Berlin – Ärzte werden künftig verpflichtet sein, ihre gesetzlich krankenversicherten Patienten vor planbaren sogenannten „mengenanfälligen“ Eingriffen darauf hinzuweisen, dass sie ein Recht auf eine ärztliche Zweitmeinung haben. So will es das im Juli 2015 in Kraft getretene Versorgungsstärkungsgesetz – mit dem Ziel, Patienten mehr Sicherheit zu geben. Welche Eingriffe genau unter die neue Regelung fallen, muss der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) erst noch festlegen. Es ist aber davon auszugehen, dass insbesondere auch Wirbelsäulen-Operationen dazu zählen werden.
Für den Bereich der Wirbelsäulen-Operationen haben die Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC) und der Berufsverband Deutscher Neurochirurgen (BDNC) bereits jetzt definiert, welche Anforderungen eine qualifizierte ärztliche Zweitmeinung erfüllen sollte. Auf einer Pressekonferenz beim 133. Chirurgenkongress in Berlin wurden sie vorgestellt [1].
„Grundsätzlich begrüßen wir solche Zweitmeinungsverfahren und denken, dass sie sowohl der Sicherheit der Patienten als auch der Verbesserung der Versorgungsqualität dienen. Die praktische Umsetzung ist allerdings längst nicht so einfach wie sie zunächst erscheinen mag“, sagte dazu Prof. Dr. Walter Stummer, Vizepräsident der DGNC, auf einer Pressekonferenz beim 133. Chirurgenkongress in Berlin.
Ärztliche Qualifikation und zeitnahe Zweitbegutachtung wichtig
Laut Statistischem Bundesamt standen im Jahr 2014 allein die Operationen mit Zugang zur Lendenwirbelsäule, zum Os sacrum und Os coccygis mit rund 285.000 Eingriffen zahlenmäßig an dritter Stelle der 20 häufigsten in deutschen Krankenhäusern bei vollstationären Patienten durchgeführten Operationen. Hinzu kamen rund 180.000 andere chirurgische Eingriffe an der Wirbelsäule. Die Operationen umfassen zum Beispiel die Entfernung von ausgetretenem Bandscheibenmaterial, den Einsatz von Spreizern oder Bandscheibenprothesen und Versteifungen an der Wirbelsäule.
Als zentralen Punkt, den ein Zweitmeinungsverfahren bei in Frage kommenden Rücken-OPs erfüllen müsse, nannte Stummer die Befragung und körperliche Untersuchung des Patienten durch den Arzt: „Nur ein Röntgenbild zu begutachten ist keinesfalls ausreichend.“ So müssten Veränderungen an der Wirbelsäule, die man dort sieht, nicht zwangsläufig für Rückenbeschwerden verantwortlich sein. „Und ob jemand ein neurologisches Defizit hat, lässt sich nicht via Internet, sondern erst nach der körperlichen Untersuchung sagen.“
Entscheidend kommt es dem Neurochirurgen zufolge auch auf die ärztliche Qualifikation des Zweitmeinenden an: „Er muss sowohl die neurochirurgisch-operativen Techniken zur Therapie von Wirbelsäulenproblemen kennen als auch den Überblick haben über konservative Behandlungsverfahren wie Schmerz- und Physiotherapie. Und er muss natürlich auch möglichst genau wissen, wie groß die Erfolgsaussichten und Risiken der einzelnen Verfahren sind.“

Albrecht Wienke
Wesentlich sei zudem eine zeitnahe zweite Begutachtung, um schmerzgeplagten Patienten keine unnötigen Behandlungsverzögerungen zuzumuten, betonte Stummer: „All das bedeutet einen erheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwand. Damit die zweite Begutachtung zügig und neutral erfolgt, sollte sie zudem mit einer angemessenen Vergütung für den Zweitmeinenden verbunden sein.“
Haftungsrechtliche Situation noch unklar
Um eine von finanziellen oder sonstigen Interessen unabhängige Begutachtung zu gewährleisten, sieht das neue Zweitmeinungsverfahren vor, dass die Zweitmeinung nicht von demselben Arzt oder derselben Einrichtung eingeholt werden darf, in der der Eingriff durchgeführt werden soll. „Das bedeutet, dass ein Patient, der die Empfehlung des zweiten Arztes besser als die des ersten findet, dann einen dritten Arzt aufsuchen muss, um die von ihm gewünschte Behandlung durchführen zu lassen“, erläuterte der Kölner Medizinrechtler Dr. Albrecht Wienke, Mitglied im Präsidiumder Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF)auf Anfrage von Medscape.
In einer kürzlich veröffentlichten AWMF-Analyse wird darüber hinaus auf verschiedene rechtliche Problematiken des neuen Zweitmeinungsverfahrens hingewiesen. So sei derzeit zum Beispiel das haftungsrechtliche Risiko des zuerst konsultierten Arztes nicht abschätzbar, das aufgrund einer – zumindest vom Patienten behaupteten – unterbliebenen mündlichen Aufklärung über den Zweitmeinungsanspruch besteht. Es wird deshalb empfohlen, die mündliche Aufklärung immer auch schriftlich zu dokumentieren.
„Fest steht jedenfalls bereits jetzt“, so Medizinrechtler Wienke, „dass die Neuregelungen zum Zweitmeinungsverfahren in ihrer konkreten Ausgestaltung mehrdeutig und auslegungsbedürftig sind und einige strittige Fragen unter Ärzten und Juristen aufwerfen.“ Inwieweit der noch ausstehende G-BA-Richtlinienbeschluss zur Zweitmeinung hier mehr Klarheit schaffen kann, wird sich zeigen.
REFERENZEN:
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Diesen Artikel so zitieren: Rückendeckung für Patienten: Anforderungen an Zweitmeinung bei Wirbelsäulen-OP definiert – Umsetzung nicht unkompliziert - Medscape - 4. Mai 2016.
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