Bleiben die Briten oder verlassen sie die EU? Diese Frage ist seit den frühen Morgenstunden des 24. Juni 2016 geklärt: Die Mehrheit der Briten, knapp 52%, sprach sich in dem Referendum für den Austritt aus. Doch welche Konsequenzen hat der Brexit für das Gesundheitssystem, die Forschung, die pharmazeutische Industrie, den Austausch von Ärzten und Pflegekräften und die Gesundheitspolitik innerhalb des UK, der EU und auch für Deutschland?
Die Brexit-Befürworter hatten unter anderem damit geworben, dass Großbritannien jede Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel überweise. „Lasst uns stattdessen mit dem Geld das Gesundheitswesen finanzieren“, hieß es in einer der Kampagnen. Dieses Versprechen hat Brexit-Fürsprecher Nigel Farage, Chef der EU-feindlichen UK Independence Party (Ukip), schon im Frühstücksfernsehen „Good Morning Britain“ wieder relativiert. Er könne nicht garantieren, dass dieses Geld in den NHS (National Health Service) fließe, sagte er.
Schon im Vorfeld hatten die Redaktionen vom British Medical Journal und Nature sowie Verbände wie das Royal College of Physicians in den vergangenen Wochen vor dem Austritt Großbritanniens aus der EU gewarnt und Argumente dagegen gesammelt [1;2;3]. Ihr Fazit: Ein Austritt könnte der Gesundheit Englands schaden – vor Risiken und Nebenwirkungen wird gewarnt. Sie sind gegen einen Brexit, weil sie bei einem möglichen Austritt aus dem Verbund der 28 Mitgliederstaaten mehr Nachteile als Vorteile sehen.
„Beide – Europa und England – sind besser und sicherer, wenn wir für den Verbleib stimmen“, schreiben die BMJ-Chefredakteurin Fiona Godlee und ihre Kollegen in einem Feature, mit dem Titel: „Warum Ärzte für einen Verbleib in der EU stimmen sollten“. Es sei eher ungewöhnlich, dass man sich als Journal in eine politische Debatte einmische, räumte die Redaktion ein. Das BMJ hat in den letzten Wochen eine Artikelserie über die möglichen Folgen eines Brexit für Ärzte, Forscher und Pharmawirtschaft publiziert. Und ist zum Schluss gekommen, dass die Argumente innerhalb der Wissenschaft für einen Verbleib überwältigend seien, erklärt Godlee.
Auch ein kürzlich erschienenes Editorial von Nature positioniert sich eindeutig gegen den Austritt von England. „Außerhalb der EU wird sein Einfluss verschwinden“, warnt Nature. In einer Umfrage fand das Journal heraus, dass 83% von über 2.000 befragten Wissenschaftlern innerhalb des UKs und der EU dafür sind, dass die Briten in der EU bleiben, nur 12% waren für einen (Br)Exit: „UK ist zu klein, um in der Isolation ein Weltklasse-Programm aufrechtzuerhalten“, sagt einer der befragten Wissenschaftler.
BMJ und Nature schließen sich also einer Mehrheit von Brexit-Gegnern in (medizinischen) Fachkreisen an. Ausführliche Argumente für den Gesundheitsbereich gibt es auf der Homepage des Royal College of Physicians, im Rahmen eines „Call for Views“.
Folgen für Ärzte, Pflegekräfte und Patienten
Das britische Gesundheitssystem, der National Health Service (NHS), ist auf Ärzte und Pflegekräfte aus der EU angewiesen. 11% der Ärzte im UK, rund 30.000 Mediziner, sind in einem anderen europäischen Land ausgebildet worden, so das BMJ in seiner Artikelserie zur Brexit-Debatte. Zwar würden diejenigen, die in England arbeiten, nicht gleich nach Hause geschickt werden, wenn die Zugbrücke hochgezogen würde, doch der Austritt aus der EU würde auf lange Sicht das Recht der Arbeitnehmer gefährden, sich innerhalb der EU freizügig zu bewegen.
Ein Ende der Bewegungsfreiheit innerhalb des britischen Gesundheitssystems hätte ernsthafte Folgen für Patienten, die zum Beispiel auch auf Dienstleistungen von Pflegekräften angewiesen seien, warnt die britische Gesundheitspolitikerin Sarah Wollaston in einem Beitrag für das BMJ.
