„Europe´s Dark Cloud“-Studie: Europas Kohlekraftwerke verursachen tausende Todesfälle durch Herz- und Lungenerkrankungen

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

21. Juli 2016

22.900 Todesfälle im Jahr und zehntausende Fälle von Herz-und Lungenerkrankungen in Europa gehen auf das Konto europäischer Kohlekraftwerke. Die dadurch verursachten Gesundheitskosten belaufen sich auf bis zu 62,3 Milliarden Euro jährlich. Das ist das Ergebnis der Studie „Europe´s Dark Cloud“ [1].

Prof. Dr. Christian Witt

Die von den 4 Umweltverbänden HEAL, Sandbag, WWF und Climate Action Network (CAN) in Auftrag gegebene Analyse zeigt erstmals die grenzüberschreitenden Gesundheitsfolgen der Luftverschmutzung durch europäische Kohlekraftwerke. „Kohlekraftwerke sind enorme Feinstaub-Emittenten“, sagt Prof. Dr. Christian Witt, Leiter der pneumologischen Onkologie und Transplantologie an der Berliner Charité.

 
Deutschland ist besonders betroffen, qualitativ ähnlich stark belastet sind auch Großbritannien und Polen. Prof. Dr. Christian Witt
 

Nach seiner Bewertung der Daten ist „Deutschland besonders betroffen, qualitativ ähnlich stark belastet sind auch Großbritannien und Polen.“ Deutsche Kraftwerke sollen laut der Studie die meisten vorzeitigen Todesfälle (4.350) in Deutschland und in Europa (3.630) verursacht haben, gleichzeitig steht Deutschland auch bei den Ländern, die am meisten unter Kohleschadstoffen leiden, an erster Stelle (3.630 vorzeitige Todesfälle durch eigene und fremde Kraftwerke). Die 5 EU-Staaten, die am meisten unter Kohleschadstoffen leiden, sind nach Deutschland Großbritannien (2.100 vorzeitige Todesfälle), Polen (1.860), Italien (1.610) und Frankreich (1.380).

„Damit kommt zu der Belastung durch die heimischen Kraftwerke noch die durch Luftströmung transmittierten Emissionen der Nachbarländer und vice versa hinzu. Aufhorchen lässt auch, dass circa 12.000 Fälle an Bronchitis jährlich dazu kommen und 21.000 zusätzliche stationäre Aufnahmen in Europa“, fasst Witt, der seit 2005 auf die gesundheitlichen Gefahren von Feinstaub-Emissionen aufmerksam macht, gegenüber Medscape zusammen.

Prof. Dr. Annette Peters, Leiterin des Instituts Epidemiologie II am Helmholtz-Zentrum München, betont, dass die Studienergebnisse auf dem aktuellen Wissensstand zu den Auswirkungen von Feinstaub und den Erkenntnissen großer epidemiologischer Studien beruhten. „Die Zahlen zeigen, wie groß die Auswirkungen der Kraftwerksemissionen auf die Sterblichkeit sind. Insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schlaganfälle spielen bei den Folgen der Feinstaubbelastung eine gravierende Rolle“, so Peters in einer Mitteilung des WWF.

Die Ergebnisse von „Europe´s Dark Cloud“ bestätigten die Aussagen der Greenpeace-Studien aus den vergangenen Jahren, stellt Karsten Smid, Energie-Experte bei Greenpeace fest. Er fügt hinzu: „Teilweise sind die Ergebnisse sogar schlimmer als befürchtet. Tausende vorzeitige Todesfälle werden allein in Deutschland durch die Emissionen von Kohlekraftwerken verursacht.“

Vor allem Patienten mit vorbelasteter Lunge leiden

Die hohe Feinstaub-Emission wirkt sich direkt auf die Gesundheit aus: „Das gilt besonders, wenn Patienten schon mit einer Lungenerkrankung vorbelastet sind. Der Krankheitsverlauf kann sich unmittelbar verschlechtern, die Patienten brauchen mehr oder stärkere Medikamente, oder sie müssen gar stationär aufgenommen werden“, zählt Witt auf. Das ist vor allen Dingen dann der Fall, wenn der Feinstaub aus aggressiven Partikeln besteht, etwa aus Stickoxiden und Sulfoxiden, die die Bronchien stark reizen.

