Die Diskussion um Antibiotika-Resistenzen erhitzt die Gemüter von Ärzte- und Kassenvertretern. Nachdem der BKK-Landesverband Nord die Verordnungspraxis von Ärzten scharf kritisiert hat, wirft der NAV-Virchow-Bund der BKK „unlauteres“ Vorgehen vor [1]. Die Krankenkasse sei mit einer „unwissenschaftlichen“ willkürlichen Zusammenstellung von statistischen Daten ohne Evidenz an die Öffentlichkeit gegangen, kritisierte der NAV-Virchow-Bund. Auch der Deutsche Hausärzteverband wendet sich gegen den „pauschalen Vorwurf, Antibiotika falsch zu verordnen und damit die Gesundheit der Patienten zu gefährden“.
Ärzte weisen pauschale Kritik von sich
Der Anlass für die Aufregung: Dr. Dirk Janssen, stellvertretender Vorstand des BKK-Landesverbandes Nordwest hatte die Verschreibungspraxis von niedergelassenen Ärzten in der Presse scharf kritisiert und sich auf eigene, inzwischen in Tabellenform publizierte BKK-Daten berufen: „Das Hauptergebnis unser Studie ist, dass Antibiotika für Erkrankungen eingesetzt werden, wo sie nicht wirken – zum Beispiel bei Erkältungskrankheiten. Die Ursache ist eine großzügige Verschreibungspraxis insbesondere der Hausärzte. Es muss gesetzliche Regelungen geben, die darauf hinwirken, dass die Problematik nicht aus dem Ruder läuft“, fordert Janssen auch gegenüber Medscape.
Es stehe außer Zweifel, dass es gemeinsamer Anstrengungen bedürfe, Antibiotika-Resistenzen vorzubeugen, sagt Ulrich Weigeldt, Bundesvorsitzender des Deutschen Hausärzteverbandes. Er verurteilt aber das „Ärzte-Bashing“ als „unseriös“ und „verunglimpfend“, betont jedoch auch, den Kampf gegen die Antibiotika-Resistenzen zu unterstützen.
„Die Zunahme von Antibiotika-Resistenzen stellt eine ernsthafte Gefahr dar. Im Interesse der Patientinnen und Patienten muss die Verordnung von Antibiotika dringend besser koordiniert werden, um beispielsweise unnötige Doppelmedikationen zu vermeiden und so die Anzahl der verschriebenen Antibiotika dauerhaft zu reduzieren“, so Weigeldt.
„Ein Ärzte-Bashing ist nicht unser Ansatz gewesen, es geht uns vielmehr darum, eine nötige Debatte zu führen, wie Antibiotika-Resistenzen reduziert werden können“, verteidigt sich Janssen. „Wir wünschen uns, dass die Facharztverbände diese Fragen aufnehmen und diskutieren.“
Kritik an unwissenschaftlicher Antibiotika-Studie
In der Praxis schon vorhandene Tests, z.B. Antibiogramme, würden zu wenig verwendet. Selbst Reserve-Antibiotika würden weitgehend ohne Antibiogramm eingesetzt, kritisiert Janssen. Die BKK-Daten zeigten, dass rund 95% der ärztlich verordneten Antibiotika ohne vorheriges Antibiogramm verordnet würden. „Das empfinden wir schon als fahrlässig, wenn bei Reserve-Antibiotika kein Antibiogramm gemacht wird, wenn es möglich wäre.“
Der Bundesvorsitzende des NAV-Virchow-Bundes Dr. Dirk Heinrich kritisiert vor allem die „unwissenschaftliche Antibiotika-Studie“ der BKK. „Auf schlanken neun Seiten und einem knappen Dutzend Tabellen haben die BKK-Verbands-Statistiker Zahlen zu einzelnen exemplarischen Diagnosen zusammengeschustert. Auswahlkriterien der Diagnosen, ein adjustiertes Studiendesign und valide Schlussfolgerung sind nicht enthalten.“ Die Öffentlichkeit sei der BKK auf den Leim gegangen, wundert sich Heinrich. Die Ergebnisse seien nicht relevant und bundespolitisch ohne Bedeutung.
Janssen kontert:„Unsere Untersuchung basiert auf den vollständigen Arzneimittelverordnungs- und vertragsärztlichen Abrechnungsdaten von mehr als 6,8 Millionen BKK-Versicherten. Die Kritik sei der natürliche Reflex auf „unbequeme Realitäten“. Bei den Tabellen handle es sich um die komprimierte Form der Daten.
