Extrem übergewichtige Patienten, deren Adipositas durch eine seltene Genmutation verursacht wird, könnten von einem neuen Medikament profitieren, das ihren Appetit zügelt und so einen extremen Gewichtsverlust ermöglicht. In einer Pilotstudie, die im New England Journal of Medicine veröffentlicht worden ist, haben Forscher der Berliner Charité unter der Leitung von Dr. Peter Kühnen, Institut für Experimentelle Pädiatrische Endokrinologie, das Peptid Setmelanotide bei 2 Patienten erfolgreich angewendet [1]. Das Peptid bindet an den Melanocortin-4-Rezeptor und löst so ein Sättigungsgefühl aus.

Prof. Dr. Martin Wabitsch
„Das ist ein großartiger Durchbruch und ein wichtiger Schritt im Bereich der Gewichtsregulation bei diesen sehr adipösen Patienten“, kommentiert Prof. Dr. Martin Wabitsch dieses Ergebnis im Gespräch mit Medscape. Der Experte von der Sektion Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie am Hormonzentrum für Kinder und Jugendliche der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin räumt zwar ein, zunächst könne die Therapie nur bei Adipösen mit dieser äußerst seltenen Grunderkrankung angewendet werden. Jedoch bestehe Anlass zur Hoffnung, dass die Therapie auch bei Patienten mit anderen Gendefekten und sogar Übergewichtigen ohne Gendefekt erfolgreich sei.

Dr. Peter Kühnen
Bereits seit den 1990er Jahren sei offensichtlich, dass das Körpergewicht über Hormone und hormonelle Regelkreise reguliert werde. „Bisher ist es aber mit Ausnahme von Leptin nicht gelungen in diese Regelkreise einzugreifen”, erklärt er.
Gendefekt führt zu permanentem Hungergefühl
Bei den 21- und 26-jährigen Patientinnen, die beide zu Studienbeginn mehr als 150 kg auf die Waage brachten, hatten die Wissenschaftler um Kühnen eine Mutation des MC4R-Gens festgestellt, das den Bauplan für den Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R) liefert. Dieser wiederum reguliert Energiehaushalt und Körperwicht. Mit der Aktivierung des Rezeptors durch den Botenstoff Melanozyten-stimulierendes Hormon (MSH) wird das Hungergefühl reduziert. „Ein MSH-Mangel bewirkt ein fast persistierendes Hungergefühl und führt damit zu der Entwicklung eines deutlichen Übergewichts in den ersten Lebensmonaten“, erklärt Kühnen gegenüber Medscape.
Bei den beiden Studienteilnehmerinnen wurde durch diese Genmutation ein Mangel an Propiomelanocortin (POMC) hervorgerufen, einem im Hypothalamus ausgeschütteten Vorläufer von MSH, und damit ein gesteigertes Hungergefühl. Weltweit, erklärt Kühnen, seien weniger als 50 Patienten mit dieser Genmutation bekannt. Da es keine Patienten mittleren oder höheren Alters gebe, sei wahrscheinlich die Mortalität im frühen Erwachsenenalter sehr hoch, vermuten die Forscher.
Die beiden Studienpatienten hatten sich Zeit ihres Lebens vergeblich bemüht, ihr Gewicht längerfristig zu reduzieren. Bisher gab es kein Medikament, das diesen Patienten dabei helfen konnte, an Gewicht zu verlieren. „Wir wollten – im Sinne einer gezielten Substitutionstherapie, ein Präparat finden, welches ähnlich wie der Botenstoff MSH wirkt und die Funktion des Signalwegs im besten Fall wiederherstellt“, erklärt Kühnen.
Bei dem neuen Peptid, Setmelanotide (Hersteller: Rhythm Pharmaceuticals), auch bekannt als RM-493, handelt es sich um einen Melanocortin-4-Rezeptor-Antagonisten, der, so vermuteten die Wissenschaftler, die Wirkung des MSH ersetzen sollte und so das Sättigungszentrum des Gehirns aktivieren könnte. In Kurzzeit-Phase-1b-Studien konnten übergewichtige Probanden, die das Präparat bis zu 4 Wochen lang einnahmen, circa 1 kg pro Woche abnehmen. Bisher sind unter der Einnahme weder Bluthochdruck noch andere Nebenwirkungen aufgetreten.
