Würzburg –Die UN-Vollversammlung hat den heutigen Tag zum Weltflüchtlingstag erklärt, um auf die große Not der Flüchtlinge aufmerksam zu machen. Auch auf dem 13. Kongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin widmeten sich Experten dem drängenden Thema: Sie appellierten an die Politik, Flüchtlingen, Migranten und Asylsuchenden in Deutschland das gleiche Recht auf medizinische Versorgung zu gewähren wie der einheimischen Bevölkerung [1]. „Das Menschenrecht auf Gesundheit ist nicht für alle gewahrt. Wir stratifizieren, und das ist nicht okay“, sagte etwa Prof. Dr. August Stich, Chefarzt der Tropenmedizinischen Abteilung der Missionsärztlichen Klinik Würzburg. Außerdem wurde die Frage thematisiert, ob Flüchtlinge vermehrt Infektionskrankheiten einschleppen.

Prof. Dr. August Stich
Stich, der auch stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Tropenmedizin und Internationale Gesundheit ist, forderte die „individuelle Betrachtung eines jeden Patienten und niederschwellige Versorgungsangebote“. Das Argument von Seiten der Politik, dies verursache zu hohe Kosten, will Stich nicht gelten lassen. Er verwies auf das „Würzburger Modell“, bei dem seit 2008 rund 500 Flüchtlinge auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne durch Mitarbeiter seiner Klinik versorgt werden.
Das „Würzburger Modell“
Tagsüber ist dort eine Krankenschwester vor Ort, die medizinische Fragen und Probleme der Patienten erfasst und fachärztliche Sprechstunden mit wechselnder Besetzung vorbereitet. Zusätzlich werden die Flüchtlinge durch eine kleine Gruppe ehrenamtlich arbeitender Psycho- und Traumatherapeuten betreut. Obwohl dieses System letztendlich sogar Kosten spare, könnten die Leistungen dieser Therapeuten fast nie über das geltende System abgerechnet werden, klagte Stich.

Dr. Anne Bunte
„Der entscheidende, auch ökonomisch wichtige Faktor ist die Tatsache, dass durch das kontinuierliche, niederschwellige Angebot Ordnung und Systematik in die medizinische Versorgung von teilweise schwer kranken Menschen gebracht wird. Krankheiten können früher erkannt und behandelt werden, was auf lange Sicht Kosten einspart.“ Als Beleg dafür verweist der Infektiologe darauf, dass die Zahl der Notarzteinsätze oder Alarmierungen des ärztlichen Bereitschaftsdienstes in der Unterkunft massiv zurückgegangen ist.
Versicherungsschutz vom Tag der Ankunft?
Als Vorbild für die bundesweite Flüchtlingsversorgung will Stich das „Würzburger Modell“ aber nicht verstanden wissen, weil man dort nicht zuletzt mit freiwilligen Helfern eine staatliche Lücke geschlossen habe. „Stattdessen wäre eine Systemänderung von Nöten, die Asylbewerbern bundesweit und vom ersten Tag der Ankunft an Versicherungsschutz gewährt und einen niederschwelligen Zugang zu Versorgungsstrukturen ermöglicht.“
Ähnliche Forderungen äußerte in Würzburg die Leiterin des Kölner Gesundheitsamtes Dr. Anne Bunte. „Die Menschen haben das gleiche Recht auf eine medizinische Versorgung; es darf dabei keine zwei Standards geben“, sagte Bunte während des Kongresses.
Die Medizinerin präsentierte eine Erhebung der Ambulanz in einer Kölner Notunterkunft sowie Daten zu den etwa 13.000 Flüchtlingen, die der Stadt Köln von den Erstaufnahmestellen zugewiesen wurden „oder die sonst wie hier aufgetaucht sind.“ In der Notunterkunft, wo im Januar 2015 eine Sprechstunde eingerichtet und eine niederschwellige Versorgung etabliert wurde, erfasste man anonymisiert die Patientendaten zwischen Mai und Dezember des Jahres, befragte zudem schriftlich alle teilnehmenden Ärzte, Krankenschwestern und Sozialarbeiter und führte mit Subgruppen der Flüchtlinge qualitative Interviews.