Ärztliche Berufsverbände befürchten, dass der EU-Austritt die Arbeitsbedingungen für britische Ärzte in Sachen Arbeitszeiten verschlechtern könnte. Die EU sieht für Ärzte begrenzte Arbeitszeiten von 48 Stunden pro Woche vor, wobei es britischen Chirurgen vorbehalten ist, es mit einem „opt out“ anders zu machen. Befürchtet wird, dass je nach Fachgebiet unterschiedliche Arbeitszeiten festgelegt werden könnte: Keiner wolle zu den Zeiten zurückkehren, als Ärzte auch für Patienten gefährlich lang gearbeitet haben, monierte etwa laut BMJ die British Medical Association.
Folgen für das britische Gesundheitssystem
EU-Befürworter ärgern sich über Milchmädchen-Rechnungen, die lautstark in der Öffentlichkeit kundgetan werden: England überweise jede Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel, dieses Geld könne der britische Staat besser für eigene Zwecke verwenden, so die Brexit-Anhänger. Diese Argumente seien schlichtweg falsch, urteilt das Nature-Editorial. Rechne man das Geld ein, das UK zurückbekommt aus der EU, seien es weniger als 161 Millionen Pfund pro Woche, die an die EU gehen. Auch müsse man dies in Relation sehen: England gebe pro Jahr für die EU einen Nettobetrag von 8,8 Milliarden Pfund aus. Dies sei nur knapp 1% der Gesamtausgaben in Höhe von 735 Milliarden Pfund im Haushaltsjahr 2014/2015.
Zwar versprechen sich die Brexit-Befürworter, dass die Mittel, die sich UK aufgrund des EU-Austritts spare, auch in das Gesundheitswesen gepumpt werden sollen, doch daran glauben die EU-Anhänger kaum. Vielmehr rechnet man in einer Post-Brexit-Phase mit einer wirtschaftlichen Rezension, die zunächst einmal dazu führen werde, dass die Ausgaben im Gesundheitswesen beschnitten werden müssten. Die Economist Intelligence Unit prognostizierte und kalkulierte, dass sich unter dem Einfluss eines Brexit auf die Wirtschaft die Ausgaben im Gesundheitsbereich um 135 Pfund pro Kopf verringern werden, ein Einschnitt an der das englische NHS kranken würde.
Folgen für die öffentliche Gesundheit
Ein beängstigendes Outcome des Brexits wäre auch das künftig fehlende Engagement der Briten, etwa innerhalb des European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC), wie das BMJ schreibt: Das UK hätte kaum mehr etwas zu sagen im konzertierten Vorgehen der EU-Mitgliedstaaten bei grenzübergreifenden Bedrohungen wie Ebola oder Schweinegrippe.
Wenn UK nach einem Brexit dem Europäischen Wirtschaftsraum beitreten würde wie Norwegen, Island oder Liechtenstein, wäre es zwar Beobachter und Berater, aber kein Gestalter mehr. Entschließen sich die Briten nach einem Brexit auch nicht dem europäischen Wirtschaftsraum beizutreten, müssten sie eine eigene Gesetzgebung zu Infektionskrankheiten schaffen.
Folgen für Forschung und Universitäten
Eine der größten Sorgen innerhalb der Wissenschaft und Medizin ist, dass der Austausch von Wissenschaftlern und wichtige Forschungskooperationen innerhalb der EU gestoppt werden könnten. Entscheidet sich England für einen Austritt, herrscht zunächst einmal Planungsunsicherheit, die schädlich für jede Zusammenarbeit ist. Wissenschaftler, die einen Auslandsaufenthalt planen, wissen nicht, wie lange sie sich noch problemlos in UK aufhalten können. Die Briten, die die besten Forscher aus aller Welt anziehen, wissen aus Erfahrung, dass der bürokratische Aufwand mit Ländern wie den USA oder Kanada ungleich schwieriger ist, wenn sie von dort Personal rekrutieren.
Immerhin 62% der UK-Forschung findet in internationalen Forschungen statt – laut des Faktenblattes der Initiative Scientists for EU. Besonders stark engagiert sind die Briten im Bereich der Krebsforschung innerhalb der EU. Entsprechend fürchten zum Beispiel führende Onkologen die mögliche Isolierung britischer Wissenschaftler, wie Medscape berichtete. Sie rechnen mit einer Reduktion von Personal und Ausstattung im Bereich der Krebsforschung, wie es auch in Kommentaren in Lancet Oncology zum Ausdruck kommt.

