Zwar sind Fälle von Gewalt gegen Ärzte mit tödlichem Ausgang eher selten, wie etwa erst kürzlich in Berlin, als ein Arzt am Universitätsklinikum Berlin-Steglitz von einem 72-jährigen langjährigen Patienten bei einem Behandlungsgespräch erschossen wurde, wie Medscape berichtete. Alltäglichere Formen der Gewalt gegen Ärzte und Pflegekräfte in Kliniken, Praxen und bei Hausbesuchen sind dagegen deutlich häufiger. Sie werden beleidigt, bedroht, bespuckt, gekratzt, geschlagen, mit Gegenständen beworfen oder auch sexuell belästigt.
Über Gewalt gegen Ärzte und Pflegekräfte durch Patienten wird nicht gern gesprochen. Ein aktueller Review-Artikel im New England Journal of Medicine zur Thematik in den USA holt das Thema aus der Tabuzone [1]. „Es ist ein wenig berichtetes, überall verbreitetes und anhaltendes Problem, das toleriert und weitgehend ignoriert wird“, kritisiert der US-Notfallmediziner Dr. James Philips von der Harvard Medical School und Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston.
Dr. Florian Vorderwülbecke, Hausarzt und Lehrbeauftragter am Institut für Allgemeinmedizin der TU München am Klinikum rechts der Isar, lobt, dass Philips mit seinem Review auf die deutlichen Forschungslücken hinweist: „Das Thema muss viel mehr erforscht werden. Wir müssen die Auslöser von aggressivem Verhalten identifizieren und evaluieren, welche Gegenmaßnahmen wirklich sinnvoll sind. Letztendlich müssen wir aber auch entscheiden, was uns die Sicherheit unserer Ärzte und des Pflegepersonals wert ist“, so Vorderwülbecke.
Weißer Kittel ist kein Schutzschild gegen Gewalt
Der weiße Kittel ist schon längst kein Schutzschild mehr. „Auch Hausärztinnen und –ärzte sollten sich darauf vorbereiten, dass sie im Verlauf ihrer Tätigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Formen von Aggression konfrontiert werden“, sagt Vorderwülbecke. In einer bundesweiten Befragungsstudie zu Aggression und Gewalt gegen Allgemeinmediziner und praktische Ärzte zeigt er, dass fast alle der mehr als 800 Befragten – über 91% – im Verlauf ihrer hausärztlichen Tätigkeit schon einmal mit aggressivem Verhalten konfrontiert gewesen waren. Für die letzten 12 Monate traf dies auf 73% zu.
Der Hausarzt hat selbst Erfahrungen mit gewalttätigen Patienten gemacht. Bei einem Bereitschaftsdienst war er mitten in der Nacht von einem Mann angerufen worden, ihm gehe es sehr schlecht. Vor Ort in seiner WG sagte er dem Arzt, er wolle sofort in eine Klinik zum Drogenentzug eingewiesen werden. Als Vorderwülbecke dem Patienten nach einer Anfrage bei einer Entzugsklinik mitteilen musste, er möge sich zur normalen Sprechstunde einfinden, rastete der drogenabhängige Mann aus, zückte plötzlich ein Messer und bedrohte den Arzt.
Im Nachhinein, sagt Vorderwülbecke, hätte er die WG nachts nicht betreten sollen, schon das nicht funktionierende Licht in der Wohnung sei ein Signal gewesen, dass hier etwas nicht stimme. Die ganze Atmosphäre sei schaurig gewesen: Einige Personen hätten im Wohnzimmer bei flackerndem Kerzenschein apathisch auf dem Boden gelegen.
Sein Besuch dort ging zum Glück glimpflich aus, wohl auch, weil der Arzt nicht die Nerven verlor und ihm solche gewaltsame Situationen schon mehrmals begegnet waren – als Arzt im Dienst der Bundeswehr im Kosovo und in Afghanistan. Er redete auf den Patienten ein, bis er das Messer weglegte.
Auch wenn jemand schon sehr aggressiv am Telefon klinge, solle man es sich überlegen, ob man alleine zu ihm in die Wohnung gehe. In manchen Bundesländern betreten die Ärzte im Bereitschaftsdienst nur mit einem medizinisch geschulten Fahrer die Wohnung von Patienten. Dies hält Vorderwülbecke für sinnvoll. In brenzligen Situationen sei es aber auf jeden Fall besser, einer möglichen Attacke aus dem Weg zu gehen und „Fersengeld“ zu geben, anstatt sich einem Kampf zu stellen.
