Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht keine ausreichenden Gründe für eine Verschiebung oder Absage der Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro wegen der Zika-Epidemie – das hatte sie am vergangenen Samstag verlautbart.
In einem offenen Brief an die WHO hatten über 150 Gesundheitsexperten empfohlen, die Spiele zeitlich oder räumlich zu verschieben [1]. Veröffentlicht ist der Brief auf http://rioolympicslater.org, mindestens 50 weitere Unterzeichner haben sich seitdem über die Seite registriert.
500.000 Touristen aus aller Welt, so die Argumentation in dem Schreiben, reisten zu den Spielen in Rio de Janeiro an. Sie alle riskierten nicht nur, sich selbst mit dem dort grassierenden Zika-Virus zu infizieren, sondern auch den Erreger in ihre Heimatländer zu tragen. Gravierende Folgen seien vor allem zu erwarten, wenn sich das Virus in armen, bislang nicht betroffenen Regionen wie Afrika oder weiten Teilen Südasiens ausbreite.
Die Antwort der WHO folgte prompt. „Basierend auf aktuellen Einschätzungen würde eine Absage oder eine Änderung der Austragungsorte der Olympischen Spiele 2016 die internationale Verbreitung des Zika-Virus nicht wesentlich beeinflussen“, heißt es in der einen Tag später veröffentlichten Pressemitteilung. Nach wie vor raten die WHO-Experten nur Schwangeren von einer Reise in die Zika-Ausbruchsgebiete ab.
Das CRM Centrum für Reisemedizin teilt in einer Pressemitteilung die Einschätzung der WHO. „Es ist nicht ersichtlich, dass der Reise- und Tourismusverkehr im Zusammenhang mit Olympia einen wesentlichen Einfluss auf die Erkrankungszahlen oder die weltweite Ausbreitung des Zika-Virus haben wird“, so Prof. Dr. Tomas Jelinek, Wissenschaftlicher Leiter des CRM. „Zum einen finden die Olympischen Spiele im August und damit im brasilianischen Winter statt. In dieser Jahreszeit ist die Aedes-Mücke, die das Virus überträgt, am wenigsten aktiv“, erklärt Jelinek. „Des Weiteren macht der Reiseverkehr rund um Olympia insgesamt nur einen sehr geringen Anteil am gesamten Handels- und Tourismus-Verkehr in Mittel- und Südamerika, wo das Virus verbreitet ist, aus.“ Eine Verschiebung der Olympischen Spiele bliebe daher ohne wesentliche Auswirkungen auf die Entwicklung der Fallzahlen und die weltweite Ausbreitung des Virus, so seine Einschätzung. Das CRM weist zudem darauf hin, dass eine Infektion mit dem Zika-Virus im überwiegenden Teil der Fälle sehr mild verläuft und von alleine ausheilt.
Nicht nur Schwangere müssen sich in Rio Sorgen machen
Verbreiten Verfasser und Unterzeichner des offenen Briefes unnötig Panik? Eher nicht, wenn man den Ausführungen von Prof. Dr. Raad Shakir, Präsident der Weltföderation für Neurologie (WFN), folgt. Auf dem gerade stattfindenden Kongress der European Academy of Neurology (EAN) in Kopenhagen sprach Shakir laut einer Pressemitteilung von zahlreichen Missverständnissen und Fehleinschätzungen, was das wahre Ausmaß der Risiken, die mit Zika-Infektionen einhergehen, betreffe.
Da ist einmal das Risiko für die Touristen und Sportler selbst. „Viele Menschen scheinen immer noch der Meinung zu sein, dass nur Schwangere besorgt sein müssten.“ Schließlich könne eine Infektion während der Schwangerschaft zu schweren Missbildungen beim Fötus führen, unter anderem zur bekannten Mikrozephalie. „Das ist zwar eine besonders tragische Folge einer Ansteckung, aber eine Zika-Infektion kann auch bei Erwachsenen zu schwerwiegenden neurologischen Erkrankungen führen, etwa zum Guillain-Barré-Syndrom (GBS), zu Rückenmark- oder Knochenmarksentzündungen (Myelitis) oder einer Gehirnhautentzündung“, so Shakir.
