Auch bei über 75-jährigen Patienten kann eine aggressive Therapie zur Senkung des systolischen Blutdrucks unter einen Zielwert von 120 mmHg, im Vergleich zu einem bisher als ausreichend betrachteten Wert von 140 mmHg, die kardiovaskulären Ereignisraten sowie die allgemeine Sterblichkeit signifikant senken. Das ist das Ergebnis einer vorher definierten Subgruppenanalyse der SPRINT-Studie, die in der Online-Ausgabe von JAMA publiziert wurde [1].
„Diese Ergebnisse erweitern und spezifizieren die Erkenntnisse der SPRINT-Studie für Hypertoniker ab 75, die nicht in einem Pflegeheim leben“, schreiben Dr. Jeffrey Williamson von der Wake Forest School of Medicine in Winston-Salem, North Carolina, USA, und seine Kollegen. „Ein Behandlungsziel für den systolischen Blutdruck von unter 120 mmHg konnte das Auftreten kardiovaskulärer Erkrankungen um 33 Prozent und die allgemeine Sterblichkeit um 32 Prozent reduzieren.“
Ältere Hypertoniker profitieren erstaunlich deutlich
Erstaunlich sei schon, dass insbesondere ältere Patienten von den niedrigen Blutdruck-Zielwerten profitieren, kommentiert Prof. Dr. Martin Hausberg, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Hochdruckliga (DHL) und Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin, Nephrologie, Rheumatologie und Pneumologie am Städtischen Klinikum Karlsruhe, im Gespräch mit Medscape. „Dass über 75-jährige, fitte Patienten ohne orthostatische Dysregulation mit Blutdruck-Zielwerten von unter 130 mmHg wirklich besser fahren, das heißt, sich kardiovaskuläre Ereignisse ersparen, hätte ich so nicht erwartet“, fügt er an.
Denn diese Patienten seien oft gebrechlich und ihr Blutdruck häufig Schwankungen unterworfen. Aufgrund dieser Begleiterscheinungen des Alters und der Multimorbidität vieler über 75-Jährigen „muss man in der Praxis genau schauen, bei welchen Patienten solch extrem niedrige Blutdruck-Zielwerte angebracht und sinnvoll sind“. Das sei etwa nicht der Fall bei Patienten mit Behinderung, etwa infolge eines Schlaganfalls oder orthostatischer Dysregulation, wie sie bei älteren Patienten häufig auftritt.
In Deutschland leiden 3 von 4 Menschen über 75 unter Hypertonie. Aktuell empfehlen die Leitlinien der Hochdruckliga für hypertensive ältere Patienten einen systolischen Zielwert zwischen 150 und 140 mmHg. Der Blutdruck, sagt Hausberg, solle bei allen Hypertonikern in dieser Altersgruppe wenigstens unter 160 mmHg gesenkt werden. „Aber selbst das wird aktuell nicht flächendeckend erreicht.“
Die Patienten der SPRINT-Subanalyse waren im Schnitt 80 Jahre alt, hatten bei Studieneintritt einen durchschnittlichen systolischen Blutdruck von 141 mmHg und nahmen im Schnitt bereits 2 Blutdrucksenker ein. Sie erreichten eine Laufgeschwindigkeit von 0,9 m/s und nur etwa 1 Drittel wurde als „frail“ eingestuft. „Diese Patienten waren also relativ fit“, sagt Hausberg. „Daher gelten die SPRINT-Ergebnisse also nur für dieses Patientenkollektiv.“
Intensive Blutdrucktherapie – signifikant weniger kardiovaskuläre Ereignisse
In der SPRINT-Studie (Systolic Blood Pressure Intervention Trial), die im September 2015 wegen Überlegenheit des interventionellen Therapiearms vorzeitig beendet und im November 2015 bei den American Heart Association (AHA) Scientific Sessions in Orlando, USA, präsentiert wurde, untersuchte das Forscherteam insgesamt 9.361 Hypertoniker mit hohem kardiovaskulärem Risiko, aber ohne Diabetes oder vorherigen Schlaganfall; 28% von ihnen waren älter als 75 Jahre.
Diese Altersgruppe wurde jetzt von Williamson und seinen Kollegen näher unter die Lupe genommen: 1.317 von ihnen waren in der intensiven Behandlungsgruppe (systolisches Blutdruckziel 120 mmHg), 1.317 Patienten in der Standard-Therapiegruppe (Ziel 140 mmHg). Im Durchschnitt wurden die Teilnehmer (38% Frauen) 3,1 Jahre beobachtet. Während dieser Zeit traten in der Interventionsgruppe signifikant weniger kardiovaskuläre Ereignisse des primären kombinierten Endpunkts (Herzinfarkt, akutes Koronarsyndrom, Schlaganfall, akute dekompensierte Herzinsuffizienz und Tod aufgrund kardiovaskulärer Ursachen) auf als in der Standard-Behandlungsgruppe (102 vs 148). Ebenfalls war die Zahl der Todesfälle in der Interventionsgruppe signifikant niedriger (73 vs 107).