Doch den meisten Ärzten dürfte es völlig fremd sein, mit aggressiven und gewaltbereiten Patienten umzugehen. Sie stehen oft unvorbereitet solchen Exzessen gegenüber. Schließlich verstehen sie sich als Helfer und nicht als potenzielle Opfer von Attacken, nicht zuletzt, weil das Thema zu wenig offen diskutiert wird.
Vorderwülbecke hält es für angebracht, dass das Thema in die ärztliche Aus- und Weiterbildung von Allgemeinmedizinern hineingetragen werden soll. Man könne Vergleiche mit medizinischen Notfällen ziehen: „Wirklich aggressive und gewalttätige Patienten kommen nicht täglich in der Praxis vor, wie eben ein Herzstillstand auch nicht. Trotzdem halte ich einen Defibrillator bereit und übe das Notfallmanagement regelmäßig mit meinem Team. Schließlich geht es ums Leben – bei Gewalt vielleicht um mein eigenes.“
Mehr Studien zum Thema werden gefordert
Das Gebiet sei insgesamt schlecht erforscht, betont US-Arzt Philips in seiner Übersichtsarbeit: es fehlen systematische Untersuchungen. In einer US-Befragung zur Kriminalität in Kliniken berichteten 75% der Notfallmediziner in ihrer Abteilung über verbale Bedrohungen, 21% gaben an, Opfer von physischen Angriffen geworden zu sein. In einer Studie der Universität Michigan wurden 89% der Angriffe durch Patienten ausgeführt, 9% durch die Familie des Patienten und 2% durch Freunde.
Die Gewalt ist aber nicht nur auf die Notfall-Abteilungen beschränkt: Ein Drittel der US-Kinderärzte erfuhren während ihrer Ausbildung Gewalt durch Familienangehörige von Patienten. Dabei berichteten 71% von ihnen, dass sie kein Anti-Gewalt-Training absolviert hatten. Die Mehrheit meinte, dass sie profitieren könnten, wenn sie wüssten, wie sie professionell mit dem Ärger der Patienten umgehen könnten.
Risikofaktoren: lange Wartezeiten und überfüllte Wartezimmer
Warum ticken Patienten aus und werden gewalttätig? Mögliche Risikofaktoren sind laut Studien in den US-Emergency-Abteilungen im Staat Michigan lange Wartezeiten, überfüllte Wartezimmer mit beengten Verhältnissen („Crowding“), schlechte Essensqualität und das Überbringen von schlechten Nachrichten bezüglich der Diagnose, ein niedriger sozioökonomischer Status. Weitere Risikofaktoren sind auch Waffenbesitz, Banden-Aktivitäten und Patienten in polizeilichem Gewahrsam.
„Wartezeiten verbunden mit Hektik und schlechter Kommunikation erhöhen die Risiken“, sagt Vorderwülbecke. „Jeder kennt es von der Supermarktschlange, dass manche aggressiv werden – das ist in der Medizin nicht anders“, sagt er. Auch deutsche Notaufnahmen werden zunehmend überfüllter, da viele Menschen wegen Bagatellproblemen abends oder am Wochenende kommen.
„Emergency Rooms in den USA kann man allerdings kaum mit den Notaufnahmen deutscher Krankenhäuser vergleichen“, schränkt Prof. Dr. Tilman Steinert gegenüber Medscape ein. Er ist Ärztlicher Direktor des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg aus Ravensburg, Versorgungsforscher und derzeit verantwortlich für die Aktualisierung einer S3-Leitlinie zu Diagnose und Therapie von aggressivem Verhalten. Die Notfallabteilungen in den USA dienten her als breite Anlaufstelle für Menschen, die in der Regel nicht versichert seien – mit einer Ansammlung von ganz verschiedenen Problemlagen.
Welche Faktoren fördern Aggression?