Die BKK Landesverband Nord führt Abrechnungsdaten der BKK von Anfang 2014 bis Mitte 2015 ins Feld. Von den rund 7 Millionen BKK-Versicherten in 13 Bundesländern bekamen demzufolge rund 1,7 Millionen ein Antibiotikum verschrieben. Die Daten zeigten: Antibiotika würden oft auch bei einfachen Erkältungen verordnet, obwohl sie gegen die viralen Erreger nichts nutzen. Das oft angeführte Argument der Ärzte, dass der Patient die Behandlung mit Antibiotika einfordere, ließ Janssen nicht gelten: „Es kann doch nicht sein, dass der Patient bestimmt, was er verordnet haben möchte.“
Was bringen Antibiogramm und Schnelltests?
Die BKK wolle vor allem einen Beitrag zur politischen Diskussion um den aktuellen Referentenentwurf des geplanten Gesetzes zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (AM-VSG) des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) leisten. Hier will das BMG den zielgenauen Einsatz von Antibiotika fördern und den unnötigen Einsatz reduzieren, indem die Erstattung von diagnostischen Verfahren verbessert und diese rascher durch die Kassen erstattet werden sollen. Auch im Dialog mit der pharmazeutischen Industrie hatte das BMG in einem Bericht seine Strategie gegen Antibiotika-Resistenzen dargelegt.
Der BMG-Entwurf geht dem BKK-Nord aber nicht weit genug. Die Kasse fordert vielmehr, der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) solle damit beauftragt werden, eine qualitätsgesicherte Antibiotikatherapie inklusive der Regelung des Einsatzes von vorhandener und weiter zu verbessernder Diagnostika verbindlich und nicht nur als Empfehlung zu erlassen.
Die Politik solle regeln, dass Antibiogramme in Zusammenhang mit der Antibiotika-Verordnung verpflichtend seien. Die Untersuchungen sollten vollständig bezahlt werden, was derzeit nicht der Fall sei, insbesondere nicht bei den Hausärzten, so Janssen. Zwar seien auch andere, schnellere Test aus den USA im Gespräch. Aber: „Es ist auf Jahre nicht realistisch, dass wir ein schnelleres Testverfahren als das Antibiogramm bekommen“, sagt Janssen.
Der Test sei sinnvoll, auch wenn viele Ärzte argumentierten, dass man im akuten Fall nicht 2 Tage lang auf das Testergebnis warten könne. „Wenn der Arzt ein Antibiogramm veranlasst, dann wird im besten Fall seine Therapie nach 48 Stunden bestätigt. Andernfalls, wenn das Antibiotikum nicht wirkt, kann er den Patient informieren und es gegen ein wirksames ersetzen,“ erklärt er.
Dr. Jörg Bätzing-Feigenbaum vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland (Zi) kritisiert, dass Antibiogramme nur beschränkt weiter helfen. Der Allgemeinmediziner, Infektiologe und Tropenarzt ist bei der Stiftung Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland für den Versorgungsatlas zuständig, der seit Jahren wissenschaftliche Trends im Antibiotika-Verbrauch analysiert und nun auch einen Newsletter herausgegeben hat, der verschiedene Studien zum Thema zusammenfasst. „In der aktuellen Diskussion wird ein Aspekt herausgegriffen und damit suggeriert, dass ein komplexes Problem einfach gelöst werden kann“, kritisiert Bätzing-Feigenbaum gegenüber Medscape.
Man komme bei vielen Erkrankungen nicht so einfach an den Keim heran, den man für das Antibiogramm benötige, etwa bei einer tief liegenden Atemweginfektion, bei Lungenentzündungen oder bei Mittelohrentzündungen ohne Perforation des Trommelfells. „Wichtiger ist es, dass Schnelltests weiterentwickelt werden, mit denen sicher virale und bakterielle Infektionen unterschieden werden können“, meint Bätzing-Feigenbaum.
Auf dem Markt befindliche Schnelltests wie der CRP-Test zum Nachweis von C-reaktivem Protein weise nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 60-70% eine bakterielle Infektion nach, bei dem Procalcitonin-Test betrage die Wahrscheinlichkeit 70-80%, dieser sei aber mit Kosten von zirka 25 Euro relativ teuer. Beim CRP ist auch die Erstattung nicht gewährleistet. Aber solche Tests seien durchaus sinnvoll, um den Arzt in seiner diagnostischen Entscheidung zu unterstützen, meint Bätzing-Feigenbaum.
