivität im Ruhestand halbiert das Risiko für kardiovaskulären Tod

Was körperliche Aktivität zum kardiovaskulären Schutz bei den 65- bis 74-Jährigen – also den sogenannten „Ruheständlern“ – beitragen kann, hat ein Team um die finnische Geriaterin Prof. Dr. Riitta Antikainen von der Universität Oulu analysiert [2]. Während man über den Benefit von Bewegung in der arbeitenden Bevölkerung relativ gut Bescheid wisse, sei der Nutzen körperlicher Aktivität für die ältere Bevölkerung weniger gut untersucht, sagte die Wissenschaftlerin in Rom.

 
Das Ziel ist, Ihren PAI Score über ein Zeitfenster von 7 Tagen über 100 zu halten, um sich vor einem vorzeitigen Tod an einer Herzerkrankung zu schützen. Dr. Javaid Nauman
 

Sie und ihre Kollegen nutzen Daten der nationalen FINRISK-Studie, von knapp 2.500 Personen. Von diesen lagen Fragebogen-Angaben, wieviel sie sich im Alltag bewegten, aber auch klinische Daten wie Body-Mass-Index, Blutdruck oder Cholesterinwerte vor. Die Rekrutierungsphase dauerte von 1997 bis 2007. Das Follow-up betrug im Median knapp 12 Jahre. Um eine umgekehrte Kausalität auszuschließen (also wer schon krank ist, bewegt sich schon allein deswegen weniger), waren Teilnehmer, die bereits eine KHK, eine Herzinsuffizienz, einen Schlaganfall oder eine Krebserkrankung hatten, ausgeschlossen.

Das Ergebnis: Nach Korrektur für die bekannten kardiovaskulären Risikofaktoren, war bereits moderate körperliche Aktivität mit einem mehr als halbierten Risiko für einen kardiovaskulären Tod assoziiert, das Risiko für ein akutes kardiovaskuläres Ereignis wie Schlaganfall oder Herzinfarkt war um mehr als 30% reduziert, das an einer kardiovaskulären Ursache zu sterben, sogar um 54%.

Dabei stieg der Schutz mit der Dosis, wie Antikainen betonte. „Je mehr man tut, umso besser. Körperliche Aktivität ist protektiv, selbst wenn man andere kardiovaskuläre Risikofaktoren wie ein hohes Cholesterin hat.“ Wer sich im Ruhestand sogar noch „intensiv“ sportlich betätigte, hatte sogar ein um 45% niedrigeres Risiko für ein kardiovaskuläres Akutereignis und ein um 66% geringeres Risiko, kardiovaskulär bedingt zu sterben.

Bleibt die Frage, wieviel und welchen Sport man denn nun machen sollte, um diesen Schutz für Herz und Gefäße zu erreichen. Und hier wird die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf hiesige Verhältnisse etwas heikel. Tauchen doch in der finnischen Analyse in der Liste der moderaten Aktivitäten neben Spazierengehen, Wandern, Gartenarbeit und Radfahren typisch skandinavische Freizeitbeschäftigungen wie Fischen und Jagen auf. Wer nach eigenen Angaben eine dieser Aktivitäten mindestens 4 Stunden pro Woche ausübte, den packten die finnischen Forscher in die „moderate“ Sportgruppe.

 
Je mehr man tut, umso besser. Körperliche Aktivität ist protektiv, selbst wenn man andere kardiovaskuläre Risikofaktoren wie ein hohes Cholesterin hat. Prof. Dr. Riitta Antikainen
 

Als intensiver Sport galt dagegen Jogging, Skifahren, Gymnastik, Schwimmen, Ball- oder Wettkampfsport für mindestens 3 Stunden wöchentlich. Verglichen wurde mit der Gruppe mit „niedrigem“ Bewegungslevel, die ihre Freizeitaktivitäten mit Lesen, Fernsehgucken und Hausarbeit beschrieben.

Wieviel Sport, wie lange? Aktivity Tracker gibt Auskunft

Gerade dieser Frage, welchen Sport man wie lange betreiben muss, um für Herz und Gefäße einen möglichst großen Schutz zu erreichen, haben sich die norwegischen Wissenschaftler gewidmet. Mit ihrem neuartigen „Activity Tracker“ wollen sie die Herzfrequenz-Daten nutzen, um den persönlichen Aktivitätslevel festzulegen, der tatsächlich ausreichend ist, um das Risiko zu reduzieren, an einer kardiovaskulären Ursache zu sterben, wie Nauman in Rom betonte.