Dass die Gewaltbereitschaft der Patienten in den USA und auch in Deutschland allgemein angestiegen sei – dazu gibt es keine Erhebungen. Erfahrungswerte zeigen aber, dass die Erwartungshaltung bei den Patienten größer zu sein scheint als früher, meint Psychiater Steinert: „Es ist nicht mehr so, dass Patienten demütig warten, bis sie an der Reihe sind.“
Zu unterscheiden sind seiner Ansicht nach aggressionsfördernde Faktoren, die sich auf Patienten oder auf Institutionen beziehen. Wenn etwa das Personal unter hoher Arbeitsverdichtung leide und überfordert oder gestresst auf wartende, gereizte Patienten reagiere oder gar arrogant auftrete, dann könne dies zur Eskalation führen, so Steinert. Das Risiko sei erhöht, wenn unterschiedliche ungünstige Faktoren aufeinandertreffen.
In vielen Fällen sind die Täter nicht bei klarem Bewusstsein. Die Gewalttätigkeit im Gesundheitsbereich ist assoziiert mit Demenz, Delirium, Substanzmissbrauch oder Dekompensation einer psychischen Krankheit. Dies ergaben einige Studien, die in den Guidelines for Preventing Workplace Violence for Healthcare and Social Service Workers und der Occuptional Safety and Health Administration aufgeführt sind. Eine aktuellere Untersuchung hat die School of Public Health der Universität Texas in Houston durchgeführt.
„Obwohl besondere Umgebungen wie psychiatrische Abteilungen, Pflegeheime und Notfall-Abteilungen einem hohen Risiko ausgesetzt sind, ist die Vorhersage der Wahrscheinlichkeit von Gewalt am Arbeitsplatz in Bezug auf Diagnosen schwer zu fassen und kann zur Diskriminierung einzelner Patientengruppen führen“, gibt der US-Arzt Philips zu Bedenken.
Ganz allgemein spiegle das Aggressionspotenzial bei Patienten ähnliche gesellschaftliche Entwicklungen in anderen Dienstleistungs-Bereichen wider, etwa auf den Sozialämtern, Arbeitsämtern und anderen Behörden, erläutert Steinert. „Es gibt dort Menschen, die sich dissozial verhalten und bereit sind, Gewalt anzuwenden“, sagt er. Die Vorkommnisse im Gesundheitsbereich müssten allerdings auch im Verhältnis zu den sehr hohen Aufnahmezahlen in den Institutionen gesehen werden und sollten weder übertrieben noch bagatellisiert werden.
Nicht-psychiatrische Patienten sind genauso häufig gewalttätig wie Psychiatrie-Patienten
Angestellte in den US-Psychiatrien sind mehr gefährdet als in Allgemeinkrankenhäusern, so eine Befragung zur Gewalt gegen US-Psychiatrie-Personal. Ungefähr 40% der Psychiater berichteten über eine physische Attacke. Auch in Deutschland ist das Psychiatrie-Personal Risiken ausgesetzt, da Patienten in Psychiatrien zum Teil auch gegen ihren Willen untergebracht werden, erläutert Psychiater Steinert.
Prof. Dr. Gordon Gillespie, stellvertretender Direktor des Occupational Health Nursing Program an der Universität von Cincinnati in Ohio, USA, widerspricht jedoch der Annahme in der Literatur, dass psychiatrische Patienten in die meisten gewalttätigen Vorfälle gegen medizinisches Gesundheitspersonal involviert seien. Dies sei eher das Resultat einer Verzerrung, weil die Ausschreitungen durch nicht-psychiatrische Patienten nicht immer gemeldet würden, wie er der US-Ausgabe von Medscape sagte.
Offensichtlich melde man diese Vorfälle nicht, weil es unwahrscheinlich sei, dass die Patienten nochmals in die Klinik zurückkehren. In der Psychiatrie hingegen, sind die zur Gewalt neigenden Patienten in der Regel bekannt, weil sie aufgrund der chronischen Erkrankung immer wieder zurückkommen. Gillespie geht aufgrund seiner eigenen Forschung mit Pflegepersonal in Notfallaufnahmen davon aus, dass in 50% der gewalttätigen Vorkommnisse psychiatrische Patienten involviert sind, an der anderen Hälfte seien Patienten beteiligt, die nicht psychisch krank seien.
