Viel ist möglich in der heutigen Medizin, sehr viel. Aber manches, was gemacht wird, ist nicht sinnvoll, und manches was sinnvoll ist, wird nicht gemacht. So entstand die Initiative „Klug entscheiden“ der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), die sich mit Negativ- und Positiv-Empfehlungen für Ärzte gegen Über- und Unterversorgung wendet. Auch die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) nimmt an der Initiative teil.

Prof. Dr. Martin Reincke
„Die Endokrinologie ist eine wichtige Disziplin, die in Deutschland ein bisschen im Schatten der großen anderen internistischen Disziplinen steht, wie z.B. Kardiologie oder Gastroenterologie“, meint Prof. Dr. Martin Reincke, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, im Gespräch mit Medscape. „Aber zu Unrecht: Patienten mit diesen Erkrankungen haben genau dasselbe Anrecht auf eine hochwertige Betreuung – und da sind diese Empfehlungen sehr ernst zu nehmen“, betont der Direktor der medizinischen Klinik und Poliklinik IV am Klinikum der Universität München.
Erstellt wurden die 5 Positiv- und 5 Negativ-Empfehlungen in einem recht aufwendigen Prozess: Zunächst wurde die Basis per E-Mail befragt: Alle Mitglieder der DGE konnten Vorschläge formulieren. Diese wurden dann im Vorstand diskutiert. Außerdem wurde zusätzlich noch die Expertise von Mitgliedern der einzelnen Sektionen der DGE eingeholt. Wichtig für die Auswahl waren vor allem 2 Dinge, sagt Reincke: „Wir wollten solche Themen ansprechen, bei denen wir klare Positiv- und Negativempfehlungen geben können, also Über- und Unterdiagnostik und Behandlung identifizieren können.“
Das andere Auswahlkriterium zielt auf die Relevanz der Empfehlungen: „Wir wollten Themen ansprechen, die viele in der Bevölkerung betreffen.“ Am Schluss wurden die Empfehlungen dann mit den anderen Schwerpunktgesellschaften der DGIM in mehreren Konsensus-Konferenzen abgestimmt.
Die fünf Positiv-Empfehlungen: 1. Osteoporose-Therapie rechtzeitig einleiten
Viele der Empfehlungen werden auch außerhalb der DGE positiv aufgenommen. „Als Patientenorganisation der Osteoporose-Betroffenen unterstützen wir die Positiv-Empfehlung der DGE“, betont Dr. Thorsten Freikamp, Geschäftsführer des Bundeselbsthilfeverbandes für Osteoporose e.V., im Gespräch mit Medscape. Freikamp bezieht sich auf die Empfehlung, bei älteren Patienten nach einer osteoporose-typischen Fraktur in der Regel eine spezifische Osteoporose-Therapie einzuleiten.
„Wir halten eine leitliniengerechte spezifische Osteoporose-Behandlung gerade bei älteren Menschen, die bereits eine osteoporose-typische Fraktur erlitten haben, für dringend geboten“, erklärt Freikamp. „Ziel der Behandlung muss es sein, weitere Frakturen zu vermeiden. Andernfalls würde ein Teufelskreis aus Knochenbruch – Schmerz – Bewegungsmangel – Abbau von Knochenmasse – erneuter Knochenbruch in Gang gesetzt.“
Aber ist es wirklich notwendig, eine Maßnahme zu empfehlen, die in der entsprechenden Leitlinie schon formuliert ist? In den Augen des Geschäftsführers ist diese Empfehlung durchaus berechtigt: „Aus unserer Sicht wird die medikamentöse Therapie in diesem Fall zu selten angewandt. Mitglieder berichten, dass oftmals selbst nach einem ersten osteoporose-typischen Bruch zunächst Schmerzmittel verordnet werden“, schildert Freikamp seine Erfahrungen. „Hauptgrund dafür ist, dass der osteoporose-typische Bruch gar nicht als solcher identifiziert wird. Dies führt im Ergebnis dazu, dass in Deutschland aktuell nur ca. 20 Prozent der Osteoporose-Patienten rechtzeitig und richtig behandelt werden“, kritisiert er. „Damit haben wir hier einen riesigen Nachholbedarf.“