Prof. Dr. Otmar D. Wiestler
Quelle: Steffen Jänicke
Eine Absonderung von EU-Projekten könnte dazu führen, dass Patienten mit Krebs aufgrund der Unwägbarkeiten der Forschungsfinanzierung keinen Zugang zur Behandlung bekommen, heißt es auch im Lancet-Editorial. Schaden nehme würde auch die Medizinforschung, da sich sowohl der Staat als auch die pharmazeutische Industrie mit Finanzierungen abwartend verhalten könnten, bis neue Vereinbarungen zwischen UK und EU verhandelt werden – und dies kann sich hinziehen.
„Während Wissenschaftler alles dafür tun werden, um die Verbindungen aufrechtzuerhalten, wird unser Einfluss von außen sich erheblich vermindern“, betont Wollaston. Auch der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, Prof. Dr. Otmar D. Wiestler, unterstrich den unverzichtbaren Austausch in Forschungsvorhaben, Clustern und Verbünden, in denen viele herausragende UK-Wissenschaftler essentielle Partner seien und die den europäischen Forschungsraum im internationalen Wettbewerb einmalig machten. „Als Nicht-EU-Mitglieder hätten sie es künftig schwerer, aktiv darin mitzuwirken“, so Wiestler.

Prof. Dr. Colin Riordan
In Großbritannien sehen Universitäten und Wissenschaftler ihre Stellung in der Spitzenforschung bedroht. „Internationale kooperative Forschung wird um 50 Prozent häufiger zitiert, als Forschung, die nur in einem Land stattfindet“, so Prof. Dr. Colin Riordan, Präsident der Cardiff University, die auch Mediziner ausbildet, gegenüber Medscape. Auch für klinische Studien, die mit Mitteln der EU durchgeführt werden, bietet es mehr Vorteile, auf einen Pool von 500 Millionen Einwohner zurückgreifen zu können, als nur Studien mit 3 Millionen Einwohnern aus Wales durchzuführen, so Riordan.
Riordan war vor kurzem als Delegationsmitglied von UK-Rektoren zu Gast bei der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in Deutschland. Deutsche und britische Rektoren befürchten die „verheerenden Folgen“ eines Brexit in Sachen Forschungsaustausch, wie sie in einer gemeinsamen Pressemitteilung zum Ausdruck bringen. Die britischen Universitäten haben zudem die Initiative „Universities for Europe“ gestartet.
Deutliche Worte findet der HRK-Präsident Prof. Dr. Horst Hippler: „Großbritannien und Deutschland gehören zu den führenden Nationen Europas bei der Hochschulbildung und der universitären Forschung. Beide Länder profitieren enorm vom Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern und von der außerordentlich engen Forschungszusammenarbeit. Die Europäische Union bietet den Rahmen für die erfolgreiche Kooperation britischer und deutscher Hochschulen. Neue Grenzen würden uns um Jahre zurückwerfen.“
Rund 125.000 Studierende an den britischen Hochschulen stammen aus anderen EU-Ländern, die etwa über Programme wie Erasmus ins Land kommen, so Riordan, der auch Vorsitzender der „UK Higher Education International Unit“ ist. Nach einem Brexit hätten Studierende aus anderen EU-Ländern kein Recht mehr darauf, vom britischen Staat ein Darlehen zu erwerben, um die hohen Studiengebühren in England zu finanzieren, erläutert er. Wenn dann nach einem Brexit in den nächsten Jahren die Anzahl der Studierenden aus anderen EU-Ländern dramatisch schrumpfe, dann hätte dies auch eine negative Folge für die britischen Universitäten, da sie auch aufgrund der Studentenzahlen bezuschusst werden. „Das wäre ein schwerer Rückschlag für uns, die Verluste werden wir vielleicht erst in zehn Jahren wieder mühsam reingeholt haben“, so Riordan.
Versiegende Geldquelle aus EU-Töpfen
England war in Vergangenheit extrem erfolgreich, wenn es um die Einwerbung um EU-Forschungsmittel ging, unter anderem aus dem Topf des EU-Programms Horizon, ein Finanztopf von 80 Milliarden Euro für die Jahre 2014 bis 2020. Knapp 16% der Horizon-Gelder gingen nach UK, Großbritannien sei auf Platz 2 der Empfängerländer, weiß Wiestler. Diese Geldquelle würde ihnen bei einem Brexit versiegen.
