Die gute Nachricht zuerst: Die Zahl der Ärzte steigt. Die schlechte Nachricht: Der Bedarf steigt stärker. Nach den Daten der Mitte April von der Bundesärztekammer veröffentlