Gibt es eine Form der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), die erst im Erwachsenenalter auftritt? Das legen die Arbeiten von 2 Autorenteams aus Brasilien und Großbritannien nahe, die Ergebnisse ihrer Kohortenstudien kürzlich im JAMA Psychiatry publizierten. „Die Ergebnisse dieser Studie unterstützen die Annahme nicht, dass Erwachsenen-ADHS notwendigerweise eine Fortsetzung der Kinder-ADHS ist. Sie legen vielmehr die Existenz zweier Syndrome mit verschiedenen Entwicklungspfaden nahe“, betonen die Autoren der brasilianischen Studie um Arthur Caye aus dem ADHD Outpatient Program am Hospital de Clinicas de Porto Alegre [1].
Dr. Jessica C. Agnew-Blais vom Institute of Psychiatry des King's College London und ihre Kollegen ziehen aus der britischen Studie das Fazit: „Das Ausmaß, in dem im Kindesalter beginnende ADHS und spät beginnende ADHS unterschiedliche Ursachen widerspiegeln könnten, hat Implikationen für genetische Studien und die Behandlung der ADHS [2].“

Dr. Johannes Streif
Den Psychologen Dr. Johannes Streif, Mediensprecher von ADHS Deutschland e. V. (Selbsthilfe für Menschen mit ADHS) mit Sitz in Berlin, überzeugen die Schlussfolgerungen aus den Studien nicht. Schon die diagnostischen Tools, die zu den ADHS-Diagnosen führten, seien unzureichend gewesen, kritisiert er.
„Noch schwerer wiegt das weitgehende Fehlen von Aussagen in den Kohortenstudien, welche Behandlungen und/oder anderweitigen Maßnahmen die Probanden durchliefen, bei welchen die ADHS bereits im Kindesalter diagnostiziert wurde“, merkt er zudem an. Somit zeigten die Studie zwar einmal mehr, dass ADHS auch Erwachsene belastet, aber: „Von einer spät beginnenden ADHS oder late-onset ADHD sollte hingegen zum jetzigen Zeitpunkt nicht gesprochen werden.“
Brasilien: Haben mehr Erwachsene als Kinder ADHS?
Mithilfe der 5.249 im Jahr 1993 in der Großstadt Pelotas geborenen Menschen, der 1993 Pelotas Birth Cohort, wurden schon einige Studien durchgeführt. In der ersten ADHS-Befragung dieser Kohorte wurden die Daten von 4.426 Kindern erfasst, in der zweiten die von 4.039 jungen Erwachsenen. Insgesamt lag die Retentionsrate bei 81,3%. Bei der ersten ADHS-Befragung waren die Teilnehmer 11 Jahre alt, und die Wissenschaftler ließen ihre Eltern die Fragen des Strenghts and Difficulties Questionnaire (SDQ) beantworten.
Keine gute Wahl, betont Streif: „Beim SDQ handelt es sich um ein frei verfügbares Instrument, das letztlich eine reduzierte Version des Achenbach System of Empirically Based Assessment (ASEBA) darstellt, zu dem u.a. die Child Behavior Checklist (CBCL), der Youth Self Report (YSR) und die Teacher Report Form (TRF) gehören“, verdeutlicht er. „Diese Fragebögen sind weitaus umfangreicher und empirisch besser validiert“, so Streif. „Ihre Syndromskalen erfassen sowohl Aufmerksamkeitsprobleme als auch Aggression und Delinquenz und erlauben damit eine präzisere ADHS-Diagnose.“
Den zweiten SDQ-Fragebogen beantworteten die brasilianischen Studienteilnehmer dann selbst im Alter von 18 oder 19 Jahren. Das Ergebnis beider Testungen präsentieren die Autoren wie folgt: „Mit elf Jahren war Kindheits-ADHS, kurz C-ADHD, bei 393 Teilnehmern (8,9%) vorhanden. Mit 18 bis 19 Jahren erfüllten 492 Individuen (12,2%) alle DSM-5-Kriterien für ADHS. (…) Jedoch hatten nur 60 Kinder (17,2%), die ADHS gehabt hatten, als junge Erwachsene weiterhin ADHS, und nur 60 junge Erwachsene (12,6%) mit ADHS hatten die Störung schon in ihrer Kindheit.“
Unter den Erwachsenen mit ADHS fanden sich unabhängig vom Alter der Erstdiagnose erhöhte Raten an Verkehrsunfällen, kriminellem Verhalten, Haftstrafen, Suizidversuchen, psychiatrischen Komorbiditäten und Suchtverhalten. Auffällig: Waren unter den 11-Jährigen mit der Diagnose ADHS noch 63,9% männlich gewesen, waren es unter den 18- bis 19-Jährigen nur noch 39%.
