Wenn aus Spiel ernst wird: Häufige Kopfbälle schaden dem Gehirn kurz- und langfristig

Inge Brinkmann

Interessenkonflikte

1. Juni 2016

100 km/h – mit einer solchen Geschwindigkeit kann ein Leder-Fußball schon mal von einem Profispieler über das Feld gedroschen werden. Wer dann seinen Kopf in die Flugbahn hält, riskiert durchaus ein Schädel-Hirn-Trauma (concussion). Fürchten sollten Fußballer aber nicht nur solche schwereren Zusammenstöße mit dem Ball. Immer mehr Studien deuten darauf hin, dass sich allein schon die häufigen, im englischen Sprachraum als „subconcussive“ bezeichneten Erschütterungen durch Kopfbälle negativ auf Hirnsubstanz und kognitive Fähigkeiten von Fußballern auswirken.

Bereits bei Nachwuchsspielern zeigen sich strukturelle Hirnveränderungen

Prof. Dr. Inga Koerte

Erste Folgen des häufigen Kopfballspiels zeigen sich offenbar schon bei den jüngeren Nachwuchsspielern. Dies ergab eine im Jahr 2012 in JAMA veröffentlichte Studie eines Teams um Prof. Dr. Inga Koerte, Neurowissenschaftlerin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität, München, und zurzeit Visiting Professor an der Harvard Medical School in Boston (USA).

Mit Hilfe der sensitiven Diffusionstensor-Magnetresonanztomographie (DTI) war es den Forschern gelungen, Veränderungen in der Mikrostruktur des Gehirns von jungen Fußballspielern nachzuweisen. Keiner der untersuchten Nachwuchstalente (Durchschnittsalter 19,7 Jahre) hatte zuvor eine Gehirnerschütterung erlitten.

„Im Vergleich zu einer Gruppe mit gleichaltrigen Schwimmern zeigten die Fußballer mikrostrukturelle Veränderungen des Nervengewebes, die denen eines Schädel-Hirn-Traumas glichen“, erklärt Koerte gegenüber Medscape.

Ehemalige Profifußballer schneiden bei Kognitionstest schlechter ab als andere Athleten

Wenn schon bei Nachwuchstalenten strukturelle Veränderungen auftreten, wie sieht es dann erst bei Profis am Ende ihrer Karriere aus? Für eine im letzten Jahr in Brain Imaging and Behavior publizierte Folgeuntersuchung hatten Koerte und ihre Kollegen die kortikale Dicke des Hirns ehemaliger Fußballprofis (Durchschnittsalter 49,3 Jahre) untersucht und die Ergebnisse mit denen von ehemaligen Profiathleten aus anderen Disziplinen (keine Kontaktsportarten) verglichen.

Die kortikale Dicke nimmt zwar im Alter generell ab. Aber: „Der Kortex bei Fußballern wird im Vergleich zur Kontrollgruppe mit zunehmendem Alter schneller dünner“, beschreibt die Neurowissenschaftlerin die Ergebnisse. Außerdem stellten die Forscher fest, dass ein dünnerer Kortex mit einer signifikant geringeren kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit (im Trail Making Test A) verbunden war und dass Fußballer in verschiedenen Kognitionstests zwar normale Punktzahlen erreichten, darin aber schlechter abschnitten als die Athleten der Kontrollgruppe.

Auf der Suche nach einer Erklärung für die schnellere Abnahme der kortikalen Dicke im Gehirn der Fußballer, untersuchten Koerte und ihr Kollege Dr. Alexander Lin mittels Magnetresonanz-Spektroskopie auch die neurochemischen Vorgänge im Hirn der Probanden (die Teilnehmer für diese 2015 im Journal of Neurotrauma veröffentlichte Studie entsprachen in etwa denen der Kortex-Studie). Dabei fanden sie u.a. heraus, dass die Metabolite Cholin (Marker für Membranumsatz) und Myo-Inositol (Marker für Gliose) bei den Fußball-Spielern im Vergleich zur Kontrollgruppe erhöht waren. „Der Hirnstoffwechsel der Fußballer zeigt Anzeichen einer leichtgradigen chronischen Entzündung“, erklärt Koerte.

 
Der Kortex bei Fußballern wird im Vergleich zur Kontrollgruppe mit zunehmendem Alter schneller dünner. Prof. Dr. Inga Koerte
 

Sie ergänzt: „Wir haben in den beiden Studien mit ehemaligen Profispielern (kortikale Dicke und Neuroinflammationsmarker) einen Zusammenhang zwischen der angegebenen Exposition gegenüber Kopfbällen und der Ausprägung der Befunde gefunden.“

Ein Beweis für die Schädlichkeit häufiger Kopfbälle sei das noch nicht, schränkt sie ein. Die Anzeichen dafür, dass die Kopf-Ball-Kontakte das Gehirn negativ beeinflussten, würden sich jedoch immer mehr verdichten.

Auch Freizeitkicker zeigen Hirnveränderungen

Und nicht nur Profis, die den rund 450 g schweren Ball im Laufe ihrer Karriere schätzungsweise mehrere tausend Mal köpfen, oder besonders geförderte Nachwuchsspieler sind betroffen. Auch Freizeitkicker sind nicht vor Veränderungen im Gehirn gefeit. Das zeigt eine Veröffentlichung von Prof. Dr. Michael L. Lipton, Albert Einstein College of Medicine der Yeshiva University in New York, und seinem Team. Mit der Diffusion-Tensor-Bildgebung hatten die Wissenschaftler Amateurfußballer mit einem Durchschnittsalter von etwa 30 Jahren untersucht.

