
Prof. Dr. Jean-François Chenot
Für welche Patienten ist eine Therapie mit niedrig dosierter Acetylsalicylsäure (ASS) zur Primärprävention kardiovaskulärer Ereignisse empfehlenswert? Eine in JAMA Internal Medicine erschienene Übersichtsarbeit bestätigt eindrücklich: „Die Entscheidung erfordert die individuelle Abwägung von Nutzen und Risiko für jeden einzelnen Patienten und dies sollte nicht aus dem Bauch heraus geschehen, sondern mit einem validierten Risikobewertungstool.“ So fasst Prof. Dr. Jean-François Chenot, der an der Universitätsmedizin Greifswald die Abteilung Allgemeinmedizin leitet, die Ergebnisse der Arbeit zusammen.
Mittlerweile stehe Evidenz aus 11 Studien mit mehr als 118.000 Patienten zur Verfügung, um zu entscheiden, ob ASS in der Primärprävention zum Einsatz kommen sollte, schreiben die Autoren um Prof. Dr. Samia Mora von der Division of Preventive Medicine am Brigham and Women’s Hospital in Boston, Massachusetts, USA [1].
Schaden oder Nutzen – was überwiegt?
Der Nutzen einer ASS-Therapie steigt demnach ebenso wie das Blutungsrisiko mit dem kardiovaskulären Risiko des Patienten an. Bei Patienten mit höherem kardiovaskulärem Risiko übertrifft jedoch der Nutzen – die Verhinderung von Herzinfarkten und Schlaganfällen – in der Regel das Risiko, unter der ASS-Therapie schwere Blutungen zu entwickeln. Der Schwellenwert, ab dem der Nutzen das Risiko überwiegt, liegt der Analyse von Mora und seinen Kollegen zufolge etwa bei einem 10-Jahres-Erkrankungsrisiko von 10%.
„Ärzte sollten das Zehn-Jahres-Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis berechnen und das Risiko des Patienten, unter der ASS-Therapie schwere Blutungen zu entwickeln, abschätzen“, schreiben Mora und seine Kollegen. Diese Abwägung ermögliche die sichere Auswahl von Kandidaten für eine ASS-Therapie.
Risikoberechnung sollte Standard sein
Ganz im Sinne der translationalen Medizin empfehlen die Autoren auch gleich ein Instrument, mit dem sich diese Berechnungen vornehmen lassen: die von Forschern des Brigham and Women’s Hospital und der Harvard Medical School entwickelte App „The Aspirin Guide“ (derzeit nur im App Store erhältlich, noch nicht für Android).
„Solche Risikobewertungstools stehen uns in Deutschland bereits zur Verfügung“, ergänzt Chenot. „Wir Hausärzte bevorzugen das Instrument arriba.“ Außerdem gebe es noch den Risikorechner PROCAM und den Kalkulator HeartScore der European Society of Cardiology (ESC). Sie erlauben es durch Eingabe verschiedener Risikofaktoren zu berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit der Patient in den nächsten 10 Jahren einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erleiden wird.
„Es ist entscheidend, dass die Anwendung von Risikobewertungstools in der Praxis Standard wird“, betont Chenot. „Eigentlich sollte bei jedem Patienten über 50 Jahren, der zum Check-up kommt, das Risiko berechnet werden. Das ist im SGB V auch so vorgesehen, aber noch nicht Realität.“
Entscheidung individuell abwägen
Doch auch die besten Risikobewertungstools nehmen Arzt und Patient die individuelle Entscheidung für oder gegen eine ASS-Therapie nicht ab. Ein Beispiel: „Die beiden wichtigsten Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Ereignisse in diesen Risikorechnern sind Geschlecht und Alter. Ein gesunder Mann ab 60 Jahren würde mit diesen Rechnern automatisch ASS bekommen“, so Chenot. „Der Gedanke bereit vielen Hausärzten Bauchgrummeln.“
Bei der Diskussion über Für und Wider einer Primärprävention mit ASS kommen deshalb – neben den Wünschen des Patienten – die fast 200 anderen Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wieder ins Spiel, die keinen Eingang in die verschiedenen Risikorechner gefunden haben. Und dazu gehören auch ganz bekannte Größen wie Übergewicht und Niereninsuffizienz.
„Menschen mit normalem, sprich ihrer Altersgruppe entsprechendem kardiovaskulärem Risiko, sollten nicht mit ASS behandelt werden“, so Chenots Fazit. „Hat man aber jemanden mit sehr hohem Blutdruck, schlecht eingestelltem Diabetes, der auch noch raucht und dessen individuelles Zehn-Jahres-Risiko über dem liegt, was für sein Alter normal ist, kann man entscheiden, ASS auch in der Primärprävention zu geben.“
Der Greifswalder Allgemeinmediziner betont aber auch die Bedeutung von Lebensstilfaktoren: „Wir haben keine einzige Tablette, die so wirksam das Risiko senkt, wie mit dem Rauchen aufzuhören oder mit regelmäßiger Bewegung anzufangen.“
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Keine Entscheidung „aus dem Bauch heraus“: Wer ein Kandidat für ASS in der Primärprävention ist, lässt sich berechnen - Medscape - 16. Aug 2016.
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