 
Die Zahlen zeigen, wie groß die Auswirkungen der Kraftwerks-emissionen auf die Sterblichkeit sind. Prof. Dr. Annette Peters
 

Rauchen ist zwar nach wie vor das Hauptrisiko für die Entwicklung einer COPD – wer raucht, erhöht sein Risiko daran zu erkranken erheblich. Ein Rauchstopp sei deshalb ein großer Fortschritt, bestätigt Witt. Doch so monokausal sind die Ursachen für die Entstehung einer Lungenerkrankung nicht, betont er und fügt hinzu: „Auch andere Faktoren spielen eine Rolle, wie eben Luftschadstoffe. Man muss die unterschiedlichen Risikofaktoren zusammennehmen. Also beispielsweise: Ein Mensch raucht, wohnt an einer Hauptverkehrsstraße, und dann kommen noch die Emissionen aus Schornsteinen und Kraftwerken hinzu.“

Dabei gilt die Faustregel: Je größer der Staub ist, umso früher lagert er sich ab und wandert nicht weit ins Körperinnere. Man unterscheidet 3 Klassen: Der größte Feinstaub ist 10-mal kleiner als ein Haar, er hat einen Durchmesser von 10 Mikrometern oder kleiner (PM 10). Noch 4-mal kleiner ist PM 2,5 – Feinstaub (PM, particulate matter) mit einem Durchmesser von weniger als 2,5 Mikrometern. Am Kleinsten ist der Ultrafeinstaub: Mit 0,1 Mikrometern ist er 1.000-mal kleiner als ein Haar (PM 0,1).

 
Teilweise sind die Ergebnisse sogar schlimmer als befürchtet. Tausende vorzeitige Todesfälle werden allein in Deutschland durch die Emissionen von Kohlekraftwerken verursacht. Karsten Smid
 

Ganz feine Stäube gehen bis in die feinen Bronchien und passieren die Luft-Blut-Schranke. Darüber gelangen sie in den Kreislauf und lagern sich in anderen inneren Organen und auch im Gehirn ab. Neben Allergien und Asthma wird ein Einfluss auf die Entzündungsreaktion und die Blutgerinnung des Menschen beobachtet. Kritisch sind laut Witt besonders Feinstäube im Nanogrößenbereich. Schließlich haben Mediziner auch einen Zusammenhang zwischen Lungenkrebs und Feinstaub beobachtet.

Ultrafeine Partikel verursachen kardiales Remodelling

Besonders gefährlich sind die Partikel, wenn auf ihrer Oberfläche giftige Stoffe wie Metallatome oder polyzyklische Aromaten haften. Dringen die Partikel mit dieser Fracht in die Lungenzellen ein, können die Moleküle das Erbgut verändern. Zellen geraten außer Kontrolle, die Folge können Tumore sein.

Dass Feinstaub systemisch wirkt, konnte schon 1997 eine Arbeit zur Blutviskosität nachweisen. Offenbar begünstigt Feinstaub primär systemische Entzündungen und oxidativen Stress. Dass pro 10 μg Feinstaub langfristig die Gesamtmortalität um 10% zunimmt, weist eine Arbeit aus 2010 nach. Krishnan und Team konnten 2012 zeigen, dass Feinstaub-Partikel die Entstehung einer Atherosklerose begünstigen. Eine Feinstaub-Partikelbelastung erhöht auch das Risiko für eine tiefe Beinvenenthrombose um bis zu 70%.