Mehr als 50 Kg Gewichtsverlust in 42 Wochen
Kühnen und seine Kollegen therapierten die beiden Patienten zunächst für 12 Wochen (Injektion einmal am Tag; Startdosis 0,25 mg/0,5 mg, bis 1,5 mg am Studienende) und stellten schon nach wenigen Wochen erste Effekte, sprich, eine deutliche Reduzierung des Gewichts fest. Je höher die Dosis geschraubt wurde, desto mehr konnte der Appetit der Teilnehmerinnen gezügelt werden und desto mehr Gewicht verloren sie.
Bei einer Dosis von 1,5 mg berichteten die Patientinnen über einen kompletten Verlust des Hungergefühls. Über einen Zeitraum von 42 Wochen verlor die erste Patientin 51 kg (Alter 21, Ausgangsgewicht 155 kg; BMI 49,8); die zweite Patientin (Alter 26, BMI 54,1) konnte ihr Gewicht von 152,8 kg innerhalb von 12 Wochen um 20,5 kg reduzieren.
„Setmelanotide schien der Esssucht gänzlich entgegenzuwirken, was zu einem eindrucksvollen Gewichtsverlust führte“, schreiben die Autoren. Daher sei es plausibel Setmelanotide als Therapiemöglichkeit für Kinder und Jugendliche mit POMC-Mangel in Betracht zu ziehen.
„Patienten mit dem POMC-Gendefekt leiden unter extremem Übergewicht und dessen Folgeerkrankungen und können kaum ein normales Leben führen. Bisher hatten sie keine Möglichkeit ihren Hunger und damit ihr Gewicht in den Griff zu bekommen“, sagt Wabitsch. „Mit diesem Eiweißhormon können wir dem Gendefekt offensichtlich entgegenwirken.“ Ähnlich wie Diabetiker, die Insulin täglich benötigen, müssen sich Patienten mit dem POMC-Gendefekt ihr Ersatz-Hormon Setmelanotide jeden Tag ein Leben lang spritzen, erklärt er, um das Sättigungsgefühl zu erzeugen und so ein normales Gewicht zu erzielen bzw. zu halten.
Therapieoption auch bei anderen Adipositas-Ursachen?
„Die Ergebnisse unserer Studie bestätigen die fundamentale Rolle des MC4R-Signalweges in der Appetitregulation und liefern einen wichtigen Beitrag zum Verständnis grundlegender Prozesse im Zusammenhang mit dem Körpergewicht“, sagt Kühnen. Allerdings sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar, ob auch Adipositas-Patienten mit anderen Genmutationen oder sogar ohne genetische Ursache von der Therapie profitieren. Möglich sei das jedoch, vermutet die Forschergruppe. Denn auch übergewichtige Patienten ohne bekannte Gendefekte leiden unter Leptinresistenz und nehmen wieder zu, weil ihr Appetit nach einer Diät übermäßig groß sei, weshalb Setmelanotide auch gegen nicht genetisch bedingtes Übergewicht helfen könnte, argumentieren sie.
Beide Studienpatientinnen, berichtet Kühnen, nehmen das Peptid weiter ein und verlieren immer mehr Gewicht. In weiteren Studien fokussiert sich sein Team an der Charité auf Patienten mit Defekten im Leptin-Melanokortin-Signalweg, die zu einem MSH-Mangel führen können. „Diese Untersuchungen werden zeigen, ob auch Patienten mit anderen genetischen Defekten von der Setmelanotide-Therapie profitieren.“ Wabitsch ist zuversichtlich, dass seine aktuell 6 Patienten mit diesem Defekt, der häufiger vorkommt als ein POMC-Mangel, mit Setmelanotide Gewicht verlieren könnten.
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Wundermittel gegen Adipositas? Neues Präparat reversiert Gendefekt, zügelt Appetit und bewirkt extremen Gewichtsverlust - Medscape - 18. Aug 2016.
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