Ein ausuferndes Business

Prof. Dr. Dr. Perikles Simon
Foto: Christof Mattes
Skandale wie der um manipulierende russische Leichtathleten haben das Thema Doping wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Es scheint als bekomme die Weltantidopingagentur (Wada) das Problem nicht in den Griff. Immer mehr Athleten stehen im Verdacht zu betrügen. Prof. Dr. Dr. Perikles Simon, Leiter der Abteilung Sportmedizin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, beschäftigt sich seit Jahren mit Doping im Leitungssport.
Medscape: Sie sagten kürzlich in einer Fernsehtalkshow, die kommenden Olympischen Spiele würden die gedoptesten aller Zeiten. Wie kommen Sie darauf?
Prof. Dr. Dr. Simon: Dafür gibt mehrere Gründe: Erstens wissen wir und übrigens auch die Athleten, dass es Dopingverfahren gibt, die sich nicht nachweisen lassen. Wenn ein Athlet also betrügen muss, um mithalten zu können, und es sich leisten kann, dann könnte er das leider tun. Zweitens ist uns nach den aktuellen Skandalen, z.B. der Sperre russischer Leichtathleten, schmerzlich bewusst geworden, dass es systematisches, zumindest systemisches, Doping immer noch gibt. Der Staat greift vielleicht nicht mehr direkt auf die Athleten zu und dopt sie, aber er begleitet das Doping, so wie in Russland. Eine andere Möglichkeit ist, dass sich das Doping gut dezentral innerhalb des Sports etabliert hat – wie in Kenia, wo die Dopingärzte direkt an den Trainingsstätten dransitzen.
Fälle wie der des britischen Arztes in London, der offen sagt, er habe 140 Athleten gedopt, oder der des Herr Fuentes aus Spanien, zeigen, dass es auch in den westlichen Industriestaaten Doping gibt. In Deutschland war die Universitätsklinik Freiburg daran beteiligt. Bis in die späten 1980er Jahre wurden dort im Rahmen von Studien und durch das Bundesinnenministerium gefördert Athleten gedopt. Bis zum Skandal 2007 wurden dort dann ebenso ohne offiziellen Auftrag noch die Team Telekom Radfahrer gedopt.
Medscape: Das heißt, dass es auch hier in Deutschland ein richtiges Dopingsystem gibt?
Prof. Dr. Dr. Simon: Ein großes Forschungsprojekt hat Doping in Westdeutschland nur bis Ende der 80er Jahre aufgearbeitet. Was danach noch geschah, wissen wir nur aus Skandalen, wie dem um das Team Telekom.
Zudem verlangt der Innenminister bei den bevorstehenden Spielen von uns, dass wir 30 Prozent mehr Medaillen liefern. Es gibt nur eine Möglichkeit, das zu erreichen: Doping. Darüber bin ich mir mit anderen Experten einig. Wir fragen uns, wer den Innenminister in dieser Frage berät. Für mich ist das ein klarer indirekter Aufruf zum Dopen.
Medscape: Aber die Testverfahren sind doch sicher besser und genauer als früher, und die Sportler werden extrem überwacht. Sie glauben dennoch, dass mehr gedopt wird als früher?
Prof. Dr. Dr. Simon: Der Druck auf saubere Athleten ist durch die oben genannten Gründe extrem groß geworden. Denen ist spätestens jetzt klar: Es gibt zu viele Möglichkeiten, um positive Dopingbefunde zu vermeiden. Wenn wir jetzt nicht den Zenit an Doping erreichen, dann erreichen wir ihn nie.
Medscape: Wie kommt man denn um einen positiven Befund herum, wenn man illegale Substanzen im Blut hat?
Prof. Dr. Dr. Simon: Entweder, indem man die Substanzen so kombiniert, dass man sie nicht nachweisen kann, oder, indem man sich einfach freikauft. Das ganze System ist ja hochgradig korrupt. In diesem milliardenschweren Business wird geschachert wie im Dorffußballverein in Hintertupfingen. Mamadou Sakho zum Beispiel, ein Spieler vom FC Liverpool, wurde positiv getestet, bekam dann aber keine Sperre, sondern nur eine zweimonatige Spielpause verordnet.
Das ist ein sehr merkwürdiger Fall – entweder ist man gedopt oder nicht. Es ist ja nicht so, dass man auch ein bisschen gedopt sein könnte, wo so eine milde Strafe angemessen wäre. Die Sportler sehen also, dass mit positiven Befunden sehr unterschiedlich umgegangen wird. Im Radsport wäre der Athlet womöglich jahrelang gesperrt worden, in der Premier League eben nur zwei Monate – oder gar nicht. Ich halte es für unglücklich, wenn solch ungewöhnlich kurze Sanktionen intransparent erfolgen. Im Fußball gab es mehrere positive Nandrolon-Fälle, unter anderen auch Pep Guardiola. Denen ist gar nichts passiert, oder die Sperren waren ungewöhnlich kurz. Man muss zu dem Schluss kommen, dass da gar kein Wille ist, Doping wirklich zu bekämpfen.
Medscape: Warum nicht?
Prof. Dr. Dr. Simon: Um das zu verstehen, muss man sich nur anschauen, wie das Antidopingsystem entstanden ist. Es wurde von Staaten wie der DDR aufgebaut. Nicht, um die Athleten zu schützen, sondern um den Staat vor positiven Befunden bei den Athleten zu schützen. Das war auch in anderen Staaten der Fall. Strukturell und personell wurde dieses System eigentlich nie überarbeitet. Es wurde sozusagen nie scharfgestellt. Noch immer gilt das Primat: „Lasst euch nicht erwischen.“ Und nicht: „Lasst uns Doping im Keim ersticken.“ Die Wada wirkt machtlos. Sie hat selbst 2012 zugegeben, dass das System ineffizient arbeitet.
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Diesen Artikel so zitieren: Olympische Spiele: „Die Forderungen des Innenministers sind nur durch Doping zu erreichen“ - Medscape - 27. Jul 2016.
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