… und raus bist Du! Neben den russischen Leichtathleten sind nun auch die Ruderer und Gewichtheber in Rio wegen Dopings außen vor. Kurz vor Beginn der Olympischen Spiele hatten Schwimmer, Ruderer und Gewichtheber gegen ihr Startverbot in Rio vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS geklagt [1].
Der CAS bestätigte die Entscheidung des Ruder-Weltverbandes FISA: 17 russische Sportler bleiben außen vor. Auch beim russischen Gewichtheber-Team wies der Sportgerichtshof den Einspruch gegen die vom Weltverband IWF ausgesprochene Sperre ab. Einen Teilerfolg konnten die russischen Schwimmer verbuchen – der CAS leitete die Entscheidung an das Internationale Olympische Komitee (IOC) weiter und das gab grünes Licht für Wladimir Morosow und Nikita Lobinzew.
Nach dem Tauglichkeits-Check durch IOC und CAS kann Russland nun mit einer stattlichen Mannschaft in Rio rechnen. Mehr als 250 Sportlerinnen und Sportler dürfen wahrscheinlich um Medaillen kämpfen. Im olympischen Dorf wurde die russische Fahne bereits gehisst. Russische Athleten in den Sportarten Boxen, Judo, Schießen, Tennis, Handball und Volleyball erhielten als erste die Starterlaubnis. Die CAS-Entscheidungen leiten das Ende eines geradezu absurd anmutenden Theaterstücks ein, in dem Sport zur Nebensache geriet.
Nachdem der McLaren-Bericht der Welt-Antidoping-Agentur WADA am 18. Juli Entsetzen über das Ausmaß des „russischen Staatsdopings“ ausgelöst hatte, war von Sportlern, Anti-Doping-Agenturen und Doping-Experten erwartet worden, dass das IOC das komplette russische Olympia-Team sperren würde.
IOC verzichtet auf kompletten Bann und setzt auf Untersuchungskommissionen
Zu einem kompletten Bann mochten sich die führenden Olympier aber nicht durchringen: Am 24. Juli beschloss das IOC in einer Telefonkonferenz, doch nicht das komplette russische Team auszuschließen, das sei Sache der einzelnen Verbände. Damit reichte das Komitee um Präsident Thomas Bach den Schwarzen Peter an die Weltverbände weiter. Darüber hinaus entschied sich das IOC, WADA-Sonderermittler Richard McLaren finanziell zu unterstützen, und gründete zudem 3 Arbeitsgruppen, die sich mit dem Dopingkomplex befassen sollten:
Eine 5-köpfige Disziplinarkommission untersucht die Verantwortung des russischen Sportministeriums.
Eine zweite Kommission soll den systematischen Betrug bei den Winterspielen 2014 in Sotschi aufarbeiten.
Und eine 3-köpfige Disziplinarkommission überprüft die Empfehlungen der Weltverbände russischer Sportler.
„Bachs Bankrotterklärung im Kampf gegen Doping“ nennt der ARD-Doping-Experte und Sportjournalist Hajo Seppelt die IOC-Entscheidung in einem Kommentar. Die Botschaft des IOC sei: „Seht her, ihr könnt noch so schlimm betrügen, ob mit Hormoncocktails oder Blutdoping – trotzdem, herzlich Willkommen bei Olympia.“
Der IOC-Entscheidung fällt auch Whistleblowerin Julija Stepanowa zum Opfer. Der Weltleichtathletikverband IAAF hatte Stepanowa ein internationales Startrecht in Aussicht gestellt, doch das IOC-Komitee wollte sie auch unter neutraler Flagge nicht dabei haben und sprach ihr „die ethische Eignung für einen Olympia-Start“ ab. Hintergrund war die IOC-Entscheidung, bereits einmal gedopte russische Athleten generell von Olympia auszuschließen. Mit einer Eilentscheidung hat der CAS jetzt diese Entscheidung gekippt und Einzelfallprüfungen durch die Verbände angeordnet. Auch Whistleblowerin Stepanowa könnte profitieren und so vielleicht doch noch in Rio starten.
Hajo Seppelt kritisiert, dass – geht es nach dem IOC – „ausgerechnet Julija Stepanowa, die Sportlerin, die mit ihren mutigen Enthüllungen das Dopingsystem ihrer Heimat ins Wanken brachte, nicht zu Olympia darf. „Die fatale Botschaft ist: Wer über Doping auspackt, wird bestraft.“ Seppelt wertet die IOC-Entscheidung nicht nur als eine Niederlage für den Kampf gegen Sportbetrug, sondern als „weiteren Sargnagel für die Glaubwürdigkeit des IOC und seines Präsidenten Thomas Bach“.
