Das neue Pflegestärkungsgesetz, dessen Kabinettsentwurf vorliegt, hat bei Vertretern von Behindertenverbänden heftige Kritik ausgelöst [1]. Die Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V., Ulla Schmidt, ist „geschockt" darüber, dass behinderten pflegebedürftigen Menschen bald deutlich weniger Geld zur Verfügung stehen könnte. Es drohe ihnen „Diskriminierung und Ausgrenzung (...). Das können wir nicht akzeptieren!", heißt es in einer Petition der Bundesvereinigung Lebenshilfe.
Das Problem aus Sicht der Behindertenverbände: Das Pflegestärkungsgesetz III legt fest, dass auch die pflegebedürftigen Behinderten, die in Wohngemeinschaften leben, vorrangig nach Leistungen der Pflegeversicherung unterstützt werden sollen und nicht vorrangig nach Leistungen der Eingliederungshilfe. Diese Regelung gilt heute bereits für pflegebedürftige Behinderte, die in Pflegeheimen leben.
Geld nach der Eingliederungshilfe fließt heute immer dann, wenn die behinderten Patienten zum Beispiel Rehabilitation brauchen oder wenn ihre Teilnahme am Arbeitsleben unterstützt werden soll. Solche Leistungen sollen zukünftig nachrangig zu den Pflegeleistungen behandelt werden. Kurz: Pflegebedürftige Behinderte, die ambulant betreut werden, müssen wohl künftig auf den größten Teil ihrer Unterstützung verzichten. In Zahlen: Wenn das Gesetz wie geplant durchkommt, erhalten sie künftig nur noch 266 Euro statt bisher 1.612 Euro, so die Lebenshilfe. Die Lebenshilfe spricht von 500.000 Betroffenen.
Pflegeversicherung sollte den pflegebedürftigen Menschen vorbehalten bleiben
„Damit wird eine Zweiklassengesellschaft geschaffen", kritisiert Dr. Thomas Schneider, Sprecher des Bundesverbandes evangelische Behindertenhilfe e.V. (BeB). „Diejenigen unter den Menschen mit Behinderungen, die einen hohen Unterstützungsbedarf haben, fallen durch. Und diejenigen, die ohnedies weniger Probleme haben, werden gefördert. Wenn die neue Regelung so bestehen bleibt, dann würden die Betroffenen jahrelang und ohne Aussicht auf Eingliederung in ihren Wohngemeinschaften leben müssen." Die Eingliederung sei immer teurer geworden, sagt Schneider zu Medscape, „und nun verweist man die besonders Bedürftigen auf die Pflegeversicherung." Sie solle aber den wirklich alten und pflegebedürftigen Menschen vorbehalten bleiben.
„Pflegebedürftige Menschen mit Behinderung sind Mitglieder der Pflegeversicherung und zahlen Beiträge wie alle anderen auch", betont Ulla Schmidt. „Sie müssen daher auch die gleichen Leistungen bekommen – unabhängig davon, wo sie leben."
Größere Aufgabe für die Kommunen
Zudem führt das Gesetz einen einheitlichen Begriff der Pflegebedürftigkeit ein, er gilt gleichermaßen bei Leistungen der Pflegeversicherung und der Sozialhilfe. Ein Umstand, den der GKV-Spitzenverband begrüßt, im Gegensatz zu den neuen Rechten für Kommunen, die das Gesetz vorsieht. Sie erhalten das Recht, Pflegestützpunkte zu errichten und dürfen Pflegebedürftige, die Pflegegeld erhalten, und ihre Angehörigen beraten, finanziert mit Geld aus der Pflegeversicherung. 5 Jahre lang sollen 60 Landkreise in Deutschland die neue Regelung erproben.
Gernot Kiefer, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes, kritisiert die neuen Perspektiven der Kommunen: „Es kann nicht sein, dass die Kommunen aus den Portemonnaies der Beitragszahler gesponsert werden", so Kiefer. „Vielmehr ist ein abgestimmtes Handeln im Rahmen der jeweiligen Zuständigkeiten notwendig und auch möglich.“ Allerdings mangele es vielfach an der konsequenten Umsetzung der bestehenden Regelungen, weil die Länder zu wenig Geld zur Verfügung stellten, hieß es.
Die Länder indessen begrüßen den möglichen Geldsegen aus den Pflegekassen. „Mit diesem Modellvorhaben eröffnet sich die Möglichkeit einer verbesserten umfänglichen Pflegeberatung durch die Kommunen `aus einer Hand´ und unter Berücksichtigung der örtlichen Pflegestrukturen", wie Dominik Kymion, Sprecher des Niedersächsischen Gesundheitsministeriums zu Medscape sagt. „Der im Zuge der Erprobung geplante Vergleich der Modellkommunen mit Nicht-Modellkommunen wird Aufschluss über die erwartete Stärkung der Beratung und Vernetzung liefern. Und die Ergebnisse der Evaluation dieser Modellvorhaben werden weitere Erkenntnisse erbringen, die zu einer Verbesserung der Beratungsstrukturen beitragen können."
MDK erhält mehr Prüfungsrechte
Außerdem erhalten zukünftig die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) nach den Erfahrungen mit dem jüngst aufgedeckten Betrug durch russische Pflegedienste ein systematisches Prüfrecht. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) wird dem neuen Gesetz zufolge Qualität und Abrechnung aller Pflegedienste prüfen, die ausschließlich Leistungen der häuslichen Krankenpflege im Auftrag der Kassen erbringen.
So darf der MDK stichprobenartig Pflegedienste ebenso prüfen wie Pflegebedürftige, die ausschließlich Leistungen der häuslichen Krankenpflege erhalten. Bei falschen Abrechnungen darf der MDK auch unangekündigt zur Prüfung erscheinen. Diese Regeln gelten für Pflegedienste bereits in der ambulanten Altenpflege. Alle Verdächtigen werden zukünftig unangemeldet kontrolliert werden. Unabhängig von künftigen Verdachtsfällen wird der MDK die Abrechnungen der Pflegedienste regelmäßig zu überprüfen haben.
Schließlich will die Bundesregierung die Länder zu ergänzten Rahmenverträgen verpflichten. Auffällig gewordene Anbieter oder gar kriminelle Pflegedienste sollen nicht einfach unter neuem Namen erneut eine Zulassung erhalten dürfen. „Es darf nicht sein, dass die gesamte Pflegebranche darunter leidet, wenn einzelne Anbieter bewusst falsch abrechnen“, kommentiert Kiefer die neuen Rechte.
REFERENZEN:
1. Kabinettsentwurf des Pflegestärkungsgesetzes III, 21. Juni 2016
Medscape Nachrichten © 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Entwurf des neuen Pflegestärkungsgesetzes: Kritik von Behindertenverbänden, systematisches Prüfrecht für den MDK - Medscape - 27. Jul 2016.
Kommentar