Ultrafeine Partikel begünstigen die Kalzifizierung von vaskulären glatten Muskelzellen: Li konnte das 2013 in Zellkulturen nachweisen, Wold konnte 2012 an Mäusen zeigen, dass dies zu einem Remodelling des Herzens führt. Die von Dr. Hagen Kälsch vom Herzzentrum Essen auf der EuroPRevent in Rom präsentierten Daten belegten 2013, dass Feinstaub die kardiovaskuläre Morbidität erhöht.

An den ultrafeinen Partikeln scheitern die Filter

Zwar hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die kleinen Partikel relativ strenge Grenzwerte vorgegeben: 10 µg pro m³ Luft. Innerhalb der EU sind allerdings Feinstaub-Grenzwerte von bis zu 25 µg pro m³ Luft zulässig. Und in Ballungsräumen wird der Wert häufig überschritten. Dabei stammen größere Partikel (< 10 µm) hauptsächlich aus Aufwirbelungen, Industrieabgasen, Hausbrand und Verkehr, Partikel (< 2,5 µm) aus Industrieabgasen, Hausbrand und Verkehr und ultrafeine Partikel (< 0,1 µm) ebenfalls aus Industrieabgasen, Hausbrand und Verkehr.

 
Bei den ultrafeinen Partikeln scheitert nicht nur die Filtertechnik in den Kohlekraftwerken, sondern auch der menschliche Organismus. Karsten Smid
 

„Filteranlagen nach dem neuesten und besten Stand der Technik sind zwingend notwendig“, betont Energie-Experte Smid. Er sagt aber auch: „Neben der zögerlichen Umsetzung und den Ausnahmeregelungen für beispielsweise Braunkohlekraftwerke werden Filter allein das Problem nicht lösen. Bei den ultrafeinen Partikeln scheitert nicht nur die Filtertechnik in den Kohlekraftwerken, sondern auch der menschliche Organismus.“ Denn die gefährlichen, teilweise hochtoxischen Partikel dringen besonders tief in die feinsten Verästelungen der Atemwege vor.

Wie Smid erklärt, gibt es gegenüber den 1990er-Jahren bei den Luftschadstoffen insgesamt zwar einen deutlichen Rückgang der `klassischen´ Schadstoffe. Doch: „Die Schadstoffe werden immer massenbezogen angegeben. Zu Problemen führen aber gerade die Feinstaubpartikel, ultrafeinen Partikel und sekundäre Partikel, die sich aus gasförmigen Vorläufersubstanzen bilden“, so Smid.

Diese Verschiebung von Problemen nennt er „besorgniserregend“ und fügt hinzu: „Wir haben es inzwischen mit einer zweiten Generation von Luftverschmutzung zu tun: eine epidemieartige Zunahme von Asthma und Allergien bedingt durch ultrafeine Partikel. Die Quelle sind hauptsächlich Verbrennungsprozesse. Die Einzelquellen mit den höchsten Emissionen sind Großkraftwerke, vor allem aber die Braunkohlekraftwerke.“ In Ballungsgebieten ist vor allem der Straßenverkehr eine bedeutende Feinstaubquelle.

Europaweiter Ausstieg aus der Kohleenergie gefordert

HEAL, Sandbag, CAN und der WWF fordern angesichts der Gesundheitsschäden und des Klimawandels, so schnell wie möglich europaweit aus der Kohleenergie auszusteigen. Eine Forderung, die auch Greenpeace unterstützt. Ein deutscher Kohleausstieg, so der WWF, könnte in der Bundesrepublik jedes Jahr mehr als 1.860 vorzeitige Todesfälle verhindern und im Ausland sogar 2.490.