Entsprechend den bundesweiten Trends überwogen männliche Flüchtlinge mit etwa 2/3, und es gab eine Zunahme von Migranten aus Syrien, Nordafrika und dem mittleren Osten bei gleichzeitiger Reduktion von Flüchtlingen aus den Balkanstaaten. Unter den 961 erfassten Besuchen in der Erwachsenensprechstunde wurden 65% wegen akuter Beschwerden vorstellig, 28% hatten ein chronisches Leiden. Kopf- und Rückenschmerzen, gefolgt von Infektionen der oberen Atemwege. Auf 810 Behandlungskontakte folgten 173 Überweisungen, davon 8,1% ins Krankenhaus und 7,5% zur dauerhaften Behandlung bei einem Allgemeinmediziner.
Sprachprobleme sind am häufigsten
Befragt nach den Schwierigkeiten im Patientenkontakt nannten die Ärzte, Krankenschwestern und Sozialarbeiter mit fast 50% am häufigsten Sprachprobleme, gefolgt von einem Trauma und dem niedrigen Bildungsstand der Betroffenen. Insgesamt sei das Sprechstundenangebot gut angenommen worden, und die Akteure hätten gut zusammengearbeitet, sagte Bunte.
In ihrem Vortrag gab die Medizinerin auch einen Überblick zur Gesamtsituation in Köln. Mit einer Abfrage der Meldedaten gemäß Infektionsschutzgesetz (IfSG) konnte sie das Gerücht entkräften, dass Flüchtlinge Infektionen einschleppen würden. In dieser Statistik ist für die Jahre 2012 bis 2015 in Köln keine Zunahme der Infektionen zu erkennen.
Auch die aktuelle Statistik zu übermittelten meldepflichtigen Infektionskrankheiten in Deutschland birgt für Bunte keine großen Überraschungen: Dort ragen für die 1. bis 17. Kalenderwoche 2016 767 Fälle von Tuberkulose heraus, gegenüber 2.042 in der Allgemeinbevölkerung. Außerdem fand man 1.307 Diagnosen der Windpocken (gegenüber 11.051 in der Allgemeinbevölkerung), sowie 298 Fälle von Hepatitis B (972 in der Allgemeinbevölkerung). Insgesamt zeigten diese Zahlen, „dass bei Asylsuchenden impfpräventable Krankheiten im Vordergrund stehen, dass bei Screening-Untersuchungen erwartungsgemäß Fälle mit Tuberkulose, Hepatitis B und C gefunden werden und dass nur vereinzelt Fälle von schwerwiegenden importierten Krankheiten wie Typhus und Läuse-Rückfallfieber übermittelt wurden“, verlautbarte das Robert Koch-Institut.
„Flüchtlinge bedeuten keine erhöhte Infektionsgefährdung für die Allgemeinbevölkerung“, fasste Bunte ihren Vortrag zusammen. Sie benötigten allerdings eine individuelle, bedarfsgerechte medizinische Versorgung. Der Zugang zur Regelversorgung sei ein erster Schritt der Integration, und man müsse bei Bedarf in den Einrichtungen niedrigschwellige Angebote machen, wie das auch kürzlich im Kölner Statement zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen durch 4 Fachgesellschaften gefordert wurde.
Häufigste Infektion bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge: Helicobacter pylori

Prof. Dr. Alexander Krämer
Dass es keine erhöhte Infektionsgefahr durch Flüchtlinge gibt, darauf deuten auch weitere Daten hin, die während des Kongresses präsentiert wurden. Zwar sei die Datenlage schlecht, und es mangele noch an systematischen Untersuchungen zur gesundheitlichen Belastung von Flüchtlingen und Migranten in Deutschland. „Dennoch gibt es keinen Grund, die Lage zu dramatisieren“, sagte Prof. Dr. Alexander Krämer von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld.
Seine Einschätzung stützt Krämer auch auf eine eigene Studie mit 256 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen im Durchschnittsalter von 16 Jahren: Diese Flüchtlinge wurden in einer Praxis für Tropenmedizin in Bielefeld hinsichtlich ihrer Krankheitslast untersucht [2]. Teil des Protokolls waren ein großes Blutbild, Hepatitis B- und C-Serologie, der Nachweis von Helicobacter pylori im Stuhl (aufgrund eines eigenständigen Forschungsprojektes), Bilharziose-Antikörper (für Flüchtlinge aus Endemie-Gebieten), sowie eine parasitologische und bakteriologische Stuhluntersuchung und ein Röntgenthorax.
Als offenkundig frei von Krankheiten erwiesen sich bei 536 Diagnosen 17,6% der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF). Positive Diagnosen fielen bei 35,6% in die ICD-10-Kategorie „Infektionen“. 16,4% hatten Krankheiten des Verdauungssystems, 7,5% des Blutes und der blutbildenden Organe, 5,8% waren an Haut und Unterhaut erkrankt, und 5,6% litten an Atemwegserkrankungen. Vergleichsweise selten waren mit 4,7% psychische und Verhaltensstörungen. Dies könne jedoch durch die Spezialisierung der diagnostizierenden Ärzte zu erklären sein, deren Fokus auf Infektionskrankheiten lag, erläuterte Krämer.