Großbritannien: Wer spät ADHS-Symptome zeigt, hat einen höheren IQ
Eine ähnliche Geschlechterverteilung zeigte sich in Großbritannien: Hier waren in der sogenannten Environmental Risk (E-Risk) Study 72,5% der Kinder mit später remittierter ADHS männlich, 66,7% der Kinder, deren ADHS im Erwachsenenalter persistierte, ebenfalls. Unter den jungen Erwachsenen mit der Diagnose late-onset ADHD befanden sich hingegen nur zu 44,6% Männer.
Zu diesen Ergebnissen gelangte das Forscherteam, indem es die Daten einer für England und Wales repräsentativen Kohorte von 2.232 Zwillingen analysierte. Alle waren zwischen 1994 und 1995 zur Welt gekommen. 2.040 Personen wurden für die Studie auf ADHS untersucht – mit 5, 7, 10 und 12 sowie mit 18 Jahren. Die Fragen waren von den DSM-5-Kriterien abgeleitet und um die Rutter Child Scales ergänzt, die Antworten stammten von den Müttern und Lehrern der Teilnehmer. Die jungen Erwachsenen beantworteten ihre vom DSM-5 abgeleiteten Fragen hingegen selbst, zusätzlich interviewten die Wissenschaftler Ko-Informanten aus dem Umfeld der Teilnehmer.
So ergaben sich folgende Kernergebnisse: „247 Individuen erfüllten die diagnostischen Kriterien für Kindheits-ADHS, von ihnen erfüllten 54 (21,9%) noch mit 18 die diagnostischen Kriterien für die Störung“, informieren Agnew-Blais und ihre Kollegen. Die Studienteilnehmer, bei denen ADHS anhielt, zeigten mehr Symptome (OR: 1,11; 95%-KI: 1,04-1,19) bei einem niedrigeren IQ (OR: 0,98; 95%-KI: 0,95-1,00) als jene mit remittierter ADHS. Insgesamt bekamen 166 18-Jährige (8,1%) die Diagnose ADHS, davon 112 (67,5%) erstmals.
„Individuen, die spät ADHS bekamen, wichen von denen mit persistierender ADHS im Alter von 18 in mehreren Bereichen ab“, betonen Agnew-Blais und ihr Team. So hatten Erwachsene mit late-onset ADHD zwar im Durchschnitt einen höheren IQ. Sie erreichten aber ungefähr gleiche Werte in Bezug auf Lebenszufriedenheit, Arbeitsbereitschaft und Bildungsstand wie Erwachsene mit persistierender ADHS. In Bezug auf psychiatrische Störungen zeigte sich: „Beide Gruppen wiesen höhere Raten an generalisierten Angststörungen, Verhaltensstörungen und Abhängigkeit von Marihuana auf“, informieren die Autoren. „Individuen mit late-onset ADHD zeigten signifikant höhere Raten an Alkoholabhängigkeit, verglichen mit jenen mit persistierender ADHS (OR: 3,40; 95%-KI: 1,31-8,84).“
Letzteres verwundert Streif nicht. Er vergleicht das Leben mit late-onset ADHD mit dem mit einer Behinderung, die einem schweren Unfall folgt. Während Menschen, die von klein auf mit einem Handicap leben, früh Unterstützung erfahren und sich an ihre Beeinträchtigungen gewöhnen, müssen Erwachsene, die plötzlich verunglücken, schwierige Anpassungsprozesse durchlaufen, erklärt er. Ähnlich könne es Menschen gehen, die in Kindheit und Jugend ihre ADHS erfolgreich maskieren konnten.
„Ein solcher Erwachsener erlebt die eigene Einschränkung durch Aufmerksamkeitsprobleme, Unruhe und Impulsivität im für ihn neuen und spezifischen Kontext von eigenverantwortlicher Lebensgestaltung oder eines Arbeitsplatzes im Großraumbüro, aber auch in einer gleichberechtigten Partnerschaft möglicherweise ganz anders, überraschend und bisweilen auch überwältigend“, so Streif, „eher wie die Folge eines Unfalls denn als Resultat einer langjährigen Entwicklung und ihrer Reflexion“ - mit zum Teil drastischen Auswirkungen auf die seelische Gesundheit.