„Wir brauchen einen europaweiten Kohleausstieg. Das muss sowohl von der EU-Klimapolitik als auch in den Kohleländern selbst vorangetrieben werden. Kohlestromerzeugung hat verheerende Folgen für das Klima und die Gesundheit der Europäer. Es liegt im Interesse aller, gemeinsam einen Kohleausstieg in allen EU-Staaten einzuleiten“, sagt Viviane Raddatz, Klimaschutzreferentin beim WWF Deutschland in der WWF-Mitteilung. „Für Deutschland fordern wir […] einen sozialverträglichen Fahrplan zum Ausstieg aus der Kohleverstromung zu beschließen, der bis spätestens 2035 komplett umgesetzt wird.“

 
Kohlestrom-erzeugung hat verheerende Folgen für das Klima und die Gesundheit der Europäer. Viviane Raddatz
 

Die Energiewende spielt aus Sicht von Greenpeace dabei eine wichtige Rolle. „Im letzten Jahr ist allein 33 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren Energien bereitgestellt worden. Die Kohleindustrie, die mit der deutschen Politik gut vernetzt ist, versucht sich mit aller Macht gegen die Energiewende zu stemmen. Die Energiewende wird nicht aufzuhalten sein, weil Sonnen- und Windenergie sowohl beim Klimaschutz als auch bei der Luftreinhaltung unschlagbare Vorteile bieten“, betont Smid.

Und Christian Witt sieht in den Studienergebnissen auch eine Triebfeder für eine weitere Technologie-Entwicklung in Richtung Elektromobilität und regenerative Energien. „Elektromobilität ist nicht nur sauber, sie ist auch leise, wir würden in der Stadt wieder die Vögel zwitschern hören.“ Neben der Elektromobilität müsse auf regenerative Energiegewinnung gesetzt werden. „Wir brauchen einen konsequenten Technologiewechsel hin zu den regenerativen Energien.“

Feinstaub – ein komplexes Gemisch führt zu globalen Problemen

Feinstaub ist ein komplexes Gemisch fester und flüssiger Teilchen: Man findet Ruß, Mineralstaub, Dioxine, Abriebmaterial wie Gummi, Pollen, Silikate und verschiedenste Fasern, aber auch Metalle wie Blei, Aluminium und Quecksilber. Feinstaub ist so klein, für ihn scheinen die Gesetze der Schwerkraft nicht zu gelten: Einmal aufgewirbelt, schwebt er tagelang in der Luft und verbreitet sich hunderte Kilometer weit.

Der sogenannte Primärstaub entsteht durch Verkleinerung von größeren Teilchen – also durch Verbrennung oder Abrieb. Der sekundäre Feinstaub hingegen entsteht durch Vergrößerung. Dabei verbinden sich gasförmige Moleküle miteinander. Ammoniak reagiert dabei mit Gasen aus Industrie oder Verkehr.

13 Kilogramm Luft atmet der Mensch täglich ein und aus. Peking gilt als Stadt der Luftverschmutzung. In europäischen Metropolen ist die Verschmutzung weniger offensichtlich. Doch ungesund ist die Luft auch hier. In Paris übertrifft die Feinstaub-Belastung an jedem 2. Tag die europäischen Grenzwerte. Schätzungen zufolge haben die Pariser eine geringere Lebenserwartung als die übrigen Franzosen: Sie sterben im Schnitt 6 Monate früher.

Feinstaub ist ein globales Problem. 3,3 Millionen Menschen sterben weltweit an den Folgen der Luftverschmutzung, bis 2050 könnten es doppelt so viele sein. Die WHO stuft Feinstaub als direkten Verursacher von Lungenkrebs ein. In Stuttgart, der Stadt mit der stärksten Luftverschmutzung in Deutschland, riefen die Behörden 2016 schon 5-mal Feinstaub-Alarm aus.

Forscher des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz haben ermittelt, dass die dreckige Luft jedes Jahr etwa 35.000 Menschenleben fordert. Das sind 10-mal so viele Tote wie durch Verkehrsunfälle. Die Forscher haben das hochgerechnet und gehen weltweit von 3,3 Millionen Toten durch Feinstaub aus.

 

REFERENZEN:

1. Europe´s Dark Cloud, Juni 2016

 

Kommentar

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