Mehr als ein Drittel der US-amerikanischen Patienten mit Vorhofflimmern erhalten nur Acetylsalicylsäure (ASS), obwohl sie den Leitlinienempfehlungen zufolge eigentlich antikoaguliert werden sollten (CHA2DS2-VASc ≥ 2). Dies zeigt die Analyse eines großen US-Registers [1]. „Es ist überraschend, dass der Anteil in den USA so hoch ist“, kommentiert Prof. Dr. Andreas Götte vom Vorstand des Kompetenznetzes Vorhofflimmern im Gespräch mit Medscape. Aber es ist „weltweit ein generelles Problem, dass bei einem Teil dieser Patienten weiter ASS oder ein anderer Plättchenhemmer gegeben wird. In Deutschland sind es knapp 15% der Patienten“.

Prof. Dr. Andreas Götte
Ab wann orale Antikoagulation?
Der CHADS2-Score und der CHA2DS2-VASc-Score (modifizierte Version mit feinerer Differenzierung hinsichtlich Gefäßerkrankungen, Geschlecht und Lebensalter) dienen der Risikoabschätzung eines Schlaganfalls bei Vorhofflimmern. Sowohl die europäischen als auch die US-Leitlinien empfehlen ab einem CHADS2- bzw. CHA2DS2-VASc-Score ≥ 2 eine orale Antikoagulation.
Einen Unterschied gibt es bei einem CHADS2- bzw. CHA2DS2-VASc-Score = 1: „In den USA wird ASS bei diesen Patienten durchaus als Therapieoption angesehen“, so Götte. „In den europäischen Leitlinien taucht ASS zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern dagegen gar nicht mehr auf. Bei einem Risiko-Score von 1 wird empfohlen, entweder gar nicht zu therapieren oder – vorzugsweise – schon mit einer oralen Antikoagulation zu beginnen.“
Jüngere Patienten und Frauen bekommen öfter nur ASS
Die im Journal of the American College of Cardiology veröffentlichte Analyse umfasst 210.380 Patienten mit Vorhofflimmern und einem CHADS2-Score ≥ 2 und 294.642 Patienten mit Vorhofflimmern und einem CHA2DS2-VASc ≥ 2. Sie hatten also ein mittleres bis hohes Schlaganfallrisiko.
Von den 210.380 Patienten mit einem CHADS2-Score ≥ 2, die eine antithrombotische Therapie erhielten, wurden 38,2% nur mit ASS behandelt und 61,8% mit Warfarin oder einer oralen Antikoagulation mit Nicht-Vitamin-K-Antagonisten. Von den 294.642 Patienten mit einem CHA2DS2-VASc ≥ 2 wurden 40,2% nur mit ASS behandelt, 59,8% erhielten eine orale Antikoagulation mit Warfarin oder einem Nicht-Vitamin-K-Antagonisten.
In beiden Kohorten waren es eher die jüngeren Patienten, diejenigen mit niedrigerem BMI, Frauen und Patienten mit Begleiterkrankungen wie Diabetes, Hypertonie, erhöhtem Cholesterin, KHK, Herzinfarkt, Koronarbypass oder PAVK, die anstatt einer oralen Antikoagulation nur ASS bekamen.
Möglicherweise verschreiben Kardiologen ASS anstatt einer oralen Antikoagulation, weil sie „fälschlicherweise annehmen, dass ASS ebenso wirksam ist wie die orale Antikoagulation“, spekuliert Erstautor Prof. Dr. Jonathan C. Hsu von der University of California in San Diego. Er merkt außerdem an, dass Männer offenbar mit einer um 6% höheren Wahrscheinlichkeit eine orale Antikoagulation verschrieben bekommen, obwohl die Frauen das höhere Risiko für Schlaganfall haben.
Geriatrische Patienten in Deutschland besonders häufig ohne orale Antikoagulation
Ein ähnlich „paradoxes Verschreibungsverhalten“ beobachtet Götte in Deutschland bei geriatrischen Patienten: „Häufig bekommen insbesondere sehr alte Patienten aus Furcht vor Blutungen keine orale Antikoagulation, sondern werden mit Plättchenhemmern behandelt. Und das obwohl diese Patienten von einer oralen Antikoagulation am meisten profitieren würden.“
Dass die Verschreibung von ASS aus Furcht vor Blutungen nur eine „Pseudo-Sicherheit“ vermittelt, habe schon vor 10 Jahren die BAFTA-Studie gezeigt, berichtet Götte: Bei über 75-jährigen Patienten mit Vorhofflimmern wurden darin die Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten und die Plättchenhemmung mit ASS verglichen. Ergebnis: „Die Blutungsrate unter oraler Antikoagulation war mit der unter ASS vergleichbar, die Schlaganfallprophylaxe war aber viel besser“, betont der Chefarzt der Medizinischen Klinik II – Kardiologie und internistische Intensivmedizin am St. Vincenz-Krankenhaus in Paderborn. „Viele Ärzte haben das Gefühl, dass es mit ASS weniger zu Blutungen kommt, aber dem ist gar nicht so.“
Auch Prof. Dr. Sanjay Deshpande, medizinischer Direktor der Abteilung für Elektrophysiologie am Columbia St. Mary’s Hospital in Milwaukee, USA, betont in einem Editorial: „Vielen Ärzten scheint nicht klar zu sein, dass ASS die Patienten einem Risiko für Blutungen aussetzt und dabei praktisch keinen Schlaganfallschutz bietet.“ [2]Er ergänzt, dass es inzwischen „aktuelle und eindeutige Evidenz“ gebe, die zeige, dass die Antikoagulation, und nicht ASS, die Therapie der Wahl sei, um bei Vorhofflimmern Schlaganfälle zu verhindern.
Noch scheint das Wissen um diese Evidenz nicht zu allen Ärzten vorgedrungen zu sein, aber die Situation werde von Jahr zu Jahr besser, berichtet Götte. Dies sei z.B. am GARFIELD-AF-Register sehr gut zu erkennen: In dieses Register werden seit 2010 alle 2 Jahre neue Kohorten von Patienten mit Vorhofflimmern eingeschlossen. „In der Kohorte von 2014/2015 werden schon rund 30% weniger Patienten nur mit einem Plättchenhemmer behandelt als in der ersten Kohorte von 2010.“
REFERENZEN:
1. Hsu JC, et al: J Am Coll Cardiol. 2016;67(25):2913-2923
2. Deshpande S, et al: J Am Coll Cardiol. 2016;67(25):2924-2926
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Diesen Artikel so zitieren: Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern: Ärzte scheuen noch zu oft die Antikoagulation - Medscape - 30. Jun 2016.
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