Riskant, aber auch wirksam – so könnte man die Ergebnisse einer Studie zur Stammzelltherapie gegen Multiple Sklerose (MS) zusammenfassen, die online in The Lancet veröffentlicht wurden [1]. Kanadische Ärzte erprobten an 24 Patienten eine Behandlung, bei der das eigene Immunsystem erst durch eine Chemotherapie „ausgeschaltet“ und dann durch eine autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation wieder „neu gestartet“ wurde.

Dr. Jan-Markus Dörr
Die Ergebnisse zeigen deutlich die Möglichkeiten, aber auch die Risiken der Behandlung: Ein Patient starb, während sich bei den anderen Patienten bemerkenswerte Verbesserungen zeigten.
„Das ist das Besondere an dieser Studie“, erklärt Dr. Jan-Markus Dörr vom NeuroCure Clinical Research Center der Universitätsmedizin Charité in Berlin und dem Ambulanten Multiple Sklerose Zentrum in Hennigsdorf gegenüber Medscape. „Bei einer kleinen Anzahl von Patienten kam die Krankheitsaktivität, sowohl was die klinische Aktivität, als auch was die radiographische Aktivität im MRT angeht, über einen Zeitraum von im Durchschnitt sechs Jahren komplett zum Stillstand.“
Ein „Reset“ des Immunsystems
Die Therapie beruht auf der Überlegung, dass die Ursache der MS ein fehlgeleitetes Immunsystem ist, dem eine Chance zu einem Neuanfang gegeben werden soll. „Die Idee an sich ist gar nicht mal so neu“, sagt Dörr. „Es ist naheliegend bei einer Autoimmunerkrankung, bei der man ja davon ausgeht, dass das Immunsystem letztlich fehlgeleitet ist.“
Dazu wurden zunächst immunologische Stammzellen aus dem Knochenmark mobilisiert und „geerntet“. Durch eine CD34-Anreicherung trennten die kanadischen Ärzte ausgebildete Immunzellen von den Stammzellen. Die aufgereinigten Stammzellen übertrug man den Patienten, nachdem eine Chemotherapie das Immunsystem des Patienten weitestgehend eliminiert hatte in der Erwartung, dass sich aus den Stammzellen ein neues Immunsystem bildet, das nicht mehr körpereigene Zellen angreift.
Deutliche Verbesserungen für fast alle Patienten
In der Studie von Dr. Harold L. Atkins vom Ottawa Hospital in Kanada und seinen Kollegen zeigten die 24 Patienten im Alter von 18 bis 50 Jahren vor der Behandlung Symptome einer aktiven, fortschreitenden MS: Mehrere früh auftretende Krankheitsschübe, Entwicklung von bleibenden Behinderungen innerhalb der ersten 5 Jahre und Fortschreiten der Krankheit trotz medikamentöser Behandlung. Patienten mit deutlichen Herz-, Nieren-, Lungen- oder Leberfunktionsstörungen oder anderen Krankheits- oder Sterblichkeitsrisiken waren von der Studie ausgeschlossen.
Während sie vor der Behandlung im Durchschnitt 1,2 Krankheitsschübe im Jahr hatten, trat danach durchschnittlich 6 Jahre lang bei 16 der 23 überlebenden Patienten kein Krankheitsschub mehr auf. MRT Bilder zeigten nach der Behandlung keine neuen Entzündungsherde in Gehirn oder Rückenmark. Der Grad der Hirnatrophie sank auf ein Maß, wie es bei gesunden Menschen die Regel ist.
