Meinung

Mängel in der ambulanten Pflege: „Die Organisation sollte proaktiv werden“

Sabine Ohlenbusch

Interessenkonflikte

3. August 2016

Barbara Stutzke

Die Pflegereform befindet sich mitten in der Umsetzung. Skandale gerade bei ambulanten Pflegediensten zeigen auf, dass Betrug mit großen Ausmaßen innerhalb des derzeitigen Systems möglich ist. Deshalb bleibt eine wesentliche Frage rund um die Pflege: Wie können Hausärzte und Angehörige feststellen, wenn Pflegefehler trotz hoher Kosten passieren? Nur mit viel Mühe, sagt Barbara Stutzke. Sie arbeitet seit über 20 Jahren als Beraterin im Gesundheitswesen, und unterstützt das Startup Lindera, das die Qualität der Pflege in Deutschland verbessern möchte.

Medscape: Ambulante Pflegedienste stehen immer wieder in der Kritik. Was sind die häufigsten Beschwerden – und sind sie berechtigt?

Stutzke: Angehörige beschweren sich über Unpünktlichkeit der Pflegedienste, häufig wechselnde Mitarbeiter, unvollständige Pflegedokumentationen. Wenn sich in der Dokumentation falsche Angaben finden, dann reicht dies von Nachlässigkeit über Vorsatz bis hin zu Betrug. Wenn zum Beispiel der oder die Gepflegte kontinuierlich an Gewicht abnimmt, aber dokumentiert ist, dass die Nahrungsaufnahme ausreichend ist, liegt entweder ein Organschaden vor oder die Angaben sind falsch. Auch der Zeitdruck auf die Pflegenden ist ein großes Problem.

Medscape: Wodurch ergibt sich dieser Zeitdruck aus Ihrer Sicht?

Stutzke: Die Pflegedienste sind getaktet, weil den Aufgaben Punkt- und Zeitwerte zugeordnet sind. Damit ergibt sich immer die Frage, warum eine einzelne Aufgabe mehr Zeit erhalten sollte. Dies trifft aber heute auf den gesamten medizinischen Bereich zu: Auch Ärzte sind getaktet. So lange die Angestellten nicht nach Leistung bezahlt werden und qualitativ hochwertige Leistungen nicht zu zusätzlichen Anreizen außerhalb des regulären Vergütungssystems führen, werden auch nur Wenige solche  Leistungen erbringen. Es wäre wichtig von außen festzustellen, wenn ein Mensch keine gute Pflege erhält. Dazu müsste zuerst festgelegt sein, was gute Pflege bedeutet. Wo wird sie definiert und vor allem wer definiert sie? Das Vergütungssystem?

Medscape: Halten Sie die Vergütung für gute Leistung für ausreichend?

Stutzke: Natürlich muss unser System für gute Leistungen bezahlen. Aber schon jetzt fließen unglaubliche Summen in die Pflege. Grundsätzlich sollen dadurch Leistungen bezahlt werden, aber die Kontrolle dieser Leistungen erfolgt nicht. Deshalb kann ich Ihnen über die Kosten der Leistungen Auskunft geben, aber nicht über ihre Qualität.

 
Zuerst muss festgelegt werden, was gute Pflege bedeutet.
 

Grundsätzlich denke ich, dass nicht die Höhe der Vergütung kritisch zu sehen ist, sondern vielmehr der Grundsatz des Systems, alles zu takten. Wobei das Raster der Vergütung für Pflegekräfte extrem unterschiedlich ist. Es gibt große Abweichungen zwischen stationärer und ambulanter Pflege sowie zwischen öffentlichen, gemeinnützigen und privaten Trägern.

Medscape: Wenn der Arbeitslohn der Pflegenden nicht das eigentliche Problem darstellt, wodurch sollen dann zusätzliche Anreize entstehen?

Stutzke: Die Anreize sollten nicht bei den Pflegenden selbst, sondern bei den Trägern greifen, weil diese die Leistungen ihrer Angestellten dann besser überprüfen werden, sobald sie dafür eine extrabudgetäre Vergütung erhalten. Auch wenn die einzelnen Pflegekräfte die Leistungen erbringen, steht eine Organisation hinter ihnen. Wenn zusätzliche finanzielle Mittel die Qualität verbessern sollen, indem einfach die Kräfte eine höhere Vergütung erhalten, wird dies nie den gewünschten Effekt zeigen. Zusätzliche Einkünfte an den Träger für gute Qualität (Pay-for-Performance) kann dieser aber durchaus an seine Angestellten weiterreichen. Im Moment ist es nicht möglich, sie für höherwertige Leistungen besser zu entlohnen, da faktisch immer nur ein bestimmter Betrag für eine Aufgabe vorgesehen ist. Das Volumen steht fest und wird verteilt.

Medscape: Wie kann einer schlechten Pflege vorgebeugt werden?

