Im Februar erfuhr Inge Dekker, dass sie an Gebärmutterhalskrebs erkrankt war. Im März unterzog sie sich einer Operation. Im Mai nahm die niederländische Schwimm-Weltmeisterin und Staffel-Olympiasiegerin von 2008 ihr Training wieder auf. Einen Monat später war Dekker schon wieder bei Wettkämpfen zu sehen. Nun stehen für die 30-Jährige die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro an.

PD Dr. Freerk Baumann
Spitzensport trotz einer gerade erst überstandenen Krebserkrankung? Wird der vermutlich noch geschwächte Körper dadurch nicht überfordert? Für den Leiter der Arbeitsgruppe „Bewegung, Sport und Krebs“ an der Deutschen Sporthochschule Köln, PD Dr. Freerk Baumann, ist diese Frage nicht leicht zu beantworten. „Erst einmal ist es natürlich ein überaus positives Signal, auch für andere Krebspatienten, dass eine so schnelle Rückkehr in den Leistungssport überhaupt machbar ist“, sagt er gegenüber Medscape. „Es zeigt, dass zumindest manche Menschen nach einer Tumorerkrankung rasch zu ihrer alten Leistungsfähigkeit zurückfinden können.“
Ob Dekkers frühzeitiges und intensives Training ihrer körperlichen Gesundheit förderlich ist, vermag Baumann allerdings nicht mit Bestimmtheit zu sagen. „Hochleistungssport ist kein Gesundheitssport“, erklärt der Sportwissenschaftler, der sich auf die Rehabilitation von Krebspatienten spezialisiert und zu diesem Thema auch ein Buch geschrieben hat. Das Werk mit dem Titel „Die Macht der Bewegung“ zeigt auf, wie der Körper nach einer schweren Erkrankung durch Sport neue Kraft gewinnen kann. Seinen eigenen Patienten empfiehlt Baumann daher auch in der Regel, Sport zu treiben. „Man kann die Frage, wie viel Sport für einen Menschen nach einer Krebserkrankung gut ist, allerdings nicht pauschal beantworten, sondern muss immer den individuellen Hintergrund mit in Betracht ziehen“, sagt er.
Bisherige Publikationen liefern uneinheitliche Ergebnisse
Die Studienlage zu diesem Thema ist eher dünn. Aussagekräftige Untersuchungen zu der Frage, ob Spitzensport im Anschluss an eine Krebserkrankung der Gesundheit förderlich sein kann oder ihr im Gegenteil eher schadet, gibt es nicht. Ebenso wenig ist bekannt, ob Hochleistungssport vor bösartigen Tumoren schützt oder dem Entstehen von Krebs sogar Vorschub leisten kann. Bisherige Publikationen zu dieser Fragestellung liefern uneinheitliche Ergebnisse.
So konnten eine finnische und eine norwegische Studie zwar zeigen, dass das Krebsrisiko bei den Weltklassesportlern beider Länder gegenüber dem Risiko der Normalbevölkerung vermindert war. Das allerdings könnte auch am gesünderen Lebensstil der Athleten liegen, die sich im Allgemeinen besser ernähren und höchstens vereinzelt rauchen. In der finnischen Studie zum Beispiel, die im Jahr 2000 im International Journal of Sports Medicine veröffentlicht worden ist, erkrankten deutlich weniger Sportler an Nieren- oder Lungenkrebs, während die Unterschiede bei anderen Krebsarten sehr viel geringer ausgeprägt waren [1]. Darüber hinaus konnten die Forscher um den Epidemiologen Prof. Dr. Eero Pukkala vom finnischen Krebs-Register feststellen, dass beispielsweise Hürdenläufer ein signifikant höheres Risiko haben, ein Knochen- oder Weichteilsarkom zu entwickeln.
Auch die norwegische Studie eines Autorenteams um Dr. Trude Eid Robsahm vom Krebs-Register von Norwegen, die 2010 im Fachblatt Cancer Causes & Control publiziert wurde, lässt erkennen, dass das Krebsrisiko bei Topathleten sowohl von der Sport- als auch von der Krebsart abhängt [2].
Auch Doping wirkt sich auf Tumorerkrankungen aus
„Untersuchungen dieser Art sind aber ohnehin methodisch sehr schwierig“, sagt der Kölner Sportwissenschaftler Baumann. „Im Hochleistungssport spielt Doping eine Rolle, und wir wissen, dass Doping maligne Erkrankungen begünstigen kann.“ Somit sei es in der Regel schwer zu unterscheiden, ob tatsächlich der extreme Sport oder doch eher das Doping das Krebsrisiko erhöhe. Außerdem müsse man Menschen für derlei Studien über Jahrzehnte hinweg beobachten, doch „früher gab es ganz andere Dopingvorschriften als heute“, so Baumann.
