Tonsillitis: Neue Leitlinie vereinheitlicht Antibiotikagabe und empfiehlt Tonsillotomie als Option

Julia Rommelfanger

Interessenkonflikte

10. Mai 2016

Düsseldorf –In den ersten Lebensjahren erkrankt jedes Kind mehrfach an Entzündungen des Rachens und der Mandeln. „Nicht jede Mandelentzündung muss operiert werden – und auch ist nicht immer eine Antibiotikabehandlung notwendig“, erklärte Prof. Dr. Jochen Windfuhr, Facharzt für HNO-Heilkunde am Krankenhaus Maria Hilf in Mönchengladbach, auf der Jahrestagung der deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie (DGHNO KHC) [1].

Prof. Dr. Jochen Windfuhr

Um Operationen und Antibiotikatherapie zu vereinheitlichen, hat der Vertreter der DGHNO KHC gemeinsam mit Experten des Deutschen Berufsverbands der Hals-Nasen-Ohrenärzte, der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie die Leitlinie „Therapie entzündlicher Erkrankungen der Gaumenmandeln – Tonsillitis“ entwickelt. Die Therapie-Empfehlungen wurden auf der DGHNO KHC-Tagung erstmals präsentiert.

„Unsere Ziele: Eine klare Orientierung für Ärzte in der Diagnose und für die Beratung der Patienten“, sagte Windfuhr im Gespräch mit Medscape. Wichtig sei, dass die Empfehlungen erstmals mit Kinderärzten gemeinsam entwickelt wurden, die diese Krankheit meistens zuerst behandeln. Die erste Leitlinie stammte aus dem Jahr 1996 – in der aktuellen Form ist die Leitlinie neu, sie wurde komplett überarbeitet und mit zahlreichen Ergänzungen versehen.

Rachenabstriche reduzieren, Blutuntersuchung vermeiden

 
Nicht jede Mandelentzündung muss operiert werden – und auch ist nicht immer eine Antibiotika-behandlung notwendig. Prof. Dr. Jochen Windfuhr
 

Jährlich werden in Deutschland bei 48 von 10.000 Kindern die Gaumenmandeln entfernt. Jedoch werden diese Operationen innerhalb Deutschlands unterschiedlich häufig durchgeführt. Das ergaben Untersuchungen der Bertelsmann Stiftung. Auch die Antibiotikagabe unterscheide sich je nach Wohnort des Erkrankten, sagte Windfuhr. „Die akute Tonsillitis wird zu 70 bis 95 Prozent der Fälle durch Viren ausgelöst. Antibiotika sind dann wirkungslos.“ Insbesondere bei Erwachsenen sinke die Wahrscheinlichkeit einer bakteriellen Infektion. Ob die Entzündung doch durch Bakterien ausgelöst wurde und somit ein Antibiotikum helfen könnte, sowie den Schweregrad der Entzündung sollen Ärzte künftig anhand zweier altersabhängiger Punktesysteme erkennen.

In dem System für Kinder bis 15 Jahre etwa werden die Schwellung der Mandeln, die Schwellung der Lymphknoten, Fieber und das Fehlen von Husten mit je 1 Punkt bewertet (Höchstpunktzahl: 4 Punkte). „Diese Diagnostik funktioniert schnell, günstig und effektiv“, erklärte Windfuhr. In Abhängigkeit dieser Punkteklassifikation soll nach einem diagnostisch-therapeutischen Algorithmus vorgegangen werden. Rachenabstriche werden nur noch für seltene Einzelfälle empfohlen; Blutuntersuchungen und die früher übliche Bestimmung des Anti-Streptolysin-Titers werden bei Verdacht auf Tonsillitis gar nicht mehr empfohlen. „Auf diese Verfahren sind wir in der Diagnostik der Tonsillitis nicht mehr angewiesen“, bemerkte Windfuhr.

