Verschläft das Gesundheitssystem den Anschluss an die digitalisierte Welt, während die Patienten schon längst angekommen sind? Die Versorgungslandschaft in Deutschland müsse sich der Digitalisierung in der Medizin viel weiter öffnen. Das betonten die Referenten auf der 12. Nationalen Branchenkonferenz Gesundheitswirtschaft 2016 in Rostock immer wieder. Das Thema der Tagung: „Gesundheit 2016 - die Gesundheitswirtschaft in der Digitalen Welt" [1].
„Wir reden über etwas, das es längst gibt, und das längst geschieht", betonte Dr. Peter Langkafel, Geschäftsführer der HCB Healthcubator GmbH, Berlin. „Die Frage ist nur, ob es mit uns oder gegen uns oder ohne uns geschieht. Jedenfalls werden wir es nicht aufhalten." Langkafel sprach damit auf den Umstand an, dass viele Patienten - während die Kritiker der Gesundheitskarte noch über den Datenschutz streiten -, längst ihre persönlichen Gesundheitsdaten preisgeben.
Digitalisierung wird „explosiv“ sein
„Derzeit zählen wir zum Beispiel 379.000 Gesundheits-Apps und im Jahr 2018 werden wir 1,7 Milliarden Nutzer von Gesundheits-Apps haben", so Peter Vullinghs, Chef der Philips GmbH in Deutschland, Österreich und der Schweiz, in seinem Vortrag. Jeder 5. Deutsche habe inzwischen eine Gesundheits-App auf seinem Smartphone. Die Digitalisierung in der Medizin werde „explosiv" verlaufen, prognostizierte Vullinghs. Für 2060 rechnet er in Deutschland zum Beispiel mit rund 25 Millionen Patienten mit Bluthochdruck und 18 Millionen Übergewichtigen – für den Philips-Chef sind diese Menschen die potentiellen Konsumenten digitaler Gesundheitsangebote wie etwa Online-Monitoring. Deshalb wolle seine Firma „massiv in digitale Gesundheitsprojekte einsteigen."
Letztlich entscheide auch nicht mehr die Politik darüber, welche digitalen Anwendungen in der Patientenversorgung eine Rolle spielen werden, befürchtet Dr. Andreas Meusch,
Direktor des Wissenschaftlichen Instituts für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen (WINEG) der Techniker Krankenkasse, „sondern die Menschen machen es einfach." Die Gefahr dabei: Am Schluss bestimmen die Firmen im Silicon Valley die Richtung", so Meusch, „und nicht mehr Berlin".
Ärzte bleiben misstrauisch
Auf Seiten der Leistungserbringer indessen fehle oft das Interesse an der stürmischen Entwicklung auf dem Markt der digitalen Versorgungsangebote. Ärzte seien traditionell misstrauisch gegenüber der längst gar nicht mehr so neuen digitalen Technik in ihren Praxen. Das sagte der niedergelassene Dermatologe und Präsident des Berufsverbandes der Deutschen Dermatologen, Dr. Klaus Strömer aus Mönchengladbach, in seinem Vortrag. Er stellte das Projekt der digitalen Sprechstunde für Hautarztpatienten vor, das sein Verband und die Techniker Krankenkasse auf die Beine gestellt haben:
Für eine Online-Konsultation beim Hautarzt erhält der Patient einen Code. Damit kann er bei www.patientus.de eine 6-stellige TAN abrufen, mit der er sich dann – ebenfalls über die patientus-Homepage – in die virtuelle Sprechstunde seines Hautarztes einwählen kann.
Über die Webcam an seinem Computer kann der Patient dem Arzt nun seine Hauterkrankung zeigen. „Das System ist natürlich nur bei Bestandspatienten und nur bei bestimmten Anlässen einsetzbar, zum Beispiel bei der Überprüfung einer Wundheilung", sagte Strömer. Die virtuelle Sprechstunde findet über eine Peer-to-Peer-Verbindung statt, am Ende wird die Konsultation vollständig gelöscht.
Das Angebot werde von den Patienten gut angenommen, so Strömer. Aber die Ärzte seien schwer zu überzeugen. „Wir Ärzte sind eben Gralshüter, wir sind rückwärtsorientierte Bewahrer, Sicherheitsfanatiker und Qualitätsfetischisten", erklärte Strömer die Haltung seiner Kolleginnen und Kollegen. Als durchschnittlich 53 Jahre alte „digital immigrants" bewegen sich Ärzte nur ganz langsam in die digitale Welt hinein. „Ihr Argument: Warum soll ich eine Videosprechstunde anbieten, der Laden läuft doch?"
Doch 139 von über 200 Studien belegen, dass Telemedizin in der Dermatologie gut funktioniert. Wenn die Ärzte erst verstanden hätten, wie sehr das stimme, würden sie sie nicht mehr missen wollen, meinte Strömer.
Private Abrechnung könnte Akzeptanz steigern
Eine Umfrage des Hautärzteverbandes hat zudem ergeben, dass auch ein ordentliches Honorar der Akzeptanz auf die Sprünge hilft. „42 Prozent der Kollegen haben Interesse an der Online-Sprechstunde, wenn sie privat abgerechnet werden kann", berichtete Strömer, „nur 13 Prozent, wenn sie als gesetzliche Kassenleistung bezahlt wird."
Klaus Rupp, Leiter des Fachbereichs Versorgungsmanagement der Techniker Krankenkasse, ist offenbar überzeugt, dass Innovationen wie die Hautarzt-Onlinesprechstunde den Patientenbedürfnissen entspricht und helfen kann, die Lücke zwischen konservativen Ärzten und der stürmischen Entwicklung der digitalen Versorgungsangebote zu schließen. „Selektivverträge wie der mit den Hautärzten können Innovationen ins System bringen!"
REFERENZEN:
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Digitalisierung in der Medizin: Beim Patienten längst angekommen, die Ärzte hinken hinterher - Medscape - 1. Aug 2016.
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