
Dr. Nina Feddermann
Seit in den USA auf Druck einer Elterninitiative hin das Kopfballspielen im Jugendfußball verboten wurde, wächst auch hierzulande die Unsicherheit. Hat es schwerwiegende gesundheitliche Folgen, einen Fußball mit dem Kopf zu spielen? Nicht nur Eltern von Nachwuchsspielern, auch Profis haben Angst vor Langzeitauswirkungen – auch, weil aktuelle Studien darauf hindeuten. Dr. Nina Feddermann ist Neurologin und auf Kopfverletzungen spezialisiert. Am neu gegründeten Swiss Concussion Center in Zürich beraten sie und ihre Kollegen Leistungssportlerinnen und -sportler, die eine Kopfverletzung erlitten haben.
Medscape: Frau Dr. Feddermann, in den USA dürfen Nachwuchsfußballer Kopfbälle im Training und Wettkampf bis zum Alter von 11 Jahren gar nicht und bis 13 nur im Training spielen. Sind die Amerikaner übervorsichtig?
Dr. Feddermann: Ehrlich gesagt ist mir ist nicht ganz klar, wie diese Entscheidung zustande gekommen ist. Der amerikanische Fußballverband hat wohl auf eine Sammelklage von Eltern reagiert. Aus neurologischer Sicht gibt es dafür derzeit aber keine wissenschaftliche Grundlage. Bisher ist nicht bewiesen, dass das Kopfballspielen per se irgendwelche negativen Folgen auf die Hirnstrukturen oder -funktionen hat. Die Ergebnisse von Studien bei aktiven und ehemaligen Fußballspielerinnen und -spielern sind widersprüchlich. Die Studien, die sich speziell mit Fußball im Kindesalter beschäftigt haben, sind zu dem Ergebnis gekommen, dass Gehirnerschütterungen im Kindesalter selten vorkommen. Die Hauptverletzungsursache bei den wenigen Gehirnerschütterungen war gar nicht das Kopfballspiel selbst, sondern direkter Körperkontakt oder Stürze.
Medscape: Was genau sind die pathophysiologischen Mechanismen hinter einer Gehirnerschütterung?
Dr. Feddermann: Bei einer Gehirnerschütterung handelt es sich um eine leichte Form des Schädel-Hirn-Traumas (ISHT). Der genaue Pathomechanismus ist bisher noch nicht eindeutig geklärt. Einer gängigen Hypothese zufolge wird durch das Trauma eine sogenannte „neurometabolische Kaskade“ ausgelöst. Diese beginnt mit einer ionalen Störung, wodurch das extrazelluläre Kalium ansteigt. Die Folge ist eine unspezifische elektrische Depolarisation der Zellen. Zudem wird Glutamat freigesetzt und die K+-abhängigen Effekte nehmen zu. Beim Betroffenen äußert sich das zum Beispiel durch Bewusstseinsverlust, Erinnerungslücken (Amnesie) und kognitive Beeinträchtigungen. Der Energiebedarf der betroffenen Zellen steigt, Glykolyse und Laktatproduktion nehmen zu, und der oxydative Stoffwechsel wird eingeschränkt: Im Grunde genommen entsteht ein Circulus vitiosus aus verschiedenen Effekten, die sich gegenseitig bedingen, und zu dem führen, was man als zelluläre „Energiekrise“ bezeichnet. Es können dann zum Beispiel Zell-Membran-Schäden und eine erhöhte Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke auftreten. Insgesamt ist das Gehirn ungefähr eine Woche lang vulnerabler als sonst.
Medscape: Passiert so etwas auch beim Kopfballspielen?
Dr. Feddermann: Nein, da liegt aus meiner Sicht eine der Herausforderungen: Bei der Gehirnerschütterung muss man unterscheiden zwischen dem, was man auf Deutsch als „Gehirnerschütterung“ bezeichnet, also dem ISHT, dessen vermutliche Auswirkungen auf das Gehirn ich eben erklärt habe, und der sportbedingten Gehirnerschütterung. Im Englischen wird diese als „Concussion“ bezeichnet und als milde Unterform des ISHTs verstanden. Sie wird durch direkte oder indirekte Gewalteinwirkung gegen den Kopf verursacht (Akzelerations-Dezelerations-Mechanismus oder „Coup“- und „Contre-Coup“-Verletzung). Es handelt sich meist um eine funktionelle Störung und nicht um eine strukturelle Verletzung. Entsprechend zeigt die Standard-Bildgebung einen normalen Befund.
Die „Concussion“ ist durch eine diffuse, meist reversible Gehirnschädigung gekennzeichnet, die zu rasch nach dem Ereignis eintretenden neurologischen und neurokognitiven Veränderungen, wie Schwindel, Kopfschmerz, Sehstörungen und Konzentrationsstörungen mit und ohne Bewusstseinsverlust führen kann. Die Kernmerkmale des klassischen lSHTs (Amnesie, Verwirrtheit und Gleichgewichtsstörungen) werden bei den sportbedingten Gehirnerschütterungen nicht so häufig beobachtet.
