Gefälschte Abrechnungen, manipulierte Dienstpläne, Einsatz von unqualifiziertem Personal: Der Betrugsskandal im Pflegebereich offenbart kriminelle Machenschaften im großen Stil. Laut einem Bericht des Bundeskriminalamtes (BKA), der verschiedenen Medien wie dem Bayerischen Rundfunk und der Welt am Sonntag , aber auch dem Bundesgesundheitsministerium (BMG), vorliegt, sind Pflegedienste, Pflegekräfte, Leistungsempfänger, Angehörige und Ärzte darin verwickelt.
„Der Pflegebereich hat seine Unschuld verloren. Es handelt sich um einen knallharten Markt, in dem im großen Stil betrogen werden kann und der anfällig ist für Mechanismen der Kriminalität. Hier gibt es keinen Unterschied mehr zum Drogen- und Menschenhandel“, kommentiert der Pflege-Experte Prof. Dr. Stefan Görres vom Institut für Public Health und Pflegeforschung (IPP) der Universität Bremen. Die Aufdeckung mafiöser Strukturen sei eine ganz neue Dimension. Die Politik dürfe nicht weiter dem Pflegebereich einen Heiligenschein aufsetzen, so Görres.
Unangemeldete Kontrollen: Möglich, aber kaum praktiziert
Experten und Gesundheitspolitiker fordern schärfere und unangemeldete Kontrollen. „Keine Toleranz bei betrügerischen Machenschaften“ – diesen Leitsatz gaben vergangenen Freitag Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe und GKV-Spitzenverbands-Vorsitzender Gernot Kiefer vor – nach einem gemeinsamen Treffen mit Vertretern von Bund und Ländern, des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), der Pflegeverbände und des Bundeskriminalamtes.
Ergebnis des Treffens: Die Einigung auf ein „gemeinsames Ziel“, nämlich „den Abrechnungsbetrug zulasten der Pflegebedürftigen und der Sozialkassen besser zu verhindern“, wie die Pressestelle des BMG auf Anfrage von Medscape mitteilt.
Auch der Ruf nach unangemeldeten Kontrollen von Pflegediensten wird lauter. Die gesetzlichen Voraussetzungen dafür bestehen bereits, sie werden nur nicht ausgeschöpft, kritisieren Experten. Aber woran hapert es bei der Umsetzung? „Es hat sich eingebürgert, dass sich die Prüfer des Medizinischen Dienstes einen Tag vorher bei den Pflegediensten ankündigen, da man ansonsten – anders als im stationären Bereich – oft die zuständigen Personen nicht antrifft“, erklärt Christoph Jaschke, Leiter der Arbeitsgruppe Pflege und Betreuung bei Transparency International, gegenüber Medscape. „Hier liegt der Fehler im System und die Möglichkeit, Dokumente und Dienstpläne zu manipulieren“, ergänzt Jaschke.
Kriminelle Machenschaften nicht auf russische Pflegedienste beschränkt
Bereits 2013 hatte Transparency International mit einem Bericht auf betrügerische Machenschaften im Pflegebereich aufmerksam gemacht (wie Medscape berichtete). Auch wenn sich die Untersuchungen des BKA momentan auf russische Pflegedienste konzentrierten, sei dieses Phänomen nicht auf diese Gruppe beschränkt, meint Jaschke. „Kein Dienst aus Moskau kann bei uns Pflegeleistungen anbieten. Die Pflegedienste sind in Deutschland gegründet und von den Kassen zugelassen worden“, betonte er.
„Solange es schwieriger ist, eine Frittenbude zu eröffnen, als einen Pflegedienst und solange wegen unseriösem Verhalten vom Markt gedrängte Pflegedienste unter anderem Namen mit dem gleichen Personal und den gleichen ‚Patienten‘ weitermachen können, ist unser Kampf gegen den Betrug ein Kampf gegen Windmühlen“, kritisiert der Grünen-Politiker Stephan von Dassel, Sozialstadtrat im Berliner Bezirksamt Mitte gegenüber Medscape.
