Mannheim – Seit Mai 2015 gibt es die „S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung“, die offenbar eine wichtige Lücke füllt: Die Leitlinie findet bereits jetzt breite Akzeptanz und Anwendung, etwa in der studentischen Lehre sowie in der Qualitätssicherung und der Zertifizierung von Zentren. PD Dr. Bernd Alt-Epping, Palliativarzt an der Universitätsmedizin Göttingen, stellte sie beim Internistenkongress in Mannheim vor [1].
„Die S3-Leitlinie Palliativmedizin entstand im Rahmen Leitlinienprogramms Onkologie und bezieht sich deshalb ausschließlich auf Patienten mit malignen Erkrankungen“, stellte Alt-Epping klar.
Erstellung von S3-Leitlinien: Ziel sechs des Nationalen Krebsplans
Im Nationalen Krebsplan ist im Handlungsfeld 3 – Sicherstellung einer effizienten onkologischen Behandlung – als Ziel 6 formuliert: Für alle häufigen Tumorarten existieren evidenzbasierte Behandlungsleitlinien der höchsten methodischen Entwicklungsstufe (sog. S3-Leitlinien), die von den onkologischen Behandlungseinrichtungen umgesetzt werden.
In der S3-Leitlinie zur Palliativmedizin geht es allerdings naturgemäß nicht nur um eine einzelne Tumorart: „Ähnlich wie in der Leitlinie zur Psychoonkologie wurden auch hier alle relevanten Tumorentitäten einbezogen“, so Alt-Epping, „etwa Brust-, Bronchial-, Darm- und Ovarialkarzinome, maligne Melanome und weitere.“
Viele konsensbasierte Empfehlungen
Inhalt der Leitlinie ist die Linderung typischer Symptome vieler Patienten in fortgeschrittenen Tumorstadien wie Schmerz, Atemnot, Obstipation und Depression. Daneben werden allgemeine Fragen zu Kommunikation und Versorgungsstrukturen der Krebskranken angesprochen, ein eigenes Kapitel widmet sich der Sterbephase; weitere Punkte sollen in einem zweiten Teil der S3-Leitlinie folgen.
Der Experte konstatierte, dass in der Palliativmedizin nach wie vor verhältnismäßig wenig studienbasierte Evidenz verfügbar sei: Von insgesamt 230 Empfehlungen der Leitlinie sind 100 (studien-) evidenzbasiert, 117 konsensbasiert und 13 beruhen auf Statements, berichtete er. Er sieht hier das Glas eher halb leer: „Ich denke, dass nur 100 evidenzbasierte Empfehlungen einfach zu wenig sind.“
Enorm hilfreich: Werkzeug für studentische Lehre und berufliche Weiterbildung
Laut Alt-Epping hat die S3-Leitlinie aber bereits jetzt „kolossalen Einschlag gefunden.“ Zum Beispiel wird sie bereits umfassend in der Aus-, Fort- und Weiterbildung eingesetzt, erklärte er auf Nachfrage von Medscape Deutschland. „Für den evidenzbasierten beruflichen Unterricht ist diese S3-Leitlinie Gold wert“, lobte er.
Ein weiteres Feld, in dem die Leitlinie bereits angewandt wird, ist laut Alt-Epping die Qualitätssicherung: „Bei der Zertifizierung onkologischer Zentren werden schon heute zwei der zehn Qualitätsindikatoren, die in der S3-Leitlinie genannt werden, abgefordert.“ Gemeint sind die Punkte „Reduktion von Schmerz“ und „Symptomassessment in der Sterbephase“ (siehe Kasten).
Argumentationshilfe in strittigen Fragen
„Zudem hat die S3-Leitlinie das Bewusstsein für Über- und Untertherapie geschärft, im Sinne der AWMF-/DGIM-Initiative ‚Klug entscheiden‘, die ein Schwerpunkt dieses Kongresses ist“, führte der Göttinger Palliativarzt weiter aus.
Und nicht zuletzt sei die Leitlinie als Argumentationshilfe bei strittigen klinischen Fragen sehr hilfreich, so Alt-Epping, etwa zu den Themen
symptomatische Dyspnoetherapie mit Opioiden,
(reflektierter) Einsatz transmukosaler Fentanyle,
konsequente Umsetzung von Frühintegrationskonzepten und
kriterienbegründete Therapiebegrenzung in der Sterbephase.
„Die Evidenz zum Beispiel für die symptomatische Behandlung von Dyspnoe mit Opioiden ist sehr stark, das lässt sich mit Hilfe der Leitlinie leichter erläutern“, so Alt-Epping.
Vom Kopf auf die Füße stellen: Mehr Studien zur Sicherung der Evidenz gefordert
Der Experte forderte mehr Initiative in der palliativmedizinischen Forschung, um die Evidenz für künftige Leitlinienversionen zu stärken – dann erweitert unter anderem um die Aspekte Übelkeit, Schlaf, Angst, Fatigue, Wundpflege und Todeswunsch: „Wir brauchen einfach mehr akademische Strukturen und mehr klinische Studien, um das, was wir in der Palliativmedizin für richtig und wichtig erachten, auf eine breitere Datenbasis zu stellen“, betonte er.
Qualitätsindikatoren zur Palliativversorgung von Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung 1. Reduktion von Atemnot 2. Reduktion von Schmerz 3. Opiate und Laxanzien (Qualitätsziel: niedrig) 4. Symptomassessment in der Sterbephase 5. Erfassung von Unruhe in der Sterbephase 6. Beenden von tumorspezifischen Maßnahmen in der Sterbephase (systemische Therapie, Radiotherapie – 14 Tage vor dem Tod) 7. Beenden von medizinischen Maßnahmen in der Sterbephase (Dialyse, Hämofiltration, Beatmung – 7 Tage vor dem Tod) 8. Screening auf Depression 9. Vorausschauende Versorgungsplanung (etwa Umfang und Grenzen der Behandlung, Präferenzen für die letzte Lebensphase einschl. Sterbeort und Bestattung, Benennung eines Vorsorgebevollmächtigten) 10. Screening mittels MIDOS und IPOS (validierte Bögen zur Erfassung von Schmerz, Fatigue, Obstipation, Dyspnoe, Asthenie, Angst, Übelkeit/Erbrechen, Appetitlosigkeit, Mundtrockenheit, Benommenheit, Bewegungseinschränkungen usw. – in patientenverständlicher Sprache) |
REFERENZEN:
1. 122. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), 9. bis 12. April 2016, Mannheim
© 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: S3-Leitlinie zu Palliativmedizin bei Krebs findet gleich im ersten Jahr großen Anklang - Medscape - 25. Apr 2016.
Kommentar