Und jetzt muss man noch unterscheiden zwischen dieser milden Form der Gehirnerschütterung, der „Concussion“, und dem, was beim Kopfballspielen passiert. Die Begriffe Kopfballspiel und (sportbedingte) Gehirnerschütterung werden leider oftmals miteinander vermischt. Die Krafteinwirkung auf den Kopf ist beim Kopfballspielen aber normalerweise viel geringer als beim Trauma-Mechanismus einer Gehirnerschütterung. Daher werden diese Schläge auch als „subconcussive“, also niedrigintens bezeichnet. Ob sich kumulative Effekte repetitiver niedrigintenser Krafteinwirkungen negativ auf Hirn-Strukturen oder die Hirn-Funktion auswirken, konnte bisher noch nicht eindeutig geklärt werden. Vann Jones vom Institute for Ageing and Health an der britischen Newcastle University hat aber zum Beispiel 2014 in einer kleinen Studie gezeigt, dass das Risiko für neurokognitive Beeinträchtigung nach Beendigung der Fußballkarriere genauso hoch ist wie bei jedem anderen Menschen.
Medscape: Also ist das Köpfen gar nicht gefährlich?
Dr. Feddermann: Das Kopfballspiel ist eine technische Fertigkeit, die erlernt wird. Es gibt nach heutigem Kenntnisstand keine Beweise, dass diese Technik an sich zu nachhaltigen Verletzungen führt – wenn sie kontrolliert erlernt und angewandt wird. Das Kopfballspiel steht im Verdacht ein Risikofaktor zu sein. Aber die Hauptursache für Kopfverletzungen bei Fußballspielern sind nicht die Kopfbälle.
Medscape: Sondern?
Dr. Feddermann: Direkter Körperkontakt mit einem Gegenspieler oder Stürze. Es gibt eine ganz aktuelle prospektive epidemiologische Multicenterstudie zu Kopfverletzungen im Kindesalter von 7 bis 12 Jahren im organisierten Fußball. Dort wurden in 688.045 Spielstunden 39 Kopfverletzungen und eine Nackenverletzung erfasst. Von diesen wurden 11 als Gehirnerschütterung diagnostiziert und davon wiederum 2 durch Ballkontakt verursacht – also eine in 344.022,5 Spielstunden. Die meisten Kinder hatten sich durch direkten Körperkontakt verletzt oder – in anderen Studien – dadurch, dass sie mit dem Kopf auf den Boden des Spielfeldes aufschlugen.
Medscape: Es gibt ja aber schon Studien, die nahelegen, dass das ständige Kopfballspielen schwerwiegende Folgen haben kann. Beispielsweise zeigten Dr. Inga Koerte und Kollegen aus München und Harvard an ehemaligen Profis Veränderungen in der Gehirnstruktur, die im Zusammenhang mit der von den Fußballern angegebenen Exposition gegenüber Kopfbällen standen.
Dr. Feddermann: Ja, die Studien haben – leider wie ich finde – zu viel Verunsicherung geführt. Das Problem ist, dass Ergebnisse von Studien verbreitet werden, deren Design eigentlich gar nicht angemessen ist, um eine Kausalität zu belegen. In einer der von Ihnen angesprochenen Studien von Frau Dr. Koerte wurden beispielsweise nur 12 Fußballspieler untersucht, in einer anderen wurden die Kopfbälle retrospektiv über ein Jahr von den Spielern selbst geschätzt. Wir haben auch Projekte mit Profi-Spielern durchgeführt. Viele von ihnen hatten Probleme sich zu erinnern, wie viele Spiele sie in der vergangenen Saison gespielt haben. Zudem stützen sich die Studien auf neuere Bildgebungsverfahren, zum Beispiel die Diffusionsgewichtete Magnetresonanztomografie (DTI). Da ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht klar, ob eine Auffälligkeit, die man im Ist-Zustand sieht, später einem Krankheitswert zugemessen wird oder ob sie sich wieder zurückbildet. Die Studienlage zu diesem Thema sollte aber auf jeden Fall weiter beobachtet werden.
Medscape: Sie würden sich also nicht für ein Kopfballverbot im Nachwuchsfußball aussprechen?
Dr. Feddermann: Ich glaube nicht, dass das momentan der richtige Weg ist, aus 2 Gründen:
Erstens wissen wir noch nicht genug über die Effekte repetitiven Kopfballspiels. Wir haben dazu im Januar beim DFB-Wissenschaftskongress einen Vortrag gehalten, 991 Abstracts gescreent und die relevanten Studien analysiert. Dabei sind wir hier am Swiss Concussion Center zu dem Schluss gekommen, dass prospektive kombinierte longitudinale und crosssektionale Studien notwendig sind, um eindeutige Schlussfolgerungen ziehen zu können.