Insbesondere in Berlin wird gegen Betreiber von Pflegediensten ermittelt, die der russisch-eurasischen Kriminalität zugeordnet werden. Bereits Ende 2014 ermittelte die Polizei gegen rund 145 von 600 Berliner Pflegediensten, wie in einem Beitrag des Politikers auf den Seiten von Transparency International zu lesen ist. Aber auch in Bayern, in Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen soll es nach den Recherchen von Bayerischem Rundfunk und Welt am Sonntag regionale Schwerpunkte geben.
Allein die durch Pflegebetrug entstandene Schadenshöhe in Berlin wird auf 30 Millionen Euro beziffert – zwischen 2 und 10 Milliarden Euro seien es schätzungsweise bundesweit, so von Dassel.
Pflegedokumentationen schwer zu überprüfen
Um Betrug zu verhindern, brauchen die Sozialämter, die unter bestimmten Voraussetzungen die Pflegekosten übernehmen, Zugriff auf die Pflegedokumentationen, betont er. Nur einige wenige Pflegedienste rückten die Pflegedokumentationen mit dem Hinweis auf den Datenschutz nicht heraus. Diese Argumentation sei aber vom Bundesdatenschutzbeauftragten längst zurückgewiesen worden, so von Dassel. „In der Regel bekommen wir die Pflegedokus. Das Problem ist nur, dass sie oft nicht stimmen oder dass sie zufällig gerade zum Abgleich im Büro des Pflegedienstes sind, was nicht zulässig ist“, schildert der Grünen-Kommunalpolitiker seine Erfahrungen aus der Praxis.
Problematisch ist von Dassel zufolge auch, dass sich die Pflegedienste nicht verpflichten wollen, Anfangs- und Endzeiten der Pflegetätigkeit zu dokumentieren. Sie wollen nur schwer kontrollierbare „Leistungskomplexe“ aufführen. Bei entsprechenden Verhandlungen zwischen dem Land Berlin und den Pflegediensten habe es einen ihm „unerklärlichen Schulterschluss“ zwischen den privaten Pflegediensten und den Pflegediensten der Wohlfahrtsverbände gegeben. „Wer schwarzen Schafen den Betrug erschweren will, der muss doch Interesse an einer solchen Mindesttransparenz haben“, kritisiert von Dassel.
Keine Pauschalverurteilung der Branche
Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin verurteilt in einer Mitteilung den Pflegebetrug aufs Schärfste, wendet sich aber gegen eine Pauschalverurteilung und einen Generalverdacht gegenüber der gesamten Branche. Der Verband bietet außerdem seine Mithilfe beim gemeinsamen Vorgehen gegen Korruption an.
Obwohl alle Beteiligten betonen, dass es sich bei dem Betrug im großen Stil um schwarze Schafe und Einzelfälle handelt, scheint der Pflegebereich durchaus Einfallstore für Betrügereien zu bieten. „Eine für Interessenskonflikte anfällige Struktur und ein komplexes Abrechnungssystem führen zur Intransparenz und begünstigen zunehmend auch organisierte Kriminalität“, betont Transparency International in einer Pressemitteilung.
Die Gemeinden und Städte mit ihren Sozialämtern sprechen sich für mehr Zusammenarbeit aus, um gegen den Betrug vorzugehen. Der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes (DStGB), Gerd Landsberg, fordert in einem Statement, dass Pflegekassen, Sozialämter, Polizei und Staatsanwaltschaften sich noch besser vernetzen müssten, um ihr Wissen über die Pflegedienste auszutauschen.