Im intensiven Behandlungsarm traten mehr schwere Komplikationen auf als in der Standard-Gruppe, jedoch war dieser Unterschied nicht statistisch signifikant hinsichtlich Hypotension, Synkopen, Anomalien der Elektrolyte und akute Nierenerkrankung oder Nierenversagen. Das häufigere Auftreten von Nierenerkrankungen in der intensiven Behandlungsgruppe (5,5% vs 4,0%) könne jedoch möglicherweise auf Schädigungen der Niere im Langzeitverlauf hindeuten, was ein längerer Follow-up dieser Patienten klären müsste, schreiben Williamson und seine Kollegen.
Engmaschige Kontrolle unerlässlich
In der intensiven Behandlungsgruppe betrug der mittlere, während des Follow-up erzielte systolische Blutdruck 123 mmHg; in der Standard-Behandlungsgruppe 134,8 mmHg. Die Differenz von 11,4 mmHg war kleiner als die im gesamten Studienkollektiv (14,8 mmHg). „Man sieht also: Die 120 wurde bei den älteren Patienten nicht erreicht“, bemerkt Hausberg, zumal der Blutdruck bei den SPRINT-Teilnehmern mit automatischen Blutdruckmessgeräten gemessen wurde. „Die damit erzielten Werte entsprechen eher einer Selbstmessung und liegen etwa 5 mmHg unter der Messung in der Praxis“, erklärt er.
In dieser Altersgruppe betrachtet er einen Zielwert von unter 130 mmHg als eher realistisch, auch, da Patienten um die 80 Jahre häufig komorbid seien und nicht selten 5 Medikamente und mehr am Tag einnähmen. Somit steige die Gefahr von Nebenwirkungen.
Um das niedrige Blutdruckziel zu erreichen, benötigten die SPRINT-Patienten in der intensiven Behandlungsgruppe im Durchschnitt einen zusätzlichen Blutdrucksenker und in der Frühphase zusätzliche Arztbesuche zur Dosisanpassung und Überwachung. „Bei älteren Patienten gilt: Die Einnahme eines neuen Wirkstoffs muss engmaschig beobachtet werden.“ Das bedeute monatliche ärztliche und laborchemische Kontrollen in der Einstellungsphase, „wie unter Studienbedingungen“. Notfalls müsse man das Medikament wieder absetzen.
Auch Dr. Aram Chobanian von der Boston University School of Medicine, USA, der die in der SPRINT Subanalyse erzielten Ergebnisse in einem Editorial als „beeindruckend“ bezeichnet, weist auf die Herausforderungen von extrem niedrigen Blutdruck-Zielwerten bei älteren Patienten hin [2]. „Systolische Blutdruck-Zielwerte von unter 130 mmHg zu erreichen könnte für Ärzte schwierig werden, weil es den Einsatz zusätzlicher Medikamente, engmaschigere Kontrollen und mehr Klinikbesuche bedeutet“, schreibt er.
Dennoch könne man die Ergebnisse dieser Subanalyse nicht außer Acht lassen und müsse, falls nicht bei genauer Betrachtung der Daten unerwartete Komplikationen ersichtlich werden, „die Behandlungsziele für über 75-jährige Hypertoniker wesentlich ändern“, so Chobanians Forderung. Er empfiehlt eine stufenweise Behandlung, die mit einem systolischen Zielwert von unter 140 mmHg beginnt, der anschließend unter genauer Beobachtung bis unter 130 mmHg heruntergestuft werden könne.
Forderung der DHL: Zielwert von 130 mmHg und DMP Hypertonie
Für die Umsetzung der Studienergebnisse fordert Hausberg eine entsprechende Behandlungsempfehlung für diese Altersgruppe in den Leitlinien. Erste Empfehlungen hat die Hochdruckliga zum Welt-Hypertonietag am 9. Mai als Reaktion auf die Ergebnisse der SPRINT-Studie veröffentlicht.
„Wir fordern die Blutdrucksenkung auf unter 130 mmHg systolisch in den Leitlinien zu verankern – und zwar für ein definiertes Patientenkollektiv mit einem erhöhten kardiovaskulären Risiko“, erklärt Hausberg in dem Statement der DHL. Da jedoch die erforderlichen häufigen ärztlichen Kontrollen bei älteren Patienten „momentan nicht der Versorgungsrealität entsprechen, fordern wir ebenfalls die Einrichtung eines Disease-Management-Programms (DMP) für Hypertoniker mit hohem kardiovaskulärem Risiko“, sagt Hausberg.
REFERENZEN:
1. Williamson JD, et al: JAMA (online) 19. Mai 2016
2. Chobanian AV: JAMA (online) 19. Mai 2016
Diesen Artikel so zitieren: SPRINT-Analyse: Auch über 75-Jährige profitieren von aggressiver Blutdrucksenkung unter 120 mmHg - Medscape - 30. Mai 2016.
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