Prof. Dr. Baptist Gallwitz
2. Diabetes: Patientenschulung für alle
Auch die Empfehlung der DGE, alle Patienten mit Diabetes mellitus sollten bei Einleitung einer medikamentösen Therapie eine spezifische Schulung erhalten, wird auch außerhalb der DGE positiv aufgenommen. „Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) stimmt der Forderung zu“, unterstreicht Prof. Dr. Baptist Gallwitz gegenüber Medscape, „und hat dies auch in den Leitlinien implementiert.“ Der Präsident der DDG betont: „Eine Schulung ist unverzichtbar für das Selbstmanagement des Patienten mit Diabetes.“
Gallwitz fordert sogar, dass bei Patienten mit Typ-2-Diabetes eine Schulung sogar schon bei Diagnosestellung und vor der Einleitung einer medikamentösen Therapie erfolgen sollte – der Grund: „Da eine Lebensstilmodifikation mit Stoffwechsel-verbessernder Änderung der Ernährung und Intensivierung der körperlichen Bewegung wichtige therapeutische Maßnahmen sind.“
3. Jodsupplementation für Schwangere
In einer weiteren Empfehlung der DGE geht es um Schwangere und Stillende: Diesen sollte eine Jodsupplementation angeboten werden, da auch ein milder mütterlicher Jodmangel in der Schwangerschaft zu kognitiven Entwicklungsstörungen führen kann. Diese Empfehlung gelte auch für Frauen mit Autoimmunerkrankungen der Schilddrüse, formuliert die DGE.
4. Endokrine Ursachen für Bluthochdruck
Vierter Punkt in der Reihe der Positiv-Empfehlungen der DGE: Bei jüngeren und therapierefraktären Patienten soll auch nach endokrinen Ursachen einer Bluthochdruckerkrankung gesucht werden. Die Begründung der DGE: Bis zu 10% der Fälle von arterieller Hypertonie können endokrine Ursachen haben, wie z.B. primärer Hyperaldosteronismus, Phäochromozytom, Hypercortisolismus oder Enzymdefekte der Nebenniere. „Das wird definitiv übersehen“, berichtet Reincke. „Hier haben wir einen relativ großen Bereich, wo Patienten nicht frühzeitig identifiziert werden, die von einer entsprechenden Diagnostik und Therapie profitieren.“
5. Unklare Hyperkalzämie abklären
Jede unklare Hyperkalzämie sollte abgeklärt werden, fordert die DGE in ihrer 5. Positiv-Empfehlung. Denn: Bei 40 bis 50% der Patienten mit Hyperkalzämie sei die Ursache ein primärer Hyperparathyreoidismus, der durch eine rechtzeitige Diagnose und Therapie geheilt werden könne. Dadurch könnten auch Folgeschäden vermieden werden, argumentiert die DGE.
Manches besser lassen – die fünf Negativ-Empfehlungen: 1. Cave Testosteron-Substitution
Zu der Empfehlung, eine Testosteron-Substitution nicht aufgrund eines einzelnen erniedrigten Testosteronwertes ohne Klinik und Ursachenabklärung einzuleiten, meint Prof. Dr. Frank Tüttelmann, Mitglied des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft für Andrologie e.V. (DGA), im Gespräch mit Medscape: „Die DGA unterstützt diesen Punkt voll und ganz.“ Und unterstreicht die Zustimmung mit dem Hinweis, dass diese Empfehlung auch immer wieder Thema bei Intensivseminaren und Tagungen der DGA sei.