Auch bei dem ehemaligen Radrennprofi Lance Armstrong, dem im Jahr 2012 wegen Dopings sämtliche Titel, die er seit August 1998 gewonnen hatte, aberkannt worden sind, war im Oktober 1996 Krebs festgestellt worden. Hodenkrebs im fortgeschrittenen Stadium lautete damals die Diagnose. Wie in seiner Biographie in Wikipedia zu lesen ist, sollen sich zu diesem Zeitpunkt bereits Lymphknotenmetastasen im Bauchraum und in der Lunge sowie 2 Tumore im Gehirn gebildet haben. 2 Operationen, bei denen unter anderem der rechte Hoden entfernt wurde, und eine 4 Zyklen beinhaltende Chemotherapie konnten die Erkrankung besiegen.
Armstrong entschied sich damals gegen die gängige Chemotherapie PEB mit Cisplatin, Etoposid und Bleomycin. Da PEB eine Verringerung der Lungenkapazität bewirken kann, wäre in diesem Fall eine Fortsetzung seiner Radsportkarriere unmöglich gewesen. So entschloss sich Armstrong, die im Behandlungszeitraum wesentlich unangenehmere Chemotherapie VIP mit Vincristin, Ifosfamid und Cisplatin durchführen zu lassen, die anders als PEB aber keine Auswirkungen auf seine langfristige Leistungsfähigkeit hatte.
Vor allem die Art des Krebsleidens ist entscheidend
„Ob ein Sportler – so wie Lance Armstrong oder Inge Dekker – nach einer überstandenen Krebserkrankung zu alter Stärke zurückfinden kann, hängt von vielen Faktoren ab“, sagt Baumann. Zum einen ist natürlich die Art des Krebsleidens entscheidend. Bei einem Zervixkarzinom, insbesondere wenn es früh erkannt und operativ behandelt wird, sind die Chancen für eine schnelle Regeneration sehr viel höher als beispielsweise bei einem Pankreaskarzinom. Auch die unterschiedlichen medizinischen Therapieformen und, laut Baumann, nicht zuletzt die eigene Einstellung spielen eine wichtige Rolle.
Die modernen Therapien haben heute im Schnitt sehr viel weniger langfristige Nebenwirkungen als solche, die vor einigen Jahren oder gar Jahrzehnten üblich waren. „Welche der verschiedenen Therapieformen – also die 3 klassischen Säulen Operation, Chemo- und Strahlentherapie sowie die Antikörper-, Immun- und Anti-Hormon-Therapie – die körperliche Leistungsfähigkeit am stärksten beeinträchtigen, ist schwer zu beurteilen“, so Baumann.
Allerdings gibt es dem Kölner Sportwissenschaftler zufolge einige Behandlungsmethoden, bei denen intensives Training für einen gewissen Zeitraum nicht zu empfehlen ist. „Bei Brustkrebs etwa können manche Chemotherapien, insbesondere in Kombination mit dem Antikörper Herceptin, Herz-Rhythmus-Störungen hervorrufen, die anstrengendes Sporttreiben unmöglich machen“, sagt Baumann. „Oder wenn unter einer Leukämie-Behandlung die Zahl der Thrombozyten stark zurückgeht, ist moderate bis anstrengende körperliche Aktivität für die Genesung ebenfalls eher kontraproduktiv.“ Während einer Chemotherapie hingegen könnten Patienten heutzutage bei Ausschluss von Kontraindikationen durchaus moderate bis anstrengende sportliche Tätigkeiten durchführen – auch wenn das Immunsystem in der Regel in diesem Zeitraum noch geschwächt ist.
Der psychische Effekt von Sport ist nicht zu unterschätzen
„Manche Krebspatienten fragen uns, ob und wann sie wieder einen Marathon laufen können“, berichtet Baumann. Wenn keine allgemeinen Kontraindikationen vorliegen, gibt der Wissenschaftler, der selber von Zeit zu Zeit an einem solchen Lauf teilnimmt, seinen Patienten dann meist recht schnell grünes Licht. „Eines ist klar“, sagt er: „Gesund ist ein Marathon nie – weder für die Knochen, noch für die Gefäße.“ Doch für die Psyche sei ein erfolgreich absolvierter Lauf stets ein Riesenerfolg. „Und dieser Effekt ist nicht zu unterschätzen.“
Körperliche Erfolge tragen laut Baumann entscheidend zur Krankheitsbewältigung bei. „Es muss gar nicht der Leistungssport sein“, betont der Wissenschaftler. Für viele Patienten seien auch schon ein Spaziergang oder eine bewältigte Treppe ein großer Erfolg. „Und für Frau Dekker“, sagt Baumann, „ist die Teilnahme an Olympia garantiert ein unglaublich starkes Signal dafür, dass nach der Krankheit ein neues Leben beginnt, das an das alte anknüpfen kann.“
REFERENZEN:
1. Pukkala E, et al: Int J Sports Med 2000;21:216-220
2. Robsahm TE, et al: CCC 2010;21;1711-1719
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Diesen Artikel so zitieren: Erst Krebs, dann Olympia – „Manche Krebspatienten fragen uns, ob und wann sie wieder einen Marathon laufen können“ - Medscape - 4. Aug 2016.
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