Ein Ergebnis – viele mögliche Erklärungen
Wie konnte es bei den Studienteilnehmern in Brasilien und Großbritannien überhaupt zu so vielen späten Diagnosen kommen? Agnew-Blais und ihre Kollegen nennen 3 mögliche Erklärungen: Erstens hätten einige Patienten womöglich als Kind so viel Unterstützung erfahren und/oder so große kognitive Fähigkeiten mitgebracht, dass sie die Folgen der ADHS lange kompensieren konnten. Zweitens könnten Erwachsene mit der Diagnose late-onset ADHD auch andere, noch nicht diagnostizierte Störungen haben, die sich aber ebenso äußern. Drittens könnte late-onset ADHD eine ganz andere Störung sein.
Die late-onset ADHD Gruppe zeigte eine andere Geschlechterverteilung und geringere Heritabilität. Die Zwillinge der Studienteilnehmer mit late-onset ADHD hatten nämlich kein erhöhtes Risiko für eine ADHS-Diagnose. Die genauen Zusammenhänge gelte es nun zu erforschen, zudem solle erforscht werden, auf welche Therapien Erwachsene mit late-onset ADHD am besten ansprechen, fordern die Autoren.
Dr. Stephen V. Faraone und Dr. Joseph Biederman erinnern in ihrem JAMA-Kommentar zu den Studien an eine 2015 publizierte Kohortenstudie aus Neuseeland, die zu ähnlichen Ergebnissen gekommen war wie die neuen Analysen – allerdings mit 38-jährigen Teilnehmern [3]. Menschen mit late-onset ADHD, merken Faraone und Biederman an, hatten allen 3 Studien zufolge zwar in der Kindheit kein Vollbild der ADHS, zeigten aber mehrheitlich durchaus einzelne Symptome. „Darum hatten viele der ,Erwachsenenmanifestationen’ der ADHS offenbar doch Wurzeln in der Entwicklung des Nervensystems“, betonen die Kommentatoren.
Sie raten Ärzten, zu akzeptieren, dass Erwachsenen-ADHS existiert, und Patienten, die darunter leiden, ernst zu nehmen. „Die Patienten sollten keinesfalls Hilfe versagt bekommen, weil das DSM-5 eine frühere Manifestation vorschreibt“, empfehlen sie. „Aber dokumentieren Sie, dass die Symptome die Patienten wirklich beeinträchtigen und nicht transiente Auswirkungen einer anderen Störung sind.“ Kinderärzte und -psychiater sollten zudem notieren, wann immer sie bei Kindern und Jugendlichen einzelne Symptome der ADHS wahrnehmen und diese Patienten im Blick behalten, gerade im Zeitraum der Transition.
Streif merkt noch kritisch an, dass sowohl die brasilianische als auch die britische Studie im Kindesalter ausschließlich Eltern- und Lehrer-Aussagen, doch mit 18 dann plötzlich die Aussagen der Studienteilnehmer selbst auswerteten: „Ein solches Vorgehen ist zwar nicht grundsätzlich falsch, erhöht jedoch das Risiko statistischer Fehler durch abweichende Faktoren der Berichterstattung“, gibt er zu bedenken.
Ein wenig Lob hat er dennoch für die beiden Studien: „Sie sind ein Beleg dafür, dass es verbesserter, auf den individuellen Entwicklungsstand sowie den sozialen Rahmen angepasster Diagnoseverfahren bedarf.“ Darüber hinaus zeigen sie, dass es eine Gruppe von Patienten gibt, die ihre ADHS zwar die Kindheit hindurch verbergen können, doch im Erwachsenenalter an ihre Grenzen stoßen.
REFERENZEN:
1. Caye A, et al: Jama Psychiatrie (online) 18. Mai 2016
2. Agnew-Blais JC, et al: Jama Psychiatry (online) 18. Mai 2016
3. Faraone SV, et al: Jama Psychiatrie (online) 18. Mai 2016
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Diesen Artikel so zitieren: Mit 18 plötzlich hyperaktiv? Neue Studien sprechen für eine eigenständige, späte ADHS-Form – Zweifel sind erlaubt - Medscape - 13. Jun 2016.
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