Ausschluss der Leichtathleten war der Auftakt
Immer neue Doping-Meldungen, Ermittlungen und Vorwürfe hatten schon seit Monaten die Vorfreude auf Rio getrübt. Der CAS hatte bereits am 21. Juli die Sammelklage der russischen Leichtathleten auf eine Olympiateilnahme abgewiesen. Damit hatte der Sportgerichtshof das Urteil des Weltleichtathletikverbandes IAAF vom 17. Juni bestätigt, nachdem die Welt-Anti-Doping-Agentur WADA ein flächendeckendes systematisches Doping in der russischen Leichtathletik belegt hatte.
Wegen des flächendeckenden Dopingsystems in Russland hatte der Weltleichtathletikverband alle russischen Athleten zunächst am 13. November 2015 von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen und auch den russischen Leichtathletik-Verband RusAF am 13. November 2015 wegen massiver Dopingverfehlungen suspendiert.
68 russische Leichtathleten und das Russische Olympische Komitee hatten den CAS angerufen, um ihren Ausschluss von den Sommerspielen in Rio doch noch abzuwenden. Der CAS prüfte in dem Berufungsverfahren, ob die IAAF bei der Suspendierung auf Grundlage der Verbandsregeln korrekt entschieden hatte oder nicht. Am 4. Juli wurde das Schiedsgerichtsverfahren offiziell eröffnet.
Sportrechtler Dr. Michael Lehner, Heidelberg, hatte das CAS-Urteil zu den Leichtathleten nicht überrascht: „Im Grunde genommen gab es ja bereits eine Vorentscheidung.“ Es sei zu erwarten gewesen, dass sich der CAS nicht in die Entscheidung des IOC einmische. Die jetzige Entscheidung sei „final and binding“, wenngleich die Athleten theoretisch bis vor das Schweizer Bundesgericht in Revision gehen könnten, so Lehner auf Nachfrage von Medscape.
„Einen vergleichbaren Fall, in dem ein ganzer Verband suspendiert worden ist, gab es bislang so in der Sportgeschichte noch nicht“, bewertete auch Hajo Seppelt, der u.a. in Russland recherchierte und entscheidend dazu beigetragen hat, den Doping-Skandal aufzudecken, das Urteil.
Nach McLaren-Bericht: Fassungslosigkeit über das russische Staatsdoping
Am 18. Juli hatte die Welt-Antidoping-Agentur WADA ihre Untersuchung zu Dopingvergehen abgeschlossen und von „Staatsdoping“ in Russland gesprochen. Verschwundene Blutproben, um gedopte Sportler zu schützen, seien gängige Praxis in Russland, so die WADA. Mindestens 643 positive Dopingproben von russischen Athleten seien zwischen 2012 und 2015 in den Analyselabors in Moskau und Sotschi „verschwunden" – und dann negativ gewesen. Der leitende kanadische Staatsanwalt Richard McLaren nennt die Belege in seinem 97-seitigen Untersuchungsbericht „zahlreich und gravierend“.
Tausende Daten und Dokumente wurden ausgewertet, gelöschte Dateien wiederhergestellt. Zentraler Akteur des Staatsdopings ist das russische Sportministerium, das Manipulationen im Moskauer Doping-Labor geleitet, kontrolliert und überwacht habe. Anlass für den McLaren-Bericht waren die Vorwürfe, dass bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 Dopingproben russischer Sportler manipuliert und positive Tests vertuscht worden seien. Der ehemalige Chef des russischen Doping-Kontrolllabors, Grigori Rodschenkow, hatte die Affäre ins Rollen gebracht und von massivem Betrug im Zuge der Sotschi-Spiele berichtet. Russlands Präsident Wladimir Putin kündigte an, mehrere Funktionäre vorerst zu sperren.
Nach der Veröffentlichung des McLaren-Reports hatte die WADA das IOC noch am 18. Juli aufgefordert, Russland für Rio zu sperren. Deutliche Worte fand auch Dr. Andrea Gotzmann, Vorstandsvorsitzende der deutsche Nationalen Anti-Doping Agentur in ihrem Statement. „Es sind erschütternde Fakten, die der Bericht offenlegt und belegt. Das Anti-Doping-System wurde in betrügerischer Absicht massiv unterlaufen", sagt Gotzmann. „Der McLaren-Report lässt nur einen Schluss zu: Die NADA fordert das Internationale Olympische Komitee auf, dafür zu sorgen, dass russische Sportlerinnen und Sportler nicht zu den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro zugelassen werden. So hart ein Ausschluss auch ist, es geht um die fundamentalen Werte und letztendlich um die Glaubwürdigkeit des Sports insgesamt. Der Schutz der ehrlich agierenden Athletinnen und Athleten muss oberste Priorität haben, sonst werden alle Anstrengungen hierzu ad absurdum geführt."
