Mannheim – 2015 sind die neuen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) zum akuten Koronarsyndrom (ACS) ohne ST-Erhöhung (NSTEMI) publiziert worden. Seitdem hat sich auch in deutschen Kliniken einiges hinsichtlich Diagnose, Risikostratifizierung und Therapie geändert. Eine erste Einschätzung zum Nutzen der neuen Behandlungsempfehlungen gaben interventionelle Kardiologen auf der 82. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) in Mannheim [1].
ACS mit hochsensitiven Troponintests zu 98 Prozent auszuschließen
Eine wichtige Änderung im Vergleich zur vorherigen Version der NSTEMI-Leitlinien von 2011: Ein ACS ohne ST-Hebung kann jetzt schneller diagnostiziert werden. Der Diagnosealgorithmus bei Verdacht auf NSTEMI wurde verkürzt. Der zweite Troponintest kann bereits nach einer statt wie bisher nach 3 Stunden nach Aufnahme durchgeführt werden. Dies ist laut Prof. Dr. Christian Hamm vom Universitätsklinikum Gießen eine der prägendsten und meist diskutierten Änderungen in den ESC-Leitlinien von 2015. „Der Ausschluss eines akuten Koronarsyndroms ist durch den hochsensitiven Troponintest sehr schnell möglich, idealerweise schon nach einer Stunde und mit einer Sicherheit von 98 Prozent“, merkte er an.
Jedoch soll der 1-Stunden- den bisher empfohlenen 3-Stunden-Rhythmus nicht einfach ersetzen. Vielmehr erhielten beide Alternativen eine Klasse-Ib-Empfehlung und könnten zur Risikostratifizierung eingesetzt werden, betonte Hamm. Gleiches bemerkte auch Prof. Dr. Marco Roffi von der Leitliniengruppe bei der Präsentation des neuen Entwurfs auf dem ESC-Kongress 2015 in London.
Die Reduzierung des Diagnoseprotokolls in den NSTEMI-Leitlinien von 3 auf 1 Stunde fußt auf den Ergebnissen der Studie Biomarkers in Acute Vascular Care (BACC), die mit 1.045 Patienten am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf unter der Leitung von Prof. Dr. Dirk Westermann durchgeführt wurde, wie Medscape berichtete.

Prof. Dr. Christian Hamm
Cangrelor erstmals mit eigenem Kapitel in den Leitlinien
Auch in der Therapie des NSTEMI haben zahlreiche Studien zu veränderten Empfehlungen geführt. Bei der dualen Plättchenhemmung mit ASS plus P2Y12-Hemmer (früher standardmäßig Clopidogrel), die für alle ACS-Patienten empfohlen wird, wird erstmals Cangrelor in einem eigenen Kapitel der Leitlinien beschrieben: „Die Substanz kann intravenös gegeben werden und wirkt schon nach 3 bis 6 Minuten. Fängt der Patient an zu bluten, ist die Funktion der Blutplättchen 60 Minuten nach Infusionsstopp wiederhergestellt“, erklärte Hamm.
„Wenn Clopidogrel durch Cangrelor ersetzt wird, kommt es in den ersten Stunden zu weniger Stent-Thrombosen“, berichtete er. In der 2013 veröffentlichten CHAMPION-PHOENIX-Studie hat die Gabe von Cangrelor im Vergleich zu Clopidogrel während der perkutanen koronaren Intervention (PCI) zu weniger Stent-Thrombosen und Myokardinfarkten geführt.
Hamm bezeichnet den P2Y12-Hemmer als „elegante Substanz für Patienten, bei denen die Plättchenhemmung unter Clopidogrel nicht ausreicht“. Obwohl Cangrelor 2015 von der EMA zugelassen wurde, hielt die Leitlinien-Expertengruppe der ESC eine Empfehlung aufgrund der teilweise kontroversen Studienlage für „verfrüht“. Die Ergebnisse der ersten beiden Studien zu Cangrelor waren negativ, das heißt, es hatte sich kein zusätzlicher Nutzen gegenüber Clopidogrel gezeigt. Überzeugen konnte Cangrelor dagegen in der neuesten CHAMPION-PHOENIX-Studie.
Ausreichend Evidenz für kürzere Antikoagulationsdauer?
Auch hinsichtlich der optimalen Dauer der dualen Plättchenhemmung mit ASS und P2Y12-Hemmer beinhaltet die neue Leitlinie keine eindeutige Empfehlung. Aktuelle Studien suggerieren im Vergleich zur standardmäßig 12-monatigen Therapiedauer sowohl Vorzüge einer längeren Behandlung, unter anderem einen besseren Schutz vor Stentthrombosen, als auch Vorteile einer kürzeren Therapie, vor allem ein niedrigeres Blutungsrisiko. Doch die 12-monatige Therapie behält mit einer Klasse-Ia-Empfehlung den höchsten Empfehlungsgrad.