England hätte letztlich auch keinen Einfluss mehr, in EU-Programme mitzuwirken. Auch wenn es wie im Falle anderer europäischen Ländern, die Nicht-Mitglieder der EU sind, gehen könnte, sich in solche Programme einzukaufen, könnten die Briten jedoch keinen gestaltenden Einfluss mehr in Brüssel nehmen.
Schmerzlich fehlen würde nicht nur den deutschen Wissenschaftlern der geschätzte englische Pragmatismus. Die Briten haben sich zum Beispiel mit den Deutschen dafür stark gemacht, dass EU-Gelder für Hochschulen und Forschung nicht nach regionalem Bedarf, sondern nach Exzellenz-Kriterien vergeben werden.
Folgen für die Pharmaindustrie
Auch die Global Player in der Pharmaindustrie sind gegen einen Brexit. Der Dachverband der europäischen Pharmaindustrie (EFPIA) hat sich in einer Pressemitteilung gegen einen Austritt aus der EU ausgesprochen. Nur über die EU-Mitgliedschaft könnten etwa die britischen Pharmaunternehmen von grenzübergreifenden F&E-Kooperationen, dem Binnenmarkt und der rechtlichen sowie regulatorischen Harmonisierung profitieren, hieß es dort. Das Szenario eines Brexits sorge zudem für Verunsicherung in der Branche, da Auswirkungen auf den Status der in London ansässigen EU-Zulassungsbehörde EMA zu erwarten seien.
Nach einem Brexit wird sich wohl auch die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) aus London verabschieden. Dies hätte auch Konsequenzen für die Pharmawirtschaft. London war bislang ein attraktiver Ort für die Global Player, um ihre klinischen Studien durchzuführen. Die britische Regulationsbehörde – die Agentur für Medizin- und Gesundheitsprodukte (MHRA) – führt immerhin 30% der Zulassungen im Auftrag der EMA durch, berichtete das BMJ in einem Feature über die Pharmaindustrie und den Brexit.
Zwar könnte Großbritannien als Teil des europäischen Wirtschaftsraums sich auch unter den Schirm der EMA begeben und eine Autorisierung für den Zugang zum Binnenmarkt erhalten, um Medikamente in Europa zu verkaufen. Doch die Briten würden ihren Einfluss auf das Vorgehen der EMA verlieren. Bisher hatte die britische Pharmaindustrie auch frühen Zugang zum Markt für Medikamente über sogenannte adaptive Zulassungsverfahren. Die Kriterien haben die Briten wesentlich mitgeprägt – eine Rolle, die sie dann innerhalb der EU verlieren würden.
Verlöre England seinen Zugang zum EU-Binnenmarkt, dann wäre das eine enorme Hürde – etwa für die britische Biotechindustrie: England macht etwa nur 3% des globalen Marktes aus – verglichen mit dem EU-Markt-Anteil in Höhe von 27%.
Politische Folgen: Nationalismus – ein Übel wie Masern, Mumps und Röteln
„Diejenigen, die den Austritt vom UK wollen, ähneln den Lobbyisten in der Impfgegnerschaft, die das Übel von Masern, Mumps und Röteln vergessen haben und sich den angeblichen Schäden durch die Impfstoffe zuwenden“, betonen BMJ-Chefredakteurin Godlee und ihre Kollegen. Ganz ähnlich hätten auch die Brexit-Befürworter das Übel von bösartigem Nationalismus in Europa vergessen – nach 2 Weltkriegen und einer momentan wiedererstarkenden Nationalismusbewegung in Polen, Ungarn, Österreich und in anderen Ländern.
Wenn UK aus Europa ausschert, könnte dies ein Signal für andere Länder in Europa sein, so das BMJ-Editorial. Europa sei nicht perfekt und benötige Reformen – besonders bezüglich der Demokratisierung der europäischen Institutionen, darin sind sich viele Brexit-Gegner einig. Doch das Mitgestalten einer Weiterentwicklung der EU sei besser als eine Isolation auf der Insel, so das Fazit der EU-Anhänger.
REFERENZEN:
1. Godlee F et al: BMJ (online) 14. Juni 2016; 353:i3302
2. Nature 2016 (online) 16. Juni 2016; 295
3. Royal College of Physicians (online) 2. Juni 2016
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Diesen Artikel so zitieren: Brexit: Ein Austritt könnte der Gesundheit Englands schaden – vor Risiken und Nebenwirkungen wird gewarnt - Medscape - 21. Jun 2016.
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