Das Problem falsch positiver Befunde
Medscape: Wo genau liegen denn die Probleme?
Prof. Dr. Dr. Simon: Was ich problematisch finde, ist, dass das System auf der einen Seite ineffizient arbeitet und sich das selber attestiert, und auf der anderen Seite aber die Persönlichkeitsrechte der Sportler extrem eingeschränkt werden. Bei einem Bluttest wird invasiv Blut abgenommen, das heißt, es wird in den Körper des Athleten eingegriffen. Bei Urintests findet eine Inspektion der Geschlechtsteile während des Urinierens statt. Mir wurde schon von Nachwuchskaderathletinnen und -athleten berichtet, dass die Eltern dem gar nicht zugestimmt hätten. Das wären massive Verstöße gegen Persönlichkeitsrechte.
Gleichzeitig ist das System nicht bereit, sauber zu arbeiten. Die Wada protokolliert die Daten nicht korrekt, es gibt keine Transparenz darüber, welche Trainings- und Wettkampfkontrollen mit welchem Endergebnis durchgeführt wurden – das ganze Reporting ist inkorrekt. In so einem System ist es ethisch und moralisch absolut verwerflich, den Athleten mehr als nötig in seinen Grundrechten einzuschränken.
Medscape: Wie könnte man das denn lösen?
Prof. Dr. Dr. Simon: Was wir brauchen, sind Medizinethiker, die dieses ganze System von außen untersuchen und bewerten. Niemand hat je untersucht, was es psychisch mit einem 14-jährigen Mädchen macht, wenn es unter Beschau seiner Geschlechtsteile urinieren muss. Darüber macht sich gar keiner Gedanken. Weder die Eltern, noch die Kinder werden – wie wir Mediziner sagen würden – richtig aufgeklärt.
Medscape: Worüber müssten sie aufgeklärt werden, außer über diese entwürdigende Urintest-Praxis?
Prof. Dr. Dr. Simon: Man müsste ihnen zum Beispiel sagen, wie viele falsch positive Tests es gibt. Jedes biomedizinische Testverfahren hat falsch positive Ergebnisse. Wir wissen aus der HIV-Antikörper-Suchtest-Diagnostik: Dieser im Prinzip sehr zuverlässige Test wird bei einem sehr hohen Prozentsatz von getesteten Personen falsch positiv. Man muss dann einen Bestätigungstest machen, und zwar mit einem anderen Testverfahren.
Die Antidoping-Analytik gibt für keinen einzigen Test einen positiven prädiktiven Wert an – also die Wahrscheinlichkeit, mit der eine positive A-Probe auch wirklich anzeigt, dass sich eine Dopingsubstanz im Körper des Athleten befand. Es wird einfach gesagt, es gebe keine falsch positiven Tests – mit absurden Konsequenzen.
Weltweit wurden 2014 rund 30.000 Tests auf EPO durchgeführt und rund 60 waren positiv. Wenn wir jetzt eine falsch positve Testquote von nur einem falsch positiven auf 500 durchgeführte Tests ansetzen – was im Antikörpernachweis weltrekordverdächtig gut wäre – dann wären 2015 also alle auf EPO positiv getesteten Athleten falsch positiv getestete Athleten gewesen. Dass der Athlet darüber gar nicht aufgeklärt wird, ist schon ein starkes Stück. Denn auf dieser völlig unklaren Basis drohen den Athleten ja berufsrechtliche Konsequenzen – übrigens manchmal auch über ihre sportliche Karriere hinaus. Wer würde beispielsweise einen ehemaligen Sportler einstellen, über den man im Netz nachlesen kann, dass er mal positiv getestet wurde?
Medscape: Das heißt, ein positiver Dopingtest heißt noch nicht, dass der Sportler auch gedopt ist?
Prof. Dr. Dr. Simon: Nein, er gibt nur einen ersten Hinweis. Nicht nur kennen wir den positiven prädiktiven Wert der Testverfahren nicht, wir haben auch ein gewaltiges Problem sowohl mit der Spezifität als auch mit der Sensitivität der Tests. Man müsste ja eine gewisse Anzahl von Athleten gezielt dopen, um herauszufinden, wie sensitiv das Testverfahren tatsächlich ist. Auch um Normblutwerte für ungedopte bzw. gedopte Athleten festzulegen, müssten wir Studien im Athletenkollektiv durchführen. Unsere Spitzenathleten im Ausdauerbereich sind Mutanten bezüglich der ausdauerrelevanten Aspekte im Genom. Dazu gehört auch die Blutneubildung. Das heißt, man kann die Blutwerte eines Athletenkollektivs gar nicht mit denen eines Normkollektivs aus der Bevölkerung vergleichen.
Um Normwerte für einen Blutpass festzulegen, bräuchte ich ein Kollektiv von sicher ungedopten Eliteathleten – und wo bitte soll ich die herbekommen? Ich kann mir doch nie sicher sein. Ich entwickle also dieses Verfahren mit einem möglicherweise nicht manipulationsfreien Kollektiv und teste im Anschluss damit folgende Athletengenerationen, die vielleicht nicht manipulieren, aber auffällig werden, weil sie nicht die vorher festgelegten Normwerte haben. Nach einem positiven Test braucht man eine eindeutige Bestätigung durch ein anderes Testverfahren. Der Antidopingbereich macht das aber außer in Ausnahmefällen nicht. Stattdessen macht man eine B-Probe – mit demselben Testverfahren an der gleichen Probe.
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Diesen Artikel so zitieren: Olympische Spiele: „Die Forderungen des Innenministers sind nur durch Doping zu erreichen“ - Medscape - 27. Jul 2016.
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