Unter den nachgewiesen Infektionen sticht Helicobacter pylori hervor – der Keim war bei 17,7% der UMF nachweisbar. Schon die zweithäufigste Infektion – eine Bilharziose - war mit 3% wesentlich seltener. Es folgten eine Lambliasis (2,4%) und weitere Helminthosen mit zusammen 2,2%. Eine chronische Hepatitis B wurde bei 2,1% der UMF festgestellt, weitere 0,9% waren an dieser Virusinfektion nicht chronisch erkrankt. Amöbiasis und Krätze stellten Krämer und seine Kollegen jeweils bei 1,5% der UMF fest, eine Mykose bei 1,1% der Studienteilnehmer.
Nicht überraschend, aber möglicherweise auch nicht repräsentativ
All diese Zahlen aus der verhältnismäßig kleinen Untersuchung seien nicht sehr überraschend, möglicherweise aber auch nicht repräsentativ, warnte Krämer. „Das war eine schöne kleine Untersuchung für Bielefeld, mehr nicht.“ Insgesamt hätten die bisherigen Studien mit Flüchtlingen einen „größtenteils geringen infektionsepidemiologischen Erkenntnisgewinn“ gebracht. Die gefundenen Erreger und deren Häufigkeit seien angesichts der Situation in den Herkunftsländern weitgehend vorhersehbar gewesen.
Trotzdem ist Krämer gerade ein auf 4,5 Jahre angelegtes Folgeprojekt genehmigt worden, bei dem alleine 13 Doktoranden beteiligt sein werden. Bei dem Projekt soll eine wesentlich größere Zahl von Flüchtlingen untersucht werden.
Die Flüchtlingsmedizin stellte einen der Schwerpunkte des viertägigen Kongresses dar, auf dem insgesamt etwa 1.200 Spezialisten erwartet wurden, sagte Kongresspräsident Prof. Hartwig Klinker, Leiter der Infektiologie der Medizinischen Klinik und Poliklinik am Universitätsklinikum Würzburg.
Flucht und Vertreibung 2015: „Trauriges Rekordniveau“ Die Gesamtzahl der Flüchtlinge, Binnenvertriebenen und Asylsuchenden liegt weltweit bei rund 65 Millionen Menschen. Damit erreicht „die Zahl der von Flucht und Vertreibung betroffenen Menschen ein trauriges Rekordniveau“. Das teilte das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR zum heutigen Welt-Flüchtlingstag in ihrem Jahresbericht mit. Von diesen rund 65 Millionen Menschen warten 3,2 Mio. auf die Entscheidung ihres Asylantrags, 21,3 Mio. Menschen sind auf der Flucht außerhalb ihres Heimatlandes und 40,8 Mio. innerhalb ihres Heimatlandes. Seit Mitte der 1990er-Jahre haben Flucht und Vertreibung weltweit zugenommen, in den vergangenen 5 Jahren „schnellten die Zahlen rasant nach oben.“ Einer der Gründe dafür ist, dass Konflikte immer länger andauern oder neu aufflammen – der größte davon ist der Syrien-Konflikt. Die Hälfte der Flüchtlinge kommt aus nur 3 Ländern: Syrien (4,9 Mio.), Afghanistan (2,7 Mio.) und Somalia (1,1 Mio.). Kolumbien hat die meisten Binnenvertriebenen (6,9 Mio.), Syrien folgt mit 6,6 Mio. Weltweit größtes Aufnahmeland von Flüchtlingen ist die Türkei (2,5 Mio.) Die Hälfte der Flüchtlinge ist unter 18 Jahre alt. Weltweit wurden über 98.000 Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen registriert – der höchste Wert seit Beginn der UNHCR-Aufzeichnungen. |
REFERENZEN:
1. 13. Kongress für Infektionskrankheiten und Tropenmedizin, 15. bis 18. Juni 2016, Würzburg.
2. Spallek J, et al: Bundesgesundheitsblatt 2016;59(5):636-641
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Diesen Artikel so zitieren: KIT 2016 zu Flüchtlingen, Migranten und Asylsuchenden: Menschenrecht auf medizinische Versorgung endlich umsetzen - Medscape - 20. Jun 2016.
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