Meinung

Mord an Berliner Arzt: „Schwere Aggressionen sind häufiger als viele denken“

Dr. Shari Langemak

Interessenkonflikte

27. Juli 2016

Dr. Florian Vorderwülbecke

Der Mord an einem Berliner Arzt des Universitätsklinikums in Berlin-Steglitz löste nicht nur Trauer und Bedrückung unter medizinischen Kollegen in ganz Deutschland aus, sondern wirft auch viele Fragen auf. Wie kommt es zu einer so schrecklichen Tat? Und warum sind Aggressionen gegenüber Ärzten so häufig? Medscape sprach mit Dr. Florian Vorderwülbecke von der TU München, der im letzten Jahr dazu eine Studie veröffentlicht hat [1].

Medscape: Wie häufig sind Gewaltäußerungen und -taten gegenüber Ärzten in Deutschland?

Dr. Vorderwülbecke: Aus unserer Befragung wissen wir, dass innerhalb von 12 Monaten 60% der weiblichen Hausärzte und 51% der männlichen Hausärzte mindestens einmal beleidigt worden sind. 61% der Kolleginnen und 57% der Kollegen erfuhren innerhalb desselben Zeitraums sogar mittelschwere Aggressionen, wie Bedrohungen oder gewaltätiges Anfassen. Und auch „schwere Aggressionen sind häufiger als viele denken“: 11% der weiblichen Allgemeinärzte und 10% der männlichen wurden angegriffen oder mit einer Waffe bedroht.

Genau hier liegt auch das Problem: Aggressionen treffen das Opfer oft unvorbereitet. Die meisten Ärzte haben die Tat nicht vorhersehen können und treffen dann die falschen Entscheidungen, bzw. reagieren zu spät.

Medscape: Was sind denn die typischen Risikofaktoren für eine Gewalttat gegenüber einem Mediziner?

Dr. Vorderwülbecke: Psychiatrische Stationen und Stationen der Erstversorgung – also Notaufnamen, Rettungsdienste und Hausärzte – sind besonders gefährdet. Besonders bei akuten Fällen wird der Arzt natürlich nicht immer als Freund wahrgenommen – schon gar nicht, wenn es um eine Zwangseinweisung geht. Oder der Patient oder sein Angehöriger fühlen sich falsch behandelt.

 
Aggressionen treffen das Ärzte oft unvorbereitet.
 

Männer sind häufiger Täter als Frauen. Zudem zeigen sich Aggressionen häufiger bei Patienten, die aufgrund unterschiedlicher Ätiologie bewusstseinsverändert sind – beispielsweise bei exzessivem Alkoholkonsum, Medikamenteneinnahme, Drogenkonsum oder einer psychischen Erkrankung.

Medscape: Diese Risikofaktoren schließen viele Patienten mit ein, doch zum Glück wird nur ein kleiner Teil gewalttätig. Gibt es Vorzeichen für einen bevorstehenden Gewaltakt, auf die Ärzte achten sollten?

Dr. Vorderwülbecke: Die Vorzeichen können grundsätzlich sehr unterschiedlich sein. Oft sind Patienten vor einer Gewalttat sehr unruhig und tun sich schwer, stillzusitzen. Andere werden gegenüber Gegenständen aggressiv, feuern zum Beispiel eine Flasche in die Ecke, treten gegen den Papierkorb. Aber ein Gewaltakt kann auch völlig ohne Vorankündigung vorkommen. Zum Beispiel schilderte uns eine Befragte, dass sie komplett ohne Vorankündigung direkt einen Faustschlag ins Gesicht bekommen habe, und sich anschließend nur mühsam aus der Situation retten konnte.

Medscape: Wie rettet man sich denn am besten?

Dr. Vorderwülbecke: Weglaufen ist immer noch die beste Strategie. In so einer Situation nützt der Selbstverteidigungskurs von vor 3 Jahren meist gar nicht. Erlernte Verteidigungsmechanismen lassen sich so adhoc kaum wieder abrufen. Auch die Polizei, die zusammen mit der Bayerischen Kassenärztlichen Vereinigung spezielle Kurse für medizinisches Personal anbietet, rät zur Flucht und zu Schutzmechanismen. Beispielsweise sollte man den Kopf bestmöglich schützen, und so viel Abstand wie möglich schaffen, indem man zum Beispiel Möbelstücke zwischen sich und den Angreifer schiebt.

Medscape: Verteidigungsmittel wie Pfefferspray werden nicht empfohlen?

Dr. Vorderwülbecke: In so einem Moment nützt das Pfefferspray meist nicht. Wir machen in den oben genannten Kursen regelmäßig dazu Übungen mit Pfefferspray-Attrappen, bei denen einer den Angreifer und ein anderer das Opfer spielt. Bis lang hat nur eine Kursteilnehmerin es geschafft, rechtzeitig in die richtige Richtung zu sprühen.

Medscape: Was kann ich tun, noch bevor ich einen Angriff vermute?

Dr. Vorderwülbecke: Am besten, man holt sich noch einen Kollegen mit ins Zimmer, wenn möglich. Ansonsten kann man auch den Sicherheitsdienst oder die Polizei vorab alarmieren, oder Kollegen zumindest Bescheid geben.

Sehr effektiv ist es übrigens, den Patienten freundlich auf seine Unruhe oder Aggressivität anzusprechen und verbal zu deeskalieren – das wird häufig unterschätzt. Dazu muss man sich zuallerst in die Lage des Patienten versetzen, der oft lange im Wartezimmer warten musste, während er selbst in einer Notlage ist oder es zumindest so empfindet. Ich weiß aus eigener Erfahrung – nämlich aus der Ambulanz des Oktoberfestes, dass eine kürzere Wartezeit und Freundlichkeit gegenüber den Patienten Aggressivität deutlich reduzieren kann.

 

REFERENZEN:

1. Vorderwülbecke F, et al: Deutsches Ärzteblatt, 6. März 2015

 

Kommentar

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