Ergebnis der im Jahr 2013 im Fachblatt Radiology veröffentlichten Untersuchung: Je mehr Kopfbälle die Fußballer pro Saison spielten, umso geringer war u.a. deren fraktionelle Anisotropie (ein Maß für die Integrität oder Leistungsfähigkeit der Faserbahnen in der weißen Substanz) in verschiedenen Hirnbereichen. Mit Folgen für die kognitiven Fähigkeiten der Spieler: Denn je ausgeprägter die strukturellen Hirnveränderungen waren, umso schlechter schnitten die Fußballer in einem Gedächtnistest ab.

Messbare Auswirkungen schon nach einer Trainingseinheit

Dr. Anne B. Sereno von der University of Texas Health Science Center, Houston, zeigte schließlich, dass messbare Auswirkungen nicht erst nach hunderten oder tausenden von Kopfbällen auftreten. Negative Effekte auf die Kognition zeigen sich auch schon nach einer einzigen Trainingseinheit, wie sich in der 2013 in PloS One veröffentlichten Studie nachlesen lässt.

 
Der Hirnstoffwechsel der Fußballer zeigt Anzeichen einer leichtgradigen chronischen Entzündung. Prof. Dr. Inga Koerte
 

Sereno und ihre Kollegen ließen für ihre Untersuchung 15- bis 18-jährige Fußballspielerinnen und andere Sportlerinnen gleichen Alters (Kontrolle) mit Hilfe eines Tablets vor und nach ihrem Training einfache Aufmerksamkeitstests durchführen. Während darin vor den jeweiligen Übungseinheiten noch alle Athletinnen etwa gleich gut abschnitten, konnten sich die Fußballspielerinnen nach ihrem Training (mit durchschnittlich 6 gespielten Kopfbällen) signifikant schlechter konzentrieren als die Kontrollgruppe.

Ergebnisse noch nicht eindeutig

Noch eine ganze Reihe weiterer Wissenschaftlerteams befassen sich mittlerweile mit den (Langzeit-)Folgen des Kopfballspiels: Sie messen verschiedene Hirnmarker bei den Fußballern, bilden deren Gehirne ab und/oder messen ihre kognitiven Fähigkeiten. Einen umfassenden Überblick über die bisherigen Ergebnisse bietet das kürzlich veröffentlichte Review von Ana Carolina Rodrigues, Universidade Federal de Minas Gerais. Belo Horizonte, Brasilien, und Mitarbeitern.

 
Wir haben in den beiden Studien mit ehemaligen Profispielern einen Zusammenhang zwischen der angegebenen Exposition gegenüber Kopfbällen und der Ausprägung der Befunde gefunden. Prof. Dr. Inga Koerte
 

„Die Forschung über die Auswirkungen von Kopfbällen auf die Hirnstruktur und -funktion hat verblüffende Ergebnisse erzielt, die Resultate sind aber noch nicht eindeutig“, fassen sie am Ende ihrer Publikation zusammen. Tatsächlich fänden sich in fast allen Arbeiten methodische Schwächen (z.B. geringe Probandenzahlen, keine Angaben zum Alkoholkonsum, keine adäquate Kontrollgruppe). Weitere Studien, speziell mit einem longitudinalen Ansatz, seien deshalb erforderlich, um Klarheit über die klinische Relevanz von Kopfbällen als Ursache von Hirnschädigungen zu schaffen.

Hilft nur Kopfballverbot?

So lange wollte eine Gruppe von Eltern von Juniorfußballern in den USA jüngst nicht mehr warten. Nach deren Protesten im vergangenen Jahr setzte der US-amerikanische Fußballverband Regelungen ein, die Jugendlichen das Kopfballspiel teils vollständig verbieten. Die Debatte wurde dabei allerdings vor allem beherrscht von möglichen Folgeschäden von Schädel-Hirn-Traumen. Seitdem gilt für Spieler unter 11 Jahren ein Kopfballverbot. Bei bis zu 13-Jährigen sind Kopfbälle nur im Training erlaubt.

Um ihre Meinung zu dieser Entscheidung gefragt, sagt Koerte, dass die Sorgen der Spieler und Eltern ernst genommen werden müssten und das Thema einer offenen und kritischen Diskussion bedürfe. Ein solches Verbot ließe sich aber noch nicht wissenschaftlich begründen, vieles fuße dabei noch auf Mutmaßungen. „Dass ein Kopfball bei 13-Jährigen noch gefährlich sein soll, aber nicht mehr bei 14-Jährigen, ist nicht nachvollziehbar“, sagt sie. Außerdem müssten die Kinder im Training auch die Chance bekommen, die richtige Kopfballtechnik zu erlernen.

Nach Empfehlungen des Deutschen Fußballbundes (dfb) sollte das Gewicht der Bälle dabei grundsätzlich dem Alter der Kinder angepasst werden. Und zur Prävention von Gehirnerschütterungen seien einem jüngst im JAMA Pediatrics veröffentlichten Artikel zufolge vermutlich ohnehin andere Maßnahmen als ein Kopfballverbot effektiver.

Die Autoren um Prof. Dr. R. Dawn Comstock von der University of Denver, Colorado, hatten die Ursachen von Schädel-Hirn-Traumen bei US-College-Soccer-Teams während mehrerer Saisons unter die Lupe genommen. Obwohl ihrer Ansicht nach ein Kopfballverbot tatsächlich dazu beitragen könnte, die Zahl der Gehirnerschütterungen zu senken, sei eine Reduktion von Spieler-Spieler-Kontakten (etwa durch härteres Durchgreifen des Schiedsrichters) effektiver – und von der Fußballgemeinde auch eher tolerabel.

 

Kommentar

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