Die Leitlinien, etwa die der ESC, seien mit Empfehlungen (pro Woche mindestens 150 Minuten moderate oder 75 Minuten intensive körperliche Aktivität) zu unspezifisch, monierte er. Dies erschwere die Umsetzung in der Praxis.  „Menschen sind nicht ausreichend aktiv, weil ihnen personalisierte sinnvolle Informationen darüber fehlen, wieviel körperliche Aktivität in welcher Intensität sie tatsächlich brauchen.“

 
Menschen sind nicht ausreichend aktiv, weil ihnen personalisierte sinnvolle Informationen darüber fehlen, wieviel körperliche Aktivität in welcher Intensität sie tatsächlich brauchen. Prof. Dr. Riitta Antikainen
 

Die Herzfrequenz spiegle die Reaktion des Organismus auf den Aktivitätslevel am besten wider, so die Argumentation der Forscher. Sie haben einen Algorithmus entwickelt, der die Pulssteigerung während irgendeiner körperlichen Aktivität wie Laufen, Schwimmen, Radfahren, Tanzen etc. sowie persönliche Informationen (Alter, Geschlecht, Ruhe- und Maximal-Puls) in den PAI-Score übersetzt.

Den Score haben sie anhand von Daten von mehr als 4.500 Teilnehmern der sogenannten HUNT Fitness Studie erarbeitet und dann an den fast 40.000 Teilnehmern der gesamten HUNT Studie validiert. Die Teilnehmer mit einem PAI-Score von 100 oder höher hatten im Vergleich zur inaktiven Gruppe bei einem medianen Follow-up von 28,7 Jahren ein um 13% (für Männer) und 17% (für Frauen) niedrigeres Sterberisiko, berichtete Nauman. Diese Risikoreduktion sei unabhängig vom Alter oder anderen kardiovaskulären Risikofaktoren wie Rauchen, Körpergewicht oder Blutdruck gewesen.

Vorteil des PAI nach Angaben des Forschers: Er ist über die Herzfrequenz-Erhöhung direkt mit der Intensität des Sports korreliert: Wer intensiv trainiert, braucht weniger Zeit, um seine 100 PAI zu erreichen. Allerdings kamen bei der Pressekonferenz auch Zweifel auf, inwieweit der Puls als alleiniger Basis-Parameter für prognostische Aussagen tatsächlich taugt. So kann eine  Erhöhung der Herzfrequenz ja auch stressbedingt sein – und muss sich damit nicht unbedingt prognostisch günstig auswirken. Und was ist mit den Ausdauersportlern, die durch regelmäßiges Training selbst bei hoher Belastung keine so ausgeprägte Pulssteigerung zeigen? „Für die gut Trainierten wird es etwas schwieriger ihre 100 PAI zu erreichen“, räumte Nauman ein. Für Untrainierte allerdings sei – wenn sie denn körperlich aktiv werden – die Pulssteigerung ausgeprägter und der Benefit entsprechend. 

Nauman: „PAI ist für jeden, ob alt oder jung, fit oder unfit – und es ist eine einfach zu verstehende Zahl. Jedes Mal, wenn Sie körperlich aktiv sind und Ihre Herzfrequenz steigt, trägt dies zu Ihrem PAI Score bei, den die PAI App ermittelt. Jeder kann dabei auf seinem persönlichen Intensitätslevel arbeiten und mehr oder weniger schnell seine PAI Punkte sammeln. “

Geschieden und geringes Einkommen – dann ist das Risiko für einen Re-Infarkt besonders hoch

 
PAI ist für jeden, ob alt oder jung, fit oder unfit – und es ist eine einfach zu verstehende Zahl. Dr. Javaid Nauman
 

Doch nicht nur Bewegung, auch sozioökonomische Faktoren beeinflussen die kardiovaskuläre Prognose. Wie sehr, haben schwedische Kardiologen vom Karolinska Institut in Stockholm anhand eines landesweiten Registers von rund 30.000 Überlebenden eines ersten Myokardinfarktes analysiert.

Das Ergebnis: Menschen mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status bekommen eher einen zweiten Infarkt. Je höher das Einkommen, umso geringer das Risiko für ein erneutes derartiges Ereignis. Nach Einkommens-Quantilen hatte dasjenige Fünftel mit dem höchsten Einkommen ein um 36% geringeres Risiko als diejenigen in der Quantile mit dem niedrigsten verfügbaren Geld. Und auch der Beziehungsstatus spielte eine Rolle: Geschiedene hatten im Vergleich zu Verheirateten ein um 14% höheres Risiko für einen erneuten Infarkt, berichtete Studienleiter Dr. Joel Ohm in Rom [3].      

 

REFERENZEN:

  1. Nauman J, et al: ESC Kongress Rom, 29. August 2016

  2. Antikainen R, et al: ESC Kongress Rom, 27. August 2016

  3. Ohm J, et al: ESC Kongress Rom, 27. August 2016

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....