IOC kündigt erst „härtestmögliche“ Sanktionen an und rudert dann zurück
Zusammen mit weiteren Nationalen Anti-Doping-Organisationen, u.a. USA, Kanada, Schweiz, Österreich, Norwegen und der iNADO (Institute of National Anti-Doping Organisations), wurde am 18. Juli der Ausschluss aller russischen Athletinnen und Athleten vom IOC gefordert. Dies wird in einem gemeinsamen Schreiben an IOC-Präsident Bach unterstrichen. Der reagierte laut Sport1 „entsetzt“ und kündigte „härteste Sanktionen“ an.
Das IOC hatte in einer ersten Stellungnahme am 18. Juli „die härtestmöglichen Sanktionen gegen Einzelpersonen oder Organisationen" angekündigt. Nach einer Telefonkonferenz der 15-köpfigen IOC-Exekutive einen Tag später ruderte das Komitee zurück und gab bekannt, zunächst die Entscheidung des CAS abwarten zu wollen.
Das IOC beschloss stattdessen einige Sofortmaßnahmen. Neben der Einrichtung einer Disziplinarkommission, die sich mit den Vorfällen beschäftigen soll, wirken der vorläufige Verzicht auf IOC-Veranstaltungen in Russland und ein Stopp der Planungen für die Europaspiele 2019 aber eher symbolisch. Dafür sollen laut IOC nun alle russischen Medaillengewinner von Sotschi erneut getestet werden.
Bislang hatte sich das IOC eher moderat gegenüber Russland gezeigt. Bach hatte vor der Veröffentlichung des McLaren-Berichts gesagt, das IOC müsse die richtige Balance zwischen kollektiver Verantwortung und individueller Gerechtigkeit finden. So könne man beispielsweise einen Badminton-Spieler nicht für Manipulationen eines Offiziellen oder eines Laborleiters bestrafen. Formell müssten die internationalen Sportverbände in jeder Sportart eine Entscheidung treffen.
Whistleblowerin Stepanowa: Ohne sie hätte der Skandal nicht aufgedeckt werden können
Sylvia Schenk von Transparency International forderte im Handelsblatt „umfassende Konsequenzen“. Die ehemalige Leichtathletin kritisiert, dass es die WADA versäumt habe, „neben den eigentlichen Anti-Doping-Kontrollen risikobasiert ein Compliance-System für das Umfeld des Spitzensports aufzubauen und auch investigativ gegen Verbände, Funktionäre, Labore usw. vorzugehen." Schenk vermisst eine Null-Toleranz-Politik im nationalen und internationalen Sport, es fehle an wirksamem Schutz für Whistleblower, die wie im Fall Russland das Aufdecken von Missständen ins Rollen bringen.
Schenk weiter: „Jetzt lediglich den Ausschluss der russischen Athleten von den Spielen in Rio zu fordern, ohne Konsequenzen auch für russische IOC-Mitglieder und sonstige Funktionäre, wäre eine unzureichende Reaktion." Es genüge auch nicht, lediglich an Russland ein Exempel zu statuieren: „Es sind weitergehende Maßnahmen zur weltweiten Überprüfung des Anti-Doping-Systems und die Entwicklung grundlegend neuer Maßnahmen nötig."
Leichtathletin Stepanowa hatte ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um das russische Staatsdoping zu enthüllen. Sie ist mit Witali Stepanow, einem ehemaligen Angestellten der russischen Anti-Doping-Agentur RUSADA, verheiratet. Beide berichteten 2014 in der ARD-Dokumentation „Geheimsache Doping – Wie Russland seine Sieger macht“ von Hajo Seppelt ausführlich über systematisches Doping im russischen Sport. Nach den Doping-Berichten verließ das Ehepaar Russland; es soll sich in den USA aufhalten. Stepanowa hatte der WADA Tonband- und Videoaufnahmen zukommen lassen und damit ein Dopingsystem aufgedeckt, das bis in die höchsten politischen Kreise, selbst bis ins Sportministerium reichte und vom Geheimdienst organisiert wurde.
