Mannheim – Polypharmazie – die Behandlung mit mehr als 5 verschiedenen Medikamenten – ist bei Senioren eher die Regel als die Ausnahme. Dies gilt für viele Patienten in hausärztlicher Betreuung: Zum Altbewährten kommt immer Neues hinzu. Weil niemand den Patienten so gut kennt wie der Hausarzt, steht dieser einerseits in der Gefahr, alles so zu lassen, wie es immer war, hat aber andererseits auch die einmalige Chance, den Medikationsplan unter Berücksichtigung aller Facetten regelmäßig zu prüfen. Das betonte PD Dr. Thomas Münzer, Chefarzt der Geriatrischen Klinik St. Gallen, im Gespräch mit Medscape beim Internistenkongress in Mannheim.
Bessere Perfomance im Alter – auch dank besserer medizinischer Versorgung

PD Dr. Thomas Münzer
Die gute Nachricht zuerst: Wer heute 75 Jahre alt ist, hat deutlich mehr vom Leben als frühere Jahrgänge im selben Alter. Das berichtete der Geriater PD Dr. Rupert Püllen, Chefarzt am Agaplesion Markus Krankenhaus Frankfurt/Main. So zeigten eine Studie aus Göteborg und eine weitere schwedische Kohortenstudie, dass Personen des Geburtsjahrgangs 1930 im Alter von 75 Jahren größtenteils noch selbst mit alltäglichen Verrichtungen (86%) und mit ihrem Haushalt (67%) zurechtkamen und sogar noch Auto fuhren (53%); 16% unternahmen sogar noch regelmäßig Urlaubsreisen. Nur sehr wenige (3%) waren gebrechlich. Das war nicht immer so, wie die Vergleiche mit früheren Jahrgängen in den Studien zeigten.
Der bessere Gesundheitszustand im Alter ist indes nicht nur auf gesunde Ernährung, bessere Hygiene und mehr Sport zurückzuführen: Auch die weiterentwickelte Medizin trägt ihren Teil dazu bei. So geht laut einer von Püllen zitierten Studie die Senkung der kardiovaskulären Mortalität jeweils etwa zur Hälfte auf eine Verminderung der lebensstilbedingten Risikofaktoren und auf eine verbesserte medizinische Akuttherapie und Sekundärprophylaxe zurück, also auch auf die Einnahme von Betablockern, Blutdrucksenkern, Antiarrhythmika, Vasodilatatoren, Herzglykosiden und Co.
Bei Verwirrtheit und Sturz nicht nur an psychiatrische Medikamente denken
Die Kehrseite der Medaille ist, dass auch solche „alltäglichen“ internistischen Medikamente das Risiko von Verwirrtheit, Delir und Stürzen steigern können. Zusammen mit den „Hauptverdächtigen“ – etwa einigen Schmerzmitteln, Antidepressiva, Antipsychotika, sedierenden Antihistaminika, Opioiden und Benzodiazepinen – sind sie für einen beachtlichen Anteil dieser Ereignisse verantwortlich. Das erläuterte Prof. Dr. Martin Wehling, Direktor am Institut für Klinische Pharmakologie der Universitätsmedizin Mannheim, anhand der Ergebnisse einer eigenen Studie sowie zweier Studien von van der Velde bzw. Clegg und Young.
Wehling kritisierte zudem die weit verbreitete Gabe nicht-steroidaler Antirheumatika (NSAR): Neben gastrointestinalen Nebenwirkungen sei unter NSAR-Dauertherapie ein Blutdruckanstieg um (systolisch) etwa 14 mmHg zu erwarten. Diclofenac sei in Metaanalysen mit einer Verdopplung bis Verdreifachung des kardiovaskulären Risikos verbunden gewesen. Und bei gleichzeitiger Behandlung mit NSAR oder Coxiben und Antihypertensiva, vor allem RAS-Hemmern und Diuretika, steige das Risiko für akutes Nierenversagen, vor allem bei vorgeschädigten Nieren und in gesundheitlichen Stresssituationen.
Umgekehrt ist zu bedenken: Ein Patient, der jahrelang mit bestimmten Antihypertensiva gut gefahren ist, könnte bei beginnender Nierenschwäche Probleme mit eben diesen Blutdrucksenkern bekommen; sie müssen dann womöglich ausgetauscht werden.