Zweitens fragen wir uns, ob das Alter der richtige Indikator für so ein Verbot ist. Kinder entwickeln sich sehr unterschiedlich. Das sieht jeder, der schon mal Fußball bei Kindern geschaut hat, schon an der Körpergröße.
Medscape: Warum ist es denn überhaupt sinnvoll, so ein Verbot nur im Kindesalter auszusprechen?
Dr. Feddermann: Unstrittig ist ja, dass das kindliche Gehirn vulnerabler für Verletzungen ist, da es sich noch in der Entwicklung befindet. Außerdem ist die Nackenmuskulatur weniger ausgeprägt und die Kopfballtechnik weniger ausgereift. Letzteres spricht aus meiner Sicht aber zugleich gegen ein Verbot im Jugendfußball.
Das Kopfballspielen ist elementarer Bestandteil der Sportart Fußball, man kann es nicht einfach abschaffen. Früher oder später sollten Fußballerinnen und Fußballer an das Kopfballspiel herangeführt werden, am besten spielerisch, kontrolliert und vor allem mit von der Größe und vom Gewicht her angepassten Bällen. Am besten geschieht das bereits im Kindesalter. Nachweislich erhöht sich die Anzahl der Synapsen nämlich nur bis ungefähr zum 10. Lebensjahr, danach wird, was nicht gebraucht wird, wieder reduziert. Das heißt, man kann bestimmte Dinge auch nur bis zu einem gewissen Alter lernen.
Medscape: Sind Kopfverletzungen im Fußball aus Ihrer Sicht also gar kein Problem?
Dr. Feddermann: Kopfverletzungen sollte sportartübergreifend eine besondere Beachtung geschenkt werden, da es sich in seltenen Fällen um eine potentiell schwere Verletzung handelt. Hier am Swiss Concussion Center betreuen wir täglich Sportlerinnen und Sportler, auch Fußballer, nach Kopfverletzungen. Im Fußball entstehen diese Verletzungen jedoch meist nicht durch Kopfballspiel, sondern zum Beispiel, weil zwei Spieler während eines Zweikampfes zusammenstoßen.
Medscape: Muss sich also doch etwas ändern auf dem Spielfeld?
Dr. Feddermann: Aus meiner Sicht sollte man versuchen, den direkten Körperkontakt auf dem Spielfeld zu reduzieren, so dass sich Fußball von einem physischen noch mehr zu einem technischen Spiel entwickeln kann. Dafür müssen auch die Schiedsrichter geschult werden. In der Verletzungsprävention ist dieses Vorgehen längst gängige Praxis. Man analysiert, was der Hauptrisikofaktor für eine Verletzung ist und überlegt dann, ob man diesen minimieren kann. Vor der Fußball WM 2006 identifizierte eine vom Zentrum für medizinische Auswertung und Forschung der FIFA durchgeführte Studie den direkten Ellenbogenschlag gegen den Kopf als Hauptmechanismus für eine Kopfverletzung. Daraufhin wurde eine neue Regel festgelegt, nach der ein direkter Ellenbogenschlag mit dem Platzverweis geahndet wird.
Medscape: Bevor solche Regeländerungen in Kraft treten – was können Mannschaftsärzte, Trainer und Betreuer tun, wenn sich ein Spieler eine sportassoziierte Gehirnerschütterung oder eine der Unterformen zuzieht?
Dr. Feddermann: Es ist essentiell, so früh wie möglich eine korrekte Diagnose zu stellen, da es sich oftmals um kombinierte Verletzungen handelt und unterschiedliche Diagnosen unterschiedliche Therapiemaßnahmen nach sich ziehen. Bei einer Gehirnerschütterung etwa wird eine initiale Ruhephase empfohlen. Ist aber das Gleichgewichtsorgan betroffen, ist eine schnelle körperliche Aktivität erforderlich, bzw. spezifische Therapiemaßnahmen, um zentrale Kompensationsmechanismen einleiten zu können. Wenn man dem Spieler solche Maßnahmen vorenthält, kann dies zu langanhaltenden Beschwerden führen. Und es kann Langzeitfolgen haben. 10 Tage Schwindel stellen einen Risikofaktor für die Entwicklung von affektiven Störungen wie Angst oder Depression dar. Um Spieler mit erhöhtem Risiko für einen längeren Verlauf frühzeitig zu identifizieren, sollten ärztliche Kollegen, die Spieler oder Mannschaften betreuen, deshalb unbedingt in einer frühen Phase einen Spezialisten hinzuziehen. Als Zentrum stehen wir Spielern, Mannschaftsärzten und Trainerteams gerne beratend zur Seite.
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Diesen Artikel so zitieren: Kopfballverbot für Nachwuchsspieler: „Das Kopfballspiel an sich ist nicht das Problem“ - Medscape - 8. Jun 2016.
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