„Das ist mit den bisherigen medikamentösen Therapieoptionen in dem Umfang bisher noch nicht gelungen“, stellt Dörr fest. „Auch da gibt es einen gewissen Anteil von Patienten, die über lange Zeiträume frei von Krankheitsaktivität bleiben“, beschreibt der Neurologe. „Allerdings gibt es dabei auch immer wieder einen gewissen Anteil an Patienten, die trotz der Medikamente weitere Krankheitsschübe haben, eine Zunahme der Behinderung erleiden oder bei denen sich im MRT Veränderungen zeigen.“
Eine Behandlung mit Risiken
Die Behandlung sei jedoch mit großen Risiken verbunden, das zeigten schon frühere Studien, erläutert Dörr: „Der limitierende Faktor ist jedes Mal das Risikoprofil“, betont der Neurologe. „Man hat es schon geschafft, das Risiko für schwerwiegende Komplikationen zu reduzieren, aber es bleibt weiterhin eine sehr risikoträchtige Behandlung.“ Auch in der aktuellen kanadischen Studie starb einer der 24 Patienten in Folge der Transplantation an massiver Lebernekrose nach Klebsiella-bedingter Sepsis.
Die Risiken ergeben sich zum einen durch die Zerstörung des Immunsystems, wodurch Patienten über einen gewissen Zeitraum komplett immunsupprimiert und daher Infekten schutzlos ausgeliefert sind. Zum anderen handelt es sich bei den Chemotherapeutika um toxische Substanzen, die auch Körperzellen in Mitleidenschaft ziehen können. „Das sind die Hauptrisiken, die diese Therapie mit sich bringt“, fasst Dörr zusammen: „die Immunsuppression und die Toxizität der Medikamente.“
Nicht für jeden geeignet, nicht überall machbar
Gerade wegen der großen Risiken, ist die autologe hämatopoetische Stammzelltherapie derzeit nur für MS Patienten denkbar, bei denen die Krankheit außerordentlich aggressiv verläuft und Medikamente keine oder nur eine sehr geringe Wirkung zeigen. Dörr ist diese Einschränkung sehr wichtig, denn die Studie von Atkins und seinen Kollegen sorgt derzeit bei Ärzten und Patienten für großes Aufsehen: „Weil diese kanadische Studie jetzt gerade sehr intensiv diskutiert wird, könnten viele Patienten sich vorstellen, dass das eine Therapie für sie sein könnte“, befürchtet der Neurologe. „Und dem muss man sicherlich ganz klar entgegenwirken.“
Ebenso wichtig ist ihm, dass diese Therapie nur im Rahmen von Studien durchgeführt wird und auch nur in entsprechend geeigneten Kliniken: „Es ist eine absolute Grundbedingung, dass jetzt nicht jeder anfängt nach Gutdünken solche Therapien durchzuführen“, betont er. „Denn es handelt sich um eine hochspezialisierte Therapie, die ein großes Know-how erfordert, die einen großen logistischen Aufwand und ein hohes Risiko mit sich bringt.“ Sein Fazit: „Das ist eine Therapie, die absolut hochspezialisierten Zentren vorbehalten bleiben muss.“
Noch 10 bis 20 Jahre bis zur breiteren Anwendung
Die kanadische Studie ist nicht die erste, in der versucht wird, MS Patienten durch eine autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation zu helfen. Etwa 2.000 MS Patienten sind weltweit schon auf diese Weise behandelt worden. Doch bevor an eine breitere Anwendung gedacht werden kann, sind noch weitere Studien notwendig. Auch die aktuelle Studie hat Schwachstellen, erinnert Dörr: „Es ist nur eine sehr kleine Studie mit 24 Patienten und es ist auch eine einarmige Studie, d.h. es gibt keine Vergleichsgruppe.“
Größere Studien mit einer Kontrollgruppe wären daher wünschenswert. Bevor die autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation im größeren Rahmen bei MS Patienten angewendet wird, werden daher wohl noch zehn bis 20 Jahre vergehen, erwartet Dörr: „Wenn es gelingt, das Risiko zu reduzieren und wenn es weitere Studien gibt mit mehr Patienten und entsprechenden Kontrollgruppen, dann könnte ich mir durchaus vorstellen, dass das für besondere Verläufe auch eine Therapieoption werden könnte.“
REFERENZEN:
1. Atkins HL, et al: Lancet (online) 9. Juni 2016
© 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Autologe Stammzelltherapie bei Multipler Sklerose: Riskant und vielversprechend zugleich - Medscape - 28. Jun 2016.
Kommentar