Rechnung prüfen wie bei der Autoreparatur
Kriminelle Machenschaften finden sich auch in anderen Branchen, doch Betrügereien in der Pflege gehen auf Kosten der Solidargemeinschaft, die das System mit ihren Versicherungsbeiträgen finanziert. „Der Leidtragende ist am Ende der Patient“, sagt Jaschke. Transparency International fordert deshalb mehr Transparenz bei den für die Pflege anfallenden Kosten. Ein Pflegeunternehmen müsse, wie andere Firmen auch, seine Kosten offenlegen.
In die nun aufgedeckten Machenschaften von osteuropäischen Banden waren teilweise offensichtlich auch Angehörige und Pflegeleistungsempfänger involviert. Doch Betrug sei auch ohne die Einbindung der Patienten möglich, meinen Experten.
Pflegeexperte Görres sieht auch die Pflegebedürftigen selbst und ihre Angehörigen in der Pflicht: „Die Abrechnung der Leistungen sollte überprüft werden wie die Rechnung einer Autowerkstatt“, meint er. Doch oft könnten oder wollten die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen nicht nachvollziehen, was vom Pflegedienst in Rechnung gestellt werde. „Menschen in existenziellen Nöten fühlen sich oft stark abhängig von Pflegediensten – sie wollen aus Furcht vor schlechteren Leistungen das Vertrauen zu den Pflegekräften nicht in Frage stellen.“
MDK-Prüfung sollte auf Intensivpflege ausgeweitet werden
In das Visier der polizeilichen Ermittler ist auch die Intensivpflege geraten, dort, wo mit wenigen Patienten sehr viel Geld verdient werden kann. „Hier wäre eine Qualitätsprüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen sinnvoll“, so die Pressesprecherin des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS), Michaela Gehms,auf Anfrage von Medscape.
Da aber die Intensivpflege oftmals ausschließlich mit der Krankenversicherung und nicht mit der Pflegeversicherung abgerechnet werde, könne der MDK nur die erbrachten Leistungen der Pflegeversicherung prüfen. Beatmungspflichtige Patienten würden zudem häufig in Wohngemeinschaften versorgt, die keiner externen Qualitätsprüfung unterliegen. Hier sollten MDK-Prüfungen eingeführt werden, die sowohl die Qualität der Versorgung als auch die Leistungsabrechnung kontrollieren, so der MDS.
Transparency International weist auf eine weitere Möglichkeit für korruptes Vorgehen hin, in das auch Kliniken verwickelt sein könnten: bei der Vermittlung von Pflegebedürftigen an ambulante Pflegedienste. Unter dem Deckmantel eines „Case-Managements“ werden hier gegen Bezahlung Patienten an Pflegedienste vermittelt – ungeachtet ihrer Arbeitsqualität und der Qualifizierung der Mitarbeiter.
Einrichtung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften gefordert
Angesichts der neuen Qualität des Betrugs im Pflegebereich fordern Politiker und Experten die Einrichtung von Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften. Denn momentan „verfügen die wenigsten Staatsanwaltschaften über Personen, die auf Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen spezialisiert sind“, betont auch DStGB-Hauptgeschäftsführer Landsberg.
Bei diesen spezialisierten Staatsanwaltschaften könne dann auch ein laut Transparency International notwendiges deutschlandweites Register zu Betrug und Missbrauch im ambulanten und stationären Bereich angesiedelt sein, wie Jaschke vorschlug.
„Auch in der öffentlichen Diskussion muss die Naivität aufgegeben werden, dass es hier allein um barmherzige Leistung geht, die sich am Menschen orientiert. Die Politik agiert sehr vorsichtig, weil wir einen Pflegenotstand und viele Pflegebedürftige haben. Es geht jedoch bei der Pflege um Rendite und Geschäfte. Wenn diese Mechanismen unter den Teppich gekehrt werden, dann ist der Pflege auch nicht geholfen“, warnt Görres.
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Diesen Artikel so zitieren: „Der Pflegebereich hat seine Unschuld verloren“ – Ursachen und notwendige Konsequenzen des Pflegebetrugs - Medscape - 27. Apr 2016.
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