PRISCUS-Liste, FORTA & Co Zur Überprüfung der Medikation steht neben der bekannten Beers-Liste und der deutschen PRISCUS-Liste neuerdings die Positiv-Negativ-Liste FORTA (Fit fOR The Aged) zur Verfügung. Sie beinhaltet 4 Medikamentenklassen mit fallendem Nutzen-Risiko-Verhältnis; der Grad ihrer Empfehlung lässt sich aus dem Buchstaben der Klassifikation leicht ableiten:
Wodurch wurden diese Effekte erreicht? „Die Ärzte der FORTA-Gruppe strichen bei der Überarbeitung des Medikationsplans ihrer Patienten besonders häufig Benzodiazepine (als Schlafmittel) und Protonenpumpenhemmer und verschrieben stattdessen häufiger Vitamin D und Kalzium“, nannte Wehling die auffälligsten Unterschiede. |
eHealth-Gesetz: Medikationsplan gibt Anstoß zum Nachdenken
Fortschritte erhofft sich Wehling auch von der Umsetzung des eHealth-Gesetzes: „Ab Oktober 2016 hat jeder Versicherte, der mindestens 3 unterschiedliche Medikamente bekommt, das Recht auf einen schriftlichen Medikationsplan vom Arzt, zunächst in Papierform.“ Das könne in vielen Fällen ein Anstoß zum Nachdenken für Ärzte und Patienten sein.
Dem stimmte auch Prof. Dr. Harald Dormann zu. Der Leiter der Zentralen Notaufnahme am Klinikum Fürth sieht noch weitere Vorteile: „Im bundeseinheitlichen Präventionsplan wird auch der Einnahmegrund benannt sein und die Apotheker können und sollten den Plan ebenfalls befüllen.“ Denn etwa 35% der Medikamente sind OTC-Präparate, von denen der behandelnde Arzt oftmals nichts ahnt, so Dormann. „Das einheitliche und digital einlesbare Format des Medikationplans wird die Medikamenten-Anamnese beschleunigen und einen vollständigeren Überblick ermöglichen“, ist er überzeugt, da er in einer der 3 Modellregionen tätig ist und dabei gute Erfahrungen gemacht hat.
Der Notfallmediziner räumte mit alten Vorurteilen auf: „Wir haben mehr Nebenwirkungen als Fehlverordnungen und wir haben mehr Nebenwirkungen als Interaktionen“, betonte er. Treten Medikationsfehler auf, sei dies bei über 65-jährigen Patienten oftmals (etwa 40% aller Fälle) relevant und führe zu Symptomen, so Dormann zu einer von ihm geleiteten Studie: „Ihr Organismus verzeiht nicht mehr so viel.“
Top Ten der Problemverursacher in den Fokus
Worauf sollte man nun besonders achten? „Auf die Verordnungszahlen in Deutschland gerechnet, haben Antipsychotika das höchste Risikopotenzial, danach die dopaminergen Substanzen, danach Antithrombotika und NSAR“, so Dormann. „Es geht also nicht um seltene Präparate, an die man nicht denkt, sondern es sind die Blockbuster, auf die wir achten müssen.“
Er riet zur Beachtung des Pareto-Prinzips: „Finden Sie die Top Ten der Problemverursacher unter den von Ihnen verordneten Medikamenten; diese werden für die allermeisten UAW verantwortlich sein, für etwa 80 Prozent. Und dann schulen Sie Ihr Team ausführlich zu Risiken und Nebenwirkungen dieser zehn Medikamente.“
Patienten fragen: Möchten Sie dieses Medikament einnehmen?
„Wir sollten uns immer fragen, ob der Patient das internistische Ereignis, vor dem wir ihn schützen wollen, vermutlich überhaupt noch erleben wird“, fasste Münzer im Gespräch mit Medscape das Für und Widerder Multimedikation zusammen. Er stellte klar, dass keine Negativ- oder Austauschliste die ärztliche Erfahrung und Einschätzung ersetzt, und riet den hausärztlichen Kollegen regelmäßig in halbjährlichen Abständen zu prüfen: Braucht diese Person in dieser körperlichen, psychischen und sozialen Situation (immer noch) genau dieses Medikament?
„Der Vorteil der Praktiker ist, dass sie ihre Patienten über Jahrzehnte begleiten und sie sehr gut kennen“, so Münzer. Dabei könnten sich aber festgefahrene Therapieschemata einschleichen. Medikamente, die früher angemessen waren, seien es irgendwann vielleicht nicht mehr. Etwa weil der Patient nun an Nierenschwäche leidet. Oder weil bei Krebs mit kurzer Lebenserwartung das Zehnjahresrisiko für Herzinfarkt nicht mehr so relevant für ihn ist.
Das alles hat nur der Hausarzt umfassend im Blick. Den Patienten solle er bei jedem Medikament fragen, ob er es überhaupt einnehmen möchte, so Münzer: „Sonst wird er es ohnehin nicht tun.“ Diese Art von Minderung der Polypharmazie, das ungezielte Weglassen durch den Patienten, wäre aber sicherlich am wenigsten hilfreich.
REFERENZEN:
1. 122. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, 9. bis 12. April 2016, Mannheim
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Diesen Artikel so zitieren: Der Hausarzt als Kämpfer gegen die Polypharmazie: „Finden Sie die Top Ten der Problemverursacher in Ihrer Praxis!“ - Medscape - 26. Apr 2016.
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