Fans und Athleten verbreiten das Virus weiter
Ein Risiko bestünde aber nicht nur für die vielen anreisenden Sportfans und Athleten in Rio, ergänzte Prof. Dr. John England, Neurologe an der Louisiana State University in New Orleans und Vorsitzender der WFN-Arbeitsgruppe zum Thema Zika, auf dem Kopenhagener Treffen. Während in dem Brief an die WHO vor allem auf das Risiko zur Weiterverbreitung des Virus in ärmeren Regionen der Welt hingewiesen wird, geht England davon aus, dass mit den Olympischen Sommerspielen auch für die Menschen in Europa ein ganz besonderes epidemiologisches Risiko zukommt. „Es wäre unrealistisch zu glauben, dass wir nicht viel mehr importierte Zika-Fälle erleben werden, wenn tausende Athleten und Fans wieder aus Brasilien zurückkommen“, sagte er.
Zwar halte die WHO das Risiko einer Verbreitung über Stechmücken in den meisten Teilen Europas für gering bis mäßig ausgeprägt, ausgenommen der Regionen, in denen Aedes-Mücken verbreitet seien, so England. Er denke aber, dass man sich in Europa in erster Linie Sorgen über jene Menschen machen müsse, die sich anderswo infizierten, die Infektion nach Europa mitbrächten und hier weitergäben. In mehreren europäischen Ländern, unter anderem Frankreich und Deutschland, seien bereits sexuelle Übertragungen bekannt geworden.
Die WHO rät deshalb auch Menschen, die sich in Epidemiegebieten aufgehalten haben, grundsätzlich zu geschütztem Geschlechtsverkehr (prinzipiell bis mindestens 4 Wochen nach der Reise bzw. während der gesamten Schwangerschaft der Sexualpartnerin).
In dem Brief an die Gesundheitsorganisation wird aber auch vor einer Übertragung durch Blutspenden und -transfusionen gewarnt; ein solches Risiko bestünde jedoch vor allem in ärmeren Ländern ohne Zika-Screenings, heißt es darin.
Kann die WHO überhaupt neutrale Empfehlungen aussprechen?
Hinter dem Festhalten der WHO an dem geplanten Termin für die Olympischen Spiel vermuten die Verfasser und Unterzeichner des Schreibens letztlich aber sowieso keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern vor allem einen Interessenkonflikt: Sie bezweifeln, dass die Weltgesundheitsorganisation wegen ihrer Beziehungen zum Internationalen Komitee (IOC) überhaupt neutrale Empfehlungen aussprechen kann.
Im dem Brief heißt es: „Wir sind besorgt, dass die WHO die Alternativen (d.h. eine zeitliche und räumliche Verschiebung der Spiele) wegen eines Interessenkonflikts ablehnt. Insbesondere besteht zwischen der WHO und dem IOC eine offizielle Partnerschaft, besiegelt mit einem geheim gehaltenen ‚Memorandum of Understanding‘.“ Die WHO sollte den Inhalt des Memorandums offenlegen, so die Forderung. Alles andere ließe Zweifel an der Neutralität der Organisation zu.
Zweifel, die der stellvertretende WHO-Generaldirektor Dr. Bruce Aylward bereits mit Aussagen gegenüber der Chicago Tribune – wenige Tage, nachdem seine Organisation wegen der Zika-Epidemie den globalen Gesundheitsnotstand ausrief – gesät habe, meinen Verfasser und Unterzeichner des Briefes. So hatte Aylward im Februar dieses Jahres gegenüber der Zeitung gesagt, dass Brasilien „fantastische“ und „erfolgreiche“ Spiele haben werde und die ganze Welt da sein werde.
Im dem Schreiben an die WHO heißt es dazu, dass den Olympischen Spielen damit quasi ein Freifahrtschein ausgestellt worden sei, ohne Berücksichtigung der neu aufkommenden Erkenntnisse. Die vorschnelle Beurteilung Aylwards, dass es „nicht zu viele Probleme“ geben werde, sei äußerst unangebracht gewesen. Um die Glaubwürdigkeit der Organisation wiederherzustellen, so heißt es am Ende in dem Brief an die WHO, könnte auch ein Führungswechsel notwendig sein.
REFERENZEN:
1. Offener Brief an die WHO, 30. Mai 2016
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Diesen Artikel so zitieren: Offener Brief warnt vor Gefahren durch Zika – WHO lehnt Verschiebung der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro ab - Medscape - 1. Jun 2016.
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