Stutzke: Ich glaube, es gibt keine gute Lösung für die Pflege. Wer nicht zu Hause pflegt und sich aufopfert, kann leider  gegenwärtig keine gute Pflege erwarten. Grundsätzlich sollte die Pflege geplant werden, bevor sie notwendig wird, gerade wenn eine Pflege zu Hause nicht möglich ist. Pflegedienste vor Ort kann man ausprobieren. Hilfreich ist es auch, beim Hausarzt nachzufragen, von welchen Erfahrungen andere Patienten berichten. Die Parteien schließen dann einen Pflegevertrag ab, der auch wieder kündbar ist. Nur tun dies leider die Wenigsten. Ich glaube auch, dass die Auseinandersetzungen mit einem ambulanten Pflegedienst nicht einfach sind. Angehörige wollen vermeiden, tiefere Einblicke zu nehmen, zu kontrollieren oder zu kritisieren. Es gibt hier eine große Scheu vor Diskussionen. Diese sind aber wichtig. Angehörige sollten nichts einfach hinnehmen. Schließlich ist das Wohl eines Menschen davon abhängig. Ärzte müssten hier mehr Unterstützung bieten.

Medscape: Wie können Ärzte die Angehörigen denn dabei unterstützen?

Stutzke: Ärzte müssten eingreifen und Anordnungen treffen, Fehler konstatieren und Bescheinigungen darüber ausstellen. Die Medikation liegt ohnehin in ihren Händen. Aber wenn auch ihre Dokumentation neue Wege ginge, sie zum Beispiel per Email Angehörige automatisch auf den neuesten Stand brächten, wären diese besser informiert. Es ginge alles schneller, zügiger. Es wäre auch möglich, Daten zwischen Pflegedienst und Arzt auszutauschen, zum Beispiel mit einer App auf tragbaren Geräten. Hier gibt es im Moment selten eine Verbindung. Jeder arbeitet unabhängig in seinem Bereich, obwohl diese zusammenhängen.

Medscape: Welche medizinischen Probleme entstehen, wenn Pflege nicht wünschenswert verläuft?

Stutzke: Hygiene ist ein kritischer Punkt – Mängel auf diesem Gebiet können verheerende Folgen haben. Infizierte Wunden der Haut können große gesundheitliche Gefahren bergen. Im ambulanten Bereich ist es wichtig, dass die Pflegekräfte Handschuhe tragen, da sich Infektionen sonst leicht ausbreiten können. Auch soziale Faktoren wie Sprache müssen trainiert werden, damit eine Kommunikation mit der Außenwelt möglich bleibt. Isolation ist sonst unvermeidlich. Gewicht, Ernährung und Diabetes sind auch verwandte Themen, die zu überwachen sind.

Medscape: Wer kontrolliert die Qualität? Wer bewertet die medizinische Ebene?

 
Ärzte müssten eingreifen und Anordnungen treffen, Fehler konstatieren und Bescheinigungen darüber ausstellen.
 

Stutzke: Gegenwärtig funktioniert das Qualitätsmanagement über die Dokumentation der Pflegedienste. Ein großer Teil der Zeit für die Pflege vergeht hierbei, denn in der Konsequenz wird die Dokumentation bezahlt. Eine medizinische Überwachung würde ein enges Verhältnis zum Hausarzt voraussetzen. Dieses besteht aber nicht.  Dieser handelt meist nur auf Anforderung der Familie. Ich habe selbst ein pflegebedürftiges Familienmitglied und fahre dann selbst zum Hausarzt, um mit ihm zu sprechen. Die Familie ist in der Verantwortung, damit es ihren Angehörigen gut geht. Alte Menschen haben sonst ja keine Lobby.

Medscape: Welche Lösungsansätze gibt es, die Pflege zu verbessern?

Stutzke: Modelle wie in den Niederlanden oder Dänemark halte ich für wegweisend, wo Netzwerke des Zusammenlebens geschaffen werden. Diese beginnen mit unabhängigen Wohneinheiten und Betreuung in den Gemeinden selbst, in denen die Pflegebedürftigen leben. Das bedeutet auch einen Pflegedienst aus der Region zu wählen. Vom ersten Tag des Pflegebedarfes ist dieser vor Ort und gestaltet die Entwicklung der Pflege mit. In Deutschland bringen sich diese häufig nicht selbst ein, in die Gemeindestruktur beispielsweise. Eine Gemeindeschwester könnte hier ein Verbindungsglied sein. In Dänemark erhält jeder ältere Mensch über 75 Jahre zweimal pro Jahr einen Pflegebesuch. So wird überwacht, wann ein Eingreifen notwendig wird. Auch die deutsche Organisation der Pflege sollte proaktiv werden, anstatt lediglich Pflege „abzuarbeiten“.

Medscape: Vielen Dank für das Gespräch.

 

Kommentar

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