Dass das IOC zwar die Doping-verseuchten russischen Verbände davon kommen ließ, Stepanowa aber keine Starterlaubnis einräumte, ist kein gutes Signal für andere Whistleblower. Die Entscheidung hat nach Ansicht Stepanowas eine fatale Signalwirkung. „Was das IOC sagt, ist: Wenn du betrügst, aber Sachen ändern möchtest, dann lass es besser sein. Betrüge weiter, ändere nichts, versuche es auch erst gar nicht". Sie fügt hinzu: „Ich denke nicht, dass dies die Botschaft ist, die eine ethische Organisation vermitteln will."
Ohne Stepanowas Hilfe hätte der Skandal gar nicht aufgedeckt werden können, betont Seppelt. „In der Öffentlichkeit wird geglaubt, dass in Laboren nach allen Substanzen gesucht wird, die auf dem 'Doping-Markt' sind. Das ist so nicht richtig. Die Labore suchen nach den von den Organisationen beauftragten Substanzen. Wenn Labore nicht nach allen Substanzen suchen, weil sie dazu nicht beauftragt wurden, dann finden sie eben auch nicht alles“, erklärt Seppelt. Hinzu kommt, dass es eine Reihe von Substanzen und verbotenen Methoden gebe, die analytisch bisher gar nicht oder nur sehr schwer nachweisbar seien.
Heftige Kritik am IOC und insbesondere an Thomas Bach
Deutliche Worte findet die Nationale Anti-Doping-Agentur (NADA) zur IOC-Entscheidung, doch nicht das komplette russische Team auszuschließen. Sie teilt mit: „Die NADA ist enttäuscht von der Entscheidung des IOC. Die NADA hat sich ein klares Signal für den sauberen Sport gewünscht, das ausgeblieben ist. Die Entscheidung lässt leider viele Fragen offen und schwächt dadurch das Anti-Doping-System.“ Darüber hinaus füge die Entscheidung, Julija Stepanova das Startrecht für Rio zu verwehren, dem Whistleblower-System Schaden zu, betont die NADA.
Auch die Welt-Antidoping-Agentur bezieht klar Stellung: „Die WADA ist enttäuscht, dass das IOC unsere Empfehlungen, die auf den Ergebnissen von McLaren basierten, nicht beherzigt hat“, so WADA-Präsident Craig Reedie. „Der McLaren-Report hat – ohne begründbaren Zweifel – ein staatliches Dopingprogramm enthüllt, das die Prinzipien des sauberen Sports untergräbt“, so Reedie. Und bezogen auf Stepanowa betont Olivier Niggli, Generaldirektor der WADA: „Wir haben Julijas Wunsch, am Wettkampf als unabhängige Athletin teilzunehmen, nach Kräften unterstützt. Sie war beherzt und uns behilflich dabei, den größten Dopingskandal aller Zeiten aufzudecken.“ Niggli fügte hinzu, dass die WADA sehr besorgt sei, über das Zeichen, das der Ausschluss Stepanowas künftigen Whistleblowern sende.
Kein Blatt vor den Mund nimmt auch Diskuswerfer Robert Harting, Olympiasieger und mehrfacher Europa-und Weltmeister. Er schäme sich für Bach, so Harting auf Sport 1. Er fährt fort: „Ich stehe ihm mit tiefer Enttäuschung gegenüber". Nach der Entscheidung des IOC mit Bach an der Spitze sei für Harting ein Stück weit die „Welt untergegangen“: „Und ich kann das eigentlich nicht verstehen."
Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, hält die Entscheidung für problematisch: „ Hier entsteht leicht der Eindruck, dass politische Rücksichtnahmen höher gewichtet worden sind als die Frage der Glaubwürdigkeit des Sports". Mit dem fehlenden Startrecht für Julija Stepanowa habe das IOC „eine große Chance verpasst, ein Zeichen im Kampf gegen Doping zu setzen“. Prokops Einschätzung nach verstößt der „ zwingende Ausschluss von Sportlern, auch nach Ablauf ihrer Dopingsperren“ gegen die Gleichbehandlung. Sportler anderer Nationen, die ihre Sanktion verbüßt haben, wie etwa der US-Sprinter Justin Gatlin, dürfen in Rio de Janeiro starten.
REFERENZEN:
1. Internationaler Sportgerichtshof CAS, Pressemitteilung vom 3. August 2016
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Rund 250 russische Athleten starten in Rio – „eine große Chance, ein Zeichen im Kampf gegen Doping zu setzen, wurde verpasst“ - Medscape - 5. Aug 2016.
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