„Bei Kindern wird erst ab einem Punktewert von 3 bis 4 ein Antibiotikum empfohlen“, erklärte Windfuhr. „Die Notwendigkeit zur antibiotischen Behandlung wird heute deutlich kritischer gesehen als früher“, ist in der Leitlinie zu lesen. Und Vorteile der Therapie, etwa schnelleres Abklingen von Fieber und anderer Symptome oder Verkürzung der Ansteckungsfähigkeit, sollen Nachteilen, vor allem Nebenwirkungen, Resistenzen und Kosten, gegenübergestellt werden. Zur Therapie reichen einfache Antibiotika, bemerkte Windfuhr. Empfohlen wird in der neuen Leitlinie wie bisher eine 7-tägige Penicillin-Therapie.

 
Bei mehrfach wiederkehrenden Mandelentzündungen hat sich die Mandelentfernung bewährt. Prof. Dr. Jochen Windfuhr
 

Spontanheilungsrate von bis zu 20 Prozent

Auch hinsichtlich der Tonsillektomie gibt die neue Leitlinie eine klare Empfehlung: Bei 6 oder mehr Mandelentzündungen innerhalb eines Jahres ist die operative Entfernung „eine therapeutische Option“, so der Leitlinientext. „Bei mehrfach wiederkehrenden Mandelentzündungen hat sich die Mandelentfernung bewährt“, erklärte Windfuhr hierzu. Bei 3 bis 5 Episoden im Jahr „kann“ die OP durchgeführt werden, bei weniger als 3 raten die Experten der Leitlinie von dem Eingriff ab. Nur in sehr seltenen Fällen müsse die Operation zügig erfolgen.

„Wir dürfen die Spontanheilungsrate nicht übersehen“, so Windfuhr. Diese betrage in Studien bis zu 20%. In Ländern, die eine Warteliste für die Operation führen, „finden sich Patienten aufgrund einer Spontanheilung nicht mehr zur OP ein. Bei moderaten und milden Formen raten wir daher dazu, zunächst ein halbes Jahr abzuwarten“, sagte Windfuhr. Ereignen sich in diesen 6 Monaten trotz wiederholter Antibiotikatherapie weitere Infektionen, „ist ein konservatives Vorgehen nicht mehr zumutbar, und die Mandelentfernung ist der bessere Weg.“

 
Nach der Teilentfernung sind sowohl das Risiko von Nachblutungen als auch die Schmerzen geringer. Prof. Dr. Jochen Windfuhr
 

In den letzten 10 Jahren seien Mandeloperationen in Deutschland stark rückläufig, erklärte Windfuhr gegenüber Medscape. Die Zahl der Operationen ohne Polypenentfernung sei um 25%, die mit Polypenentfernung sogar um 50% gesunken. „Gleichzeitig hat sich die Anzahl der Tonsillotomien verdoppelt.“

Tonsillotomie als neue Option

Erstmals wird dieses Verfahren der Teilentfernung bei Patienten mit besonders großen Mandeln in den Leitlinien als Option empfohlen, die sich in schwedischen Studien bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bewährt habe, sagte Windfuhr. Diese Operation stelle im Vergleich zur vollständigen Mandelentfernung eine geringere Belastung für die Patienten dar. „Nach der Teilentfernung sind sowohl das Risiko von Nachblutungen als auch die Schmerzen geringer“, erklärte Windfuhr. Eine Tonsillektomie ziehe bei Erwachsenen dagegen 2 bis 3 Wochen Halsschmerzen nach sich.  

„Da die extrakapsulären größeren Gefäße immer unangetastet bleiben, ist das Risiko einer postoperativen Blutung im Vergleich zur Tonsillektomie deutlich niedriger“, so der Leitlinientext. „Anfängliche Bedenken, dass in den Mandelresten Entzündungskomplikationen programmiert sind, haben sich nicht bestätigt“, so Windfuhr. Inwieweit sich die ungefährlichere Tonsillotomie langfristig gegen die Tonsillektomie durchsetzt, müssen künftige Studien klären, sagen die Autoren der Leitlinien.

 

REFERENZEN:

1. 87. Jahrestagung der Deutsche Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO KHC), 4. bis 7. Mai 2016, Düsseldorf

 

Kommentar

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