Nicht immer werde dieses Verfahren eingehalten, kritisiert Tüttelmann, besonders in den USA gebe es eine große Diskussion darum: „Es gibt publizierte Studien, die zeigen, dass in den USA bis zu 30 Prozent der Männer sogar ohne eine einzige Testosteron-Messung mit Testosteron behandelt werden.“ In Deutschland sei die Situation ganz anders, erläutert er: „weil die Kassen die Kosten nur erstatten, wenn der Testosteronwert bestimmt wird, wie dies auch die Leitlinien vorsehen.“
Doch Testosteron-Verordnungen nach nur einem Test gibt es auch in Deutschland, weiß Reincke: „Das ist ein schwerer Fehler“, betont der Präsident der DGE. „Ich kenne dies aus eigener Anschauung von Patienten, die kommen und mir ihre Laborwerte zeigen“, erzählt er. „Es gibt ganz offensichtlich erhebliche Testosteron-Verordnungen vor allem in einem Graubereich in Deutschland: Stichwort Anti-Aging . Hier ist die Bestimmung multipler Hormone im Blut zur Identifizierung eines fraglichen Hormonmangels wichtiger Teil des Gesamtgeschäftes dieser Anti-Aging-Praxen.“
2. Laborchemie vor dem Bild
Auch die Forderung, bei einer hormonellen Erkrankung erst einen labor-chemischen Nachweis zu erbringen, bevor ein bildgebendes Verfahren eingesetzt wird, findet Zuspruch: „Das ist einfach Good Clinical Practice“, stimmt Prof. Dr. Andreas Schreyer, Mitglied der Deutschen Röntgengesellschaft e.V. (DRG), im Gespräch mit Medscape fest. „Als Radiologe würde ich sagen, es ist ganz gut darauf hinzuweisen, da häufig fragliche oder unnötige Untersuchungen von unseren Zuweisern gewünscht werden, die wir als Radiologen dann zu hinterfragen versuchen, und eher ablehnend zu sein“, sagt der stellvertretende Direktor des Instituts Röntgendiagnostik am Universitätsklinikum Regensburg. „Eigentlich ist es angenehm, dass es so eine Empfehlung gibt.“
Generell ist Schreyer von der Initiative überzeugt: „Die Idee – Klug entscheiden bzw. Choosing wisely, wie die Initiative in den USA genannt wird – finde ich großartig.“, gibt er offen zu. „Das braucht die Medizin, denn wir sind ja eine Mangelverwaltung, wir haben wenige Ressourcen und müssen das Beste draus machen.“
3. Kein Screening auf Schilddrüsen-Veränderungen bei älteren Menschen
Die DGE empfiehlt desweiteren bei älteren Menschen kein Screening auf Schilddrüsen-Veränderungen durchzuführen. Die Begründung: Schilddrüsenknoten sind bei über 60-Jährigen ein sehr häufiger Befund. Unter den 75-Jährigen haben bereits etwa 75% der Bevölkerung Veränderungen an der Schilddrüse. Schilddrüsenkrebs ist dagegen sehr selten – und hat geringe Mortalitätsraten. Studien haben gezeigt, dass durch ein generelles Screening die Operationsrate stark steigt, aber die Mortalität sich nicht ändert.
4. Keine Dauertherapie mit Levothyroxin bei Struma nodosa
Beim Struma nodosa sind Jod, L-Thyroxin oder die Kombination aus Jod und Thyroxin Behandlungsoptionen. Die beste Evidenz für einen günstigen Therapieeffekt hat laut DGE dabei die Kombination aus L-Thyroxin und Jod. Da es keine Studiendaten gibt, die den Nutzen einer Dauertherapie mit L-Thyroxin zeigen, sollte bei Patienten mit Knoten in der Schilddrüse (Struma nodosa) nach Meinung der DGE keine Dauertherapie mit Levothyroxin durchgeführt werden.
5. Hydrocortison-Therapie nicht ohne Dosisanpassung
In ihrer 5. Negativ-Empfehlung spricht sich die DGE dafür aus, eine Hydrocortison-Therapie bei substitutionspflichtigen Patienten nicht ohne eine Dosisanpassung in relevanten Stresssituationen durchzuführen. Sonst könnten z.B. Situationen mit erhöhtem Steroidbedarf wie Infekte oder eine Operation zu erhöhter Morbidität und Mortalität führen. Hier wird eine Schulung für Patienten und Angehörige gefordert.
Weitere Empfehlungen sind denkbar
„Wir mussten uns bei den Themen ziemlich beschränken“, erinnert sich Reincke. „Wir hatten eine sehr lange Liste und haben dann die Dinge herausgesucht, die wir selber für am relevantesten hielten und für die die Evidenzlage gut ist.“ Er könne sich gut vorstellen, dass in der Zukunft noch weitere Empfehlungen herausgegeben werden, sagt der Präsident der DGE.
REFERENZEN:
1. Feldkamp J: Deutsches Ärzteblatt 2016;113(17): 821-824
© 2016 WebMD LLC
Diesen Artikel so zitieren: „Klug entscheiden“ bei Kortison und Testosteron, Osteoporose, Schilddrüse und Diabetes – das 10 Punkte-Programm der DGE - Medscape - 8. Jul 2016.
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