Die neuesten Zahlen des Zentralinstitutes für die kassenärztliche Versorgung (ZI) zeigen, wie viel Prozent mehr Arztarbeitszeit pro Patient von den verschiedenen Fachärzten in Zukunft gebraucht wird, um die älter werdende Gesellschaft in Deutschland medizinisch zu versorgen [1]. Das Ergebnis: Im Jahr 2035 erwartet das ZI gegenüber dem Basisjahr 2012 im Bundesdurchschnitt bei 7 der 10 betrachteten Fachgruppen eine höhere Beanspruchung, vor allem bei Urologen, Augenärzten und Fachinternisten. Aber die ZI-Berechnung offenbart auch Schwächen.
Beanspruchung an Hausärzte steigt um neun Prozent
Urologen, Augenärzte, Fachinternisten und Hausärzte führen die Liste jener Facharztgruppen an, in deren Wartezimmern es zwischen 2020 und 2035 laut ZI besonders eng werden dürfte. Und der Versorgungsdruck wird das Zeitkontingent in die Höhe treiben, das die jeweiligen Arztgruppen zur Verfügung stellen müssen, so die Prognose. „Im Bundesdurchschnitt wird die Beanspruchung der Urologen um 23 Prozent steigen, jene der Augenärzte um 20 und die der Fachinternisten um 15 Prozent", teilt das ZI mit. „Für Hausärzte erwarten die Wissenschaftler vom Versorgungsatlas eine zusätzliche Beanspruchung von durchschnittlich neun Prozent", heißt es.
Kinder- und Frauenärzte dagegen werden in Zukunft voraussichtlich weniger beansprucht werden. Weil es immer weniger junge Menschen geben werde, sinke die Beanspruchung von Pädiatern und Gynäkologen um durchschnittlich 10% bis zum Jahr 2035, so das ZI.
Um die Werte schätzen zu können, haben die Statistiker des ZI mehrere verschiedene Datensätze zugrunde gelegt und den relativen Beanspruchungsindex (rBIX) erhoben: eine bundesweite Versichertenstichprobe auf Basis ausgewählter Geburtstage von rund 20% aller Versicherten, das ZI-Praxispanel als Quelle für die Arztarbeitszeit pro Jahr je GKV-Fall in Minuten und die Raumordnungsprognose des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Es umfasst den zukünftigen Bevölkerungsstand bis zum Jahre 2035. Das Basisjahr für die Projektion war 2012. „Unsere Modellrechnung ist damit eine Möglichkeit, die zusätzliche Beanspruchung von Vertragsärzten abzuschätzen, die sich aufgrund der demografischen Entwicklung im Vergleich zu heute ergibt“, erklärt Dr. Mandy Schulz, die Erstautorin der Studie.
Die Ergebnisse zeigen, wie sehr die vielen alten Bürger und die wenigen jungen im Jahr 2035 die Facharztlandschaft verändern könnten. „In jedem Fall führt der neue Index vor Augen, dass heutige Vorstellungen davon, welche Regionen über- oder unterversorgt sind, mit Blick auf die nahe Zukunft auf den Prüfstand gehören. Das gilt besonders dann, wenn zusätzlich berücksichtigt wird, dass der medizinische Fortschritt immer mehr ambulante Behandlungen möglich und immer weniger Krankenhausbehandlung notwendig macht", sagt Dr. Dominik von Stillfried, Geschäftsführer des ZI.
Auch die Missstände werden projiziert
Die Zahlen reflektierten aber nicht immer das ohnedies Denkbare, sagt Schulz zu Medscape: „Es hat uns überrascht, dass Kinderärzte in einigen Regionen gegen den allgemeinen Trend häufiger gebraucht werden, zum Beispiel in Schleswig-Holstein, besonders in Flensburg, oder in Leipzig und Dresden."
Allerdings kann die stets veränderliche Realität allen Berechnungen einen Strich durch die Rechnung machen. Denn die ZI-Zahlen sind Projektionen. Sie projizieren die Bedingungen des Jahres 2012 in die Zukunft. Dass sich aber auch die Rahmenbedingungen deutlich ändern können, zeigt etwa die Flüchtlingskrise, die schon jetzt zusätzlichen Druck auf die medizinische Versorgung ausübt. Ein Umstand, den auch Schulz einräumt.
Außerdem werden nach Ansicht des Sozialmediziners Prof. Dr. David Klemperer von der Fakultät für angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg auch die Missstände mit projiziert. „Die Modellrechnung dürfte in sich schlüssig sein, bezieht aber wichtige Aspekte ausdrücklich nicht ein, insbesondere Veränderungen von Morbidität und Mortalität sowie von Versorgungsqualität", so Klemperer zu Medscape.
„So werden die Menschen in Deutschland zwar älter, bleiben dabei aber gesünder. Bei den Geringverdienern besteht eine um 15 Jahre niedrigere gesunde Lebenserwartung im Vergleich zu den Vielverdienern (56,8 versus 71,1 Jahre) – eine Chance zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit, welche die Politik nutzen kann und sollte: zum Beispiel durch Schaffung von mehr Bildungsgerechtigkeit und der Minderung der Einkommensungleichheit", erläutert Klemperer.
Nicht berücksichtigt seien auch Über- und Unterversorgung im Basisjahr der Projektion, so Klemperer. Gegenwärtige Fehlentwicklungen würden so einfach fortgeschrieben, zum Beispiel das häufige Übertherapieren des Kreuzschmerzes. Viele Behandlungsanlässe dürften dagegen wegfallen, wenn man sich an Leitlinien orientierte, vermutet Klemperer „Mir sind zwar keine Berechnungen bekannt, ich vermute aber, dass nicht wenige Orthopäden andere Tätigkeiten suchen müssten, wenn sie Patienten mit Kreuzschmerz entsprechend den evidenzbasierten Empfehlungen der Nationalen Versorgungsleitlinie behandeln würden.“
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Diesen Artikel so zitieren: Zukunftsprognose des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung: Wie viel Arzt braucht der Mensch? - Medscape - 8. Jun 2016.
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