Terroranschlag in Nizza: Worst Case für die Gesundheitsversorgung – hätten dennoch mehr Opfer gerettet werden können?

Dr. Isabelle Catala

Interessenkonflikte

19. Juli 2016

Nizza – Laut einer Pressemitteilung des französischen Gesundheitsministeriums vom 15. Juli 2016 wurden „in Folge des Attentats vom 14. Juli 188 Patienten in die Einrichtungen der Gesundheitsversorgung im Departement Alpes-Maritimes eingeliefert. 84 sind gestorben, darunter 10 Kinder. 48 Patienten befinden sich noch immer in einem kritischen Zustand, 25 von ihnen müssen auf Intensivstationen versorgt werden. Es wurde ein medizinisch-psychologischer Dienst eingerichtet, der an mehreren Stellen angeboten wird.“

Nach den Emotionen der ersten Stunden werden nun neue und präzisere Zahlen zur Versorgung der Opfer von Nizza bekannt: Am 17. Juli waren noch 49 Schwerverletzte in den Krankenhäusern, die den Status der „Urgence absolue” (dringenden Behandlungsbedarf) aufwiesen; 29 Patienten – einschließlich eines Kindes – befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch auf Intensivstationen. Weitere 207 Patienten wurden als „Urgence relative” klassifiziert, sie waren also vorerst stabil (und transportfähig).

Nur 35 der Todesopfer konnten bislang offiziell identifiziert werden. Gerichtsmediziner aus Montpellier, Nîmes, Grenoble, Lille und Marseille sind inzwischen angereist, um das 8-köpfige Team der Rechtsmediziner aus Nizza zu unterstützen. Viele Familien beklagen sich darüber, dass der Vorgang so lange dauert. Bis heute (Stand 18. Juli 2016) wurde für weniger als 20 Opfer eine Erlaubnis zur Bestattung erteilt.

Noch nie dagewesen: Verletze noch in zwei Kilometern Entfernung

 
In keinem Szenario, in keinem Modell hätten wir uns diese Situation so vorstellen können. Ein Informant aus Nizza
 

Schon in den ersten Stunden nach dem Attentat kamen Stimmen auf, die Zweifel an der Effizienz der Notfallversorgung anmeldeten. So mussten einige Patienten etwa eine Stunde lang warten, bis die Rettungskräfte zu ihnen kamen. Andere wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten, und wurden auch von niemandem zu den Helfern geleitet. Im Gegensatz etwa zu Paris waren die medizinischen Versorgungsstellen in Nizza und Umgebung strukturell in keiner Weise auf die Herausforderung vorbereitet, die eine so große Opferzahl mit sich bringt.

Medscape France pflegt engen Kontakt zu Rettungsmedizinern und Angehörigen des Katastrophenschutzes, die bereit waren, eine erste Bilanz zu ziehen, dabei jedoch anonym bleiben möchten. Sie konstatieren beispielsweise: „Im Moment sind sie einfach stärker als wir. In keinem Szenario, in keinem Modell hätten wir uns diese Situation so vorstellen können.“ – „Dieses Attentat ist zu einem Zeitpunkt passiert, dem bereits eine lange Periode der Anspannung für die Rettungskräfte vorausgegangen war – man denke nur an den bestehenden Ausnahmezustand und an die Fußball-Europameisterschaft.“

Eine Besonderheit dieses Anschlags war die ungewöhnliche große Entfernung einiger Verletzter zum Ort des eigentlichen Geschehens: 2 Kilometer, von denen 3 Viertel zu einer Fußgängerzone gehören.

 
Dieses Attentat ist zu einem Zeitpunkt passiert, dem bereits eine lange Periode der Anspannung für die Rettungskräfte vorausgegangen war – man denke nur an den bestehenden Ausnahmezustand und an die Fußball-Europameisterschaft. Ein Informant aus Nizza
 

Diese Fußgängerzone war zum Zeitpunkt des Anschlags besonders stark frequentiert – aufgrund der zahlreichen Besucher, die das Feuerwerk zum Nationalfeiertag an der Promenade des Anglais verfolgt hatten. Sich zusammendrängende Familien sowie zahlreiche orientierungslose Besucher aus dem Ausland sorgten dafür, dass die Menschenmenge ausgesprochen kompakt und ein Durchkommen extrem erschwert war. Die Anfahrt der Rettungskräfte gestaltete sich zusätzlich schwierig durch liegengebliebene Fahrzeuge, die die Zufahrt blockierten, weil ihre Fahrer ernsthaft verletzt worden waren und nun medizinisch versorgt werden mussten.