Deutschland im internationalen Vergleich nicht schlecht
Grundsätzlich gingen andere Länder in Europa viel lockerer mit der Verordnung von Antibiotika um, sagt er. „Wir stehen im internationalen Vergleich gut da.“ Deutschland liege im oberen Drittel der „Wenig-Verordner“ unter den europäischen Ländern. In vielen südeuropäischen Ländern seien die Verordnungsquoten weit höher.
Ein Nord-Süd-Gefälle sei auch innerhalb der Bundesländer in Deutschland zu beobachten. In Berlin-Brandenburg sei die Verordnungsrate von Antibiotika nur halb so hoch wie im Saarland. „Wir können uns die starke Variation nicht erklären. Offensichtlich bestehen Verschreibungspraktiken, die sich von Generation zu Generation übertragen. Man müsste sie aufbrechen und weiter entwickeln“, schlägt der Mediziner vor. Die hohen Verordnungsraten des Saarlands seien möglicherweise durch die Nachbarschaft zu Frankreich bedingt, wo traditionell mehr Antibiotika verordnet würden.
Sorgen bereitet aber vor allem der steigende Einsatz von Reserve-Antibiotika, der Cephalosporine, wie Bätzig-Feigenbaum in einer kürzlich veröffentlichten Studie zu Antibiotika-Verordnung in der ambulanten Versorgung darstellte.
Gerade bei Erwachsenen würden seit Jahren unverändert häufig Antibiotika verordnet. Dagegen zeige der Trend, dass bei Kindern und Jugendlichen die Verordnungsraten seit 2008 signifikant gesunken seien. Allerdings sind gerade die Pädiater in der aktuellen Debatte um die Antibiotika-Resistenzen angegriffen worden, weil öffentlich mit nicht mehr aktuellen Daten argumentiert worden sei.
Der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Dr. Thomas Fischbach, wies in einer Pressemitteilung die Vorwürfe zurück und betont, die Verordnungszahlen seien rückläufig, da der Verband flächendeckend Fortbildungen zum Thema anbiete. Im Zweifelsfall veranlassten die Kinder- und Jugendärzte auch Antibiogramme, die allerdings teuer seien. Umso mehr verwundere ihn die Forderung der BKK. Bei günstigeren Laboruntersuchungen wie dem CRP-Test sei die Erstattung schwierig: „Wir müssen sie zum Teil aus eigener Tasche bezahlen“, bemängelte Fischbach.
Erwartungshaltung von Eltern setzt Ärzte unter Druck
Der höhere Antibiotikaverbrauch habe auch soziale Ursachen, meint Fischbach. Migranten würden es oft aus ihrer Heimat kennen, dass Kindern bei kleinsten Infekten Antibiotika verabreicht werden. Sie übten Druck auf die Ärzte aus, wie auch berufstätige Eltern, die nicht auf der Arbeit fehlen wollen. Pädiater verschrieben im Ausnahmefall auch Antibiotika, um zu verhindern, dass Eltern ihren Kindern auf eigene Faust Antibiotika aus dem häuslichen Arzneischrank geben.
„Wir erleben es in den Praxen häufig, dass Eltern nach dem Wochenende oder nach einem Feiertag mit einem Antibiotika-Rezept in unseren Praxen vorstellig werden, da sie in einer gefühlten Notsituation gerne auf ein vermeintlich sicheres Arzneimittel zurückgreifen wollen. In den Bereitschafsambulanzen sei häufig nicht die Zeit und meistens auch kein Schnelltest vorhanden, um entsprechende Befunde ausreichend abzuklären. Insofern könnte die geplante Neuregelung des Gesetzes zur Arzneimittelversorgung auch hier Abhilfe schaffen“, so Fischbach weiter.
„Hätten wir die Möglichkeit, klärende Laboruntersuchungen in der Praxis wirtschaftlich zu erbringen, wäre das sicher für alle, auch für die Krankenkassen, ein Vorteil.“ Den Vorstoß des BMG einer Neuregelung der Erstattung von diagnostischen Verfahren mit dem Ziel, den unnötigen Einsatz von Antibiotika einzudämmen, begrüßt der Kinderarzt ausdrücklich.
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Hausärzte wehren sich gegen „pauschalen Vorwurf“ der BKK Antibiotika falsch zu verordnen - Medscape - 17. Aug 2016.
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