Je nach Risiko für ischämische Ereignisse und Blutungsrisiko kann die Therapie auf 3 bis 6 Monate verkürzt oder über 12 Monate hinaus verlängert werden. „Hat der Patient ein hohes Blutungsrisiko, könnte man die akute Plättchenhemmung also schon nach 3 bis 6 Monaten beenden“, kommentierte Hamm, schränkt aber ein: „Aus meiner Sicht fehlt die Evidenz, das zu machen, weil an den Studien zu wenige ACS-Patienten teilgenommen haben. Ich würde die Plättchenhemmung nicht unter zwölf Monate verkürzen, weil ich bei vielen Patienten in diesem Zeitraum noch Ereignisse befürchte.“
Auch hinsichtlich einer verlängerten Plättchenhemmung sei die bisherige Erfahrung eher spärlich. In der 2015 veröffentlichten PEGAGUS-TIMI-54-Studie zeigten sich nach 3-jähriger Ticagrelor-Therapie signifikant niedrigere Ereignisraten bei kardiovaskulärer Mortalität, Myokardinfarkt und Schlaganfall, jedoch höhere Blutungsraten. Viele Patienten, sagte Hamm, erhielten die duale Plättchenhemmung bereits länger als 12 Monate. „Nach dem ersten Jahr muss man je nach Blutungsrisiko entscheiden: Mache ich weiter?“ In der neuen Leitlinie erhielten sowohl die verkürzte (3 bis 6 Monate) als auch die verlängerte Therapie (bis zu 3 Jahre) Level-IIb-Empfehlungen. Die individuell optimale Therapiedauer, so die Leitliniengruppe, sollte auf dem Ischämie- und Blutungsrisiko des Patienten basieren.
Radialer Zugang neuer Standard bei PCI
Klar positioniert sich die Leitliniengruppe mit einer Level-Ia-Empfehlung für den radialen Zugangswegs bei der PCI. „Gleichzeitig sollten interventionelle Kardiologen aber auch hinsichtlich transfemoraler PCI in Übung bleiben“, riet Hamm, für den Fall, dass ein Zugang über die Arteria radialis nicht klappe.
In der MATRIX-Studie von 2015 resultierte der radiale im Vergleich zum femoralen Zugangsweg bei der PCI in einem um 15% geringeren Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse. „Die Leitlinien fordern uns nun auf, dieses Ergebnis umzusetzen, sprich, wann immer möglich, den Zugang über den Arm zu wählen.“
Hamm sprach sich ebenfalls deutlich für den Einsatz medikamentenbeschichteter Stents (DES) aus. „Es gibt heute keine Begründung mehr für Bare-Metal-Stents (BMS).“ Die DES seien „in jeder Situation vorzuziehen“, sagte er.
Triple-Therapie für Patienten mit Vorhofflimmern
Spezielle Berücksichtigung in der Leitlinie finden Patienten mit Vorhofflimmern, die etwa 5 bis 10% der NSTEMI-Population ausmachten, so Prof. Dr. Steffen Massberg, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik I am Klinikum der Universität München. Die neue ESC-Leitlinie empfiehlt für KHK-Patienten mit Vorhofflimmern, die einen Stent erhalten haben, ab einem CHA2DS2-VASc-Score von 2 oder höher und niedrigem Blutungsrisiko eine 3-fache Antikoagulationstherapie mit ASS, Clopidogrel und NOAKs für mindestens 1 Monat, gefolgt von einer Doppeltherapie (NOAK/ASS oder NOAK/Clopidogrel) bis zu einem Jahr.
Eine Langzeit-Triple-Therapie nach dem Stenting, mit ASS, Clopidogrel und zusätzlicher oraler Antikoagulation durch Vitamin-K-Antagonisten oder NOAK, habe im Vergleich zur dualen Therapie zu einer 40%igen Reduktion schwerer kardiovaskulärer Ereignisse (major adverse cardiovascular events/MACE) geführt, erklärte Massberg. „Jedoch war das Blutungsrisiko unter Triple-Therapie doppelt so hoch“, bemerkte er. Viele der Blutungen treten zwar periinterventionell auf, jedoch liege das Blutungsrisiko in den ersten 3 bis12 Monaten der Triple-Therapie immer noch bei 10%.
Massberg riet zu einer 6-monatigen Triple-Therapie. Danach könne man entweder ASS oder auch Clopidogrel absetzen. Nach 12 Monaten sei dann nur noch die orale Antikoagulation notwendig. Er rät davon ab, bei der Triple-Therapie Prasugrel zu verwenden. Prasugrel habe im Vergleich zu Clopidogrel zu einem vierfach erhöhten Blutungsrisiko geführt.
Interessant sei auch die Frage, ob NOAK in Kombination mit 2 weiteren Substanzen ebenfalls ein niedrigeres Blutungsrisiko als die Vitamin-K-Antagonisten aufweisen. Hinweise darauf liefere die RELY-Studie, bei der 4,5% der Studienpopulation, rund 800 Patienten, nach dem Stenting für kurze Zeit eine Triple-Therapie aus Dabigatran, Clopidogrel und ASS erhalten hatten.
Aktuell, sagte er, liefen mehrere Vergleichsstudien zur Triple-Therapie mit NOAK versus Vitamin-K-Antagonisten, unter anderem auch eine bei ACS-Patienten mit Vorhofflimmern.
REFERENZEN:
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Diesen Artikel so zitieren: Diagnose und Behandlung bei NSTEMI: Die neue Leitlinie im Praxistest - Medscape - 9. Mai 2016.
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