Nahegelegene Kliniken rasch überlastet

Eine sichere Versorgung am Ort des Geschehens konnte somit nicht gewährleistet werden. „Unter diesen Umständen, insbesondere auch bei Berücksichtigung des großen Umkreises, in dem die Rettungskräfte tätig werden mussten, war es unmöglich, eine den fortschrittlichen Standards entsprechende medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten“, so die Informanten von Medscape France. „Zwei Triagezentren und die Nutzung sämtlicher Transportmittel einschließlich nicht-medizinischer Fahrzeuge der Passanten wären nötig gewesen, um die Opfer entsprechend einzugruppieren und weiterzuleiten. Das, was wir zur Verfügung hatten, genügte unter diesen Bedingungen einfach nicht für eine gute und sichere Versorgung.“

Ein Triagezentrum ist ein Ort, an dem bei Ereignissen mit mehreren Verletzten von einigen Ärzten die Schwere der Verletzungen, die Transportfähigkeit und daraus folgend die Dringlichkeit der Behandlung und/oder des Weitertransports der jeweiligen Opfer bestimmt wird.

„Zum nächstgelegenen Krankenhaus, dem Hôpital L’Archet, das nahe der Promenade des Anglais und unweit des Flughafens liegt, kamen zahlreiche Verletzte von selbst, mit eigenen Mitteln. Eigentlich ist es unüblich, bei einer großen medizinischen Katastrophe die Verletzten in nahegelegene Kliniken zu transportieren, da diese naturgemäß schon bald überlastet sind“, so ein weiteres Statement. „Eine dynamische Triage über einen Umkreis von zwei Kilometern ist einfach nicht machbar. Idealerweise hätte man die Verletzten in die benachbarten Departements transportieren müssen, um die Krankenhäuser im Departement Alpes-Maritimes nicht zu überlasten, aber auch das war unmöglich.“

Die ersten Rückmeldungen der 28 auf der Promenade des Anglais anwesenden Sanitäter und der nach dem Anschlag eingesetzten Feuerwehrleute ein paar Tage nach dem Attentat ermöglichen einen besseren Einblick in die stattgefundene Versorgung am Anschlagsort. Zunächst waren Chaos und Bestürzung vorherrschend. Aber schon bald, noch in der auf den Anschlag folgenden Stunde, beschlagnahmten die Feuerwehrleute die Diskothek High Club auf der Promenade Nr. 47, die am Anfang der Fußgängerzone liegt, um dort einen Triagepunkt einzurichten. Dutzende von Verletzten wurden von den Sanitäts- und Rettungskräften sowie von Passanten dorthin gebracht.

Bereits 2 Stunden nach den Vorfällen waren 2 Hubschrauberlandeplätze eingerichtet, die den Transport der Patienten in die umliegenden Krankenhäuser des Departements Alpes-Maritimes erleichterten.

 
Unter diesen Umständen … war es unmöglich, eine den fortschrittlichen Standards entsprechende medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten. Ein Informant aus Nizza
 

Notfallübung in Nîmes vor vier Monaten

Völlig unvorbereitet waren die Ärzte und Feuerwehrleute von Nizza nach neuesten Informationen übrigens nicht: Sie hatten bereits vor 4 Monaten die Gelegenheit, an einer Notfallübung in dem knapp 300 Kilometer entfernten Nîmes teilzunehmen, bei der ein Attentat mit chemischen Kampfstoffen imitiert worden war. Die Übung diente der Vorbereitung auf die Fußball-Europameisterschaft 2016, denn einige der Spiele liefen bekanntlich in den südfranzösischen Städten Nizza und Marseille.

Kritische Reflexion und neue Notfallszenarien gefragt

„Die Verantwortlichen und die übrigen Notfallmediziner in Frankreich werden klare Anweisungen für die Zukunft formulieren“, wurde angekündigt. „Aber niemand vermag die Frage zu beantworten, die sich jeder nun stellt: Werden sie die notdürftige – und manchmal sogar schlechte – Versorgung bei großen Zahlen von Verletzten verbessern können? Oder wird man sich um einige Patienten bestmöglich kümmern und die übrigen vernachlässigen?“ Nur mit einer [kritischen] Reflexion des Geschehenen und dem Entwurf neuer Szenarien werde man künftig stärker und in der Lage sein, die Pläne der Terroristen zu durchkreuzen, war man sich einig.


Dieser Artikel wurde von Simone Reisdorf aus
www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

 

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