Mögliche Lösungsansätze, um Gewalt und Aggression zu vermeiden
Um der Gewalt am Arbeitsplatz zu begegnen, werden von Experten Deeskalations-Trainings und Selbstverteidigungskurse gefordert, berichtet Philips. Im US-amerikanischen Bereich werden ferner der nicht unumstrittene Einsatz von Metall-Detektoren diskutiert, um Schusswaffen im Krankenhausbereich zu verhindern, das Aufstellen von Absperrungen, Sicherheitskameras und das Anheuern von Security-Personal.
Philips fordert als vielleicht wichtigste Empfehlungen, dass die Gesundheitsinstitutionen ihre Personalplanung überarbeiten sollte, um das Personal während der Stoßzeiten aufzustocken, eine Überfüllung, lange Wartezeiten und Personalfluktuationen zu reduzieren sowie adäquates Sicherheitspersonal und psychiatrische Fachkräfte vor Ort zur Verfügung stellen. Derzeit sei eine große randomisierte kontrollierte US-Studie in Arbeit, in der standardisierte Interventionen eingesetzt werden, um die Prävalenz von Arbeitsplatz-Gewalt zu reduzieren.
In den Psychiatrien wird das Personal in der Regel im Bereich Deeskalation geschult. Allerdings gebe es auch für die Wirksamkeit von Deeskalationstrainings noch keine sichere Evidenz, so Steinert.
Kurz-Selbstverteidigungskurse für Anfänger hält der ehemalige Zeitsoldat Vorderwülbecke jedoch für wenig geeignet. „Nur wenn man sehr erfahren ist und Techniken über einen längeren Zeitraum regelmäßig übt, kann man sie in Stresssituationen auch abrufen“, meint er. Sinnvoller sei es verbale Deeskalation zu erlernen und zu üben und vor allem kritische Situationen im Vorfeld zu erkennen und zu vermeiden. In vielen Fällen könne man schon Vorzeichen deuten und sich entsprechend verhalten.
Hohe Dunkelziffer – Management fühlt sich oft nicht zuständig
Schätzungsweise nur 30% der gewaltsamen Vorfälle gegen Pflegekräfte und 26% gegen Ärzte werden in den USA gemeldet, führt Philips in seinem Review an. Obwohl das Gesundheitspersonal ein Recht auf einen sicheren Arbeitsplatz hat, trauen sich offensichtlich viele nicht, die Vorkommnisse ihrem Arbeitgeber zu melden.
Hemmungen, den Vorfall anzuzeigen, haben die Angestellten mitunter, weil die gewalttätigen Patienten zum Teil wegen psychischer Erkrankungen oder Substanzmissbrauch nicht bei klarem Bewusstsein seien, meint Philips. Ein weiterer Grund für die hohe Dunkelziffer liege auch an einem fehlenden Interesse im Management, sich mit dem Problem überhaupt auseinanderzusetzen, schreibt er. Die Einstellung „das gehört zu diesem Job dazu“ sei in manchen Leitungen verbreitet. Auch die Service-Orientierung unter dem Motto „der Patient hat immer Recht“ halte das Personal davon ab, den Vorfall bekannt zu machen.
„Es ist Management-Aufgabe, sich darum zu kümmern, wenn das Personal angegriffen wird“, sagt Steinert. Eine Vogel-Strauß-Taktik könne weitreichende Folgen haben, für den Mitarbeiter und die Klinik: Wird das der Gewalt ausgesetzte Personal sich selbst überlassen, kann es zu höheren Fehltagen, niedrigerer Produktivität, Burnout und Unzufriedenheit mit dem Beruf kommen, verbunden mit einem Gefühl der Angst am Arbeitsplatz, wie Philips beschreibt.
„Die wesentlichen Arbeitsausfallzeiten resultieren mehr aus den psychischen Folgen von Gewalt und nicht so sehr aus den körperlichen Folgen“, bestätigt auch Steinert. „Eine körperliche Attacke ist häufig recht schnell überstanden, aber wochenlange Arbeitsausfälle kommen von der seelischen Traumatisierung.“ Die Klinikleitungen sollten signalisieren, dass sie hinter den Mitarbeitern stehen. Traumatisierte Mitarbeiter müssten psychologisch unterstützt werden.
REFERENZEN:
1. Phillips, JP: NEJM 2016;374;1661-1669
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Gewalt gegen Ärzte und Pflegekräfte – ein tabuisiertes und schlecht erforschtes Problem - Medscape - 9. Aug 2016.
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