
Prof. Dr. Sabine Blaschke
Etwa 400.000 Vergiftungen behandeln Ärzte nach Angaben der Berliner Charité pro Jahr in Deutschland. Erwachsene sind genauso betroffen wie Kinder. Auf dem 122. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizinhat Prof. Dr. Sabine Blaschke über dieses wichtige Thema gesprochen. Sie leitet die interdisziplinäre Notaufnahme der Universitätsmedizin in Göttingen und hat unter anderem 2015 ein Buch über standardisiertes Vorgehen veröffentlicht.
Medcape: Welche Intoxikationen begegnen Ihnen am häufigsten in der Notaufnahme?
Prof Dr. Sabine Blaschke: In Deutschland treten bei Erwachsenen über dem 18. Lebensjahr Vergiftungen besonders nach Arzneimittelintoxikation auf – durch Antidepressiva, Neuroleptika oder Sedativa. Die zweithäufigste Gruppe sind Drogen wie Halluzinogene und Analeptika. Auch Intoxikationen durch chemische oder physikochemische Mittel kommen vor; dies sind dann meistens Unfälle.
Medcape: Werden die Intoxikationen durch Medikamente absichtlich herbeigeführt?
Prof. Dr. Blaschke: Meistens nehmen die Patienten die Substanzen in suizidaler Absicht ein (80-90% der Fälle). Die verbleibenden Vorfälle sind Unfälle (10-15%) oder ereignen sich in einem gewerblichen Rahmen (ca. 5%). Dementsprechend ereignen sich bis zu 84% der Vergiftungen auf oralem Weg. Auf dermalem, inhalativem oder intravenösem Weg ereignen sich je rund 5% der Intoxikationen.
Medcape: Wenn ein solch großer Anteil der Vergiftungen absichtlich herbeigeführt wird, wie groß ist dann die Wiederholungsgefahr bei Intoxikationen?
Prof. Dr. Blaschke: Dies ist aufgrund der Vielfalt der Vergiftungsursachen nicht generell abschätzbar. Bei Intoxikationen in suizidaler Absicht liegt die Wahrscheinlichkeit jedoch tatsächlich sehr hoch (60-70%), dass ein erneuter Versuch erfolgt.
Medcape: Wie gefährlich sind Intoxikationen?
Prof. Dr. Blaschke: Es gibt viele mögliche schwerwiegende Folgen einer Intoxikation. Dazu gehören Wachkoma, akutes Leber- oder Nierenversagen und kardiale Arrhythmien bis hin zum Herzstillstand. Gerade bei Barbituraten oder Opiaten kann respiratorische Insuffizienz auftreten.
Die Schwere wird anhand der Symptome in 12 Organen/Organsystemen gemäß dem Poisoning Severity Score (Persson et al, 1998) in fünf Schweregrade eingestuft: Von symptomlos über leichte Symptome mit geringer Dauer und mittlere, ausgeprägtere bis hin zu schweren oder lebensbedrohlichen Symptomen. Die fünfte Stufe bedeutet, dass der Patient verstorben ist, was bei ca. 30-40% der Patienten der Fall ist. Die Mortalität ist von vielen Faktoren wie Alter, Menge und Art der Substanz abhängig, ebenso wie vom Zeitpunkt der Aufnahme und dem Vergiftungsweg.
Medscape: Wie kann derartig schweren Vergiftungsfolgen am besten vorgebeugt werden?
Prof. Dr. Blaschke: Wenn eine Vergiftung auftritt, sind neun Schritte zu beachten. Die ersten drei Schritte laufen bei der Erstversorgung ab, danach sollte der Patient möglichst rasch in die nächstgelegene Klinik gebracht werden. Nicht alle Schritte treffen immer zu.
Zuerst sollte der Ersthelfer einen Notruf absetzen. Dann ist die wichtigste Aufgabe, die Vitalfunktionen zu sichern, falls der Patient nicht bei Bewusstsein ist, nicht mehr atmet oder der Puls nicht mehr tastbar ist. Der Ersthelfer sollte daher rasch die Atemwege, Atmung und Kreislauf kontrollieren und bei Atem- oder Kreislaufstillstand sofort mit Herzdruckmassage beginnen (ABCDE-Regel).
Zur Anamnese und Fremdanamnese sollte der eintreffende Notarzt schließlich anhand der sechs W-Fragen vorgehen und zunächst Namen und Alter des Patienten feststellen (Wer?). Die zweite Frage gilt der Substanz (Was?), die dritte dem Zeitpunkt der Einnahme (Wann?). Außerdem wichtig zu erfahren ist, welche Menge der Substanz sich im Körper befindet (Wie viel?) und ob die Vergiftung sich auf oralem, intravenösem, inhalativem oder dermalem Weg ereignet hat (Wie?). Bei der Ermittlung des Grundes für die Intoxikation (Warum?) sollte der Arzt eventuelle Asservate wie Giftreste, Blisterverpackungen oder den Abschiedsbrief sicherstellen und in die Klinik mitgeben. Gegebenenfalls sollte er nun mit einem Giftinformationszentrum (GIZ) Kontakt aufnehmen.
Medcape: Dies sind die ersten drei Schritte. Wie wird ein solcher Patient in der Klinik weiterbehandelt?
Prof. Dr. Blaschke: Als Nächstes sollte die nächstgelegene Klinik den Patienten aufnehmen. Dort muss der Kranke klinisch untersucht werden, eventuell unter Einsatz apparativer Diagnostik gemäß der Leitsymptome (EKG, Labordiagnostik etc.). Daran schließt sich die klinisch-toxikologische Analytik an, wobei eine Serum- oder Urinprobe erforderlich ist.
Therapeutisch ist die primäre Giftelimination von Bedeutung, dabei muss der behandelnde Arzt stets auf seinen eigenen Schutz achten. Das heißt zum Beispiel, dass bei Hautexposition Handschuhe angezogen werden müssen. Das Ziel dieser Maßnahme ist, die weitere Resorption des Gifts zu hemmen. Bei oraler Intoxikation wird eine Magenspülung in der Regel nicht mehr angewendet, sondern nur noch in Ausnahmefällen: bei sehr langen Transportwegen, sehr großen Giftmengen, Ingestion innerhalb der letzten 90 Minuten und Intubationsmöglichkeit. Ebenso ist die Gabe von Aktivkohle nur bei Ingestion innerhalb der letzten 60 min als effektive Maßnahme unter Beachtung weiterer Kontraindikationen (z.B. Aspirationsgefahr) einzusetzen. Wenn die Intoxikation über die Haut passiert ist, gilt es, kontaminierte Kleidungsstücke zu entfernen und die Haut ausgiebig mit Wasser zu spülen. Bei Inhalation wird der Patient nach der schnellstmöglichen Rettung aus der toxischen Atmosphäre mit hochdosierter Sauerstofftherapie behandelt.
Die sekundäre Giftelimination soll die Entfernung der Substanz aus dem Körper beschleunigen; hier finden die forcierte Diurese und Hämodialyse, Plasmapherese sowie Hämadsorption und außerdem die hyperbare Sauerstofftherapie Einsatz. Diese Verfahren können jedoch nur in speziell ausgestatteten Zentren durchgeführt werden.
Bei sicherem Hinweis und genauer Kenntnis der applizierten Substanz bietet sich die Gabe des spezifischen Antidots an.
Medscape: Vielen Dank für das Gespräch.
REFERENZEN:
Persson HE, et al: J Toxicol Clin Toxicol. 1998;36:205-213
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Die dargestellte Meinung entspricht der des Autors und spiegelt nicht unbedingt die Ansichten von WebMD oder Medscape wider.
Diesen Artikel so zitieren: Von wegen Aktivkohle und Magenspülung: Wie Ärzte bei Intoxikationen vorgehen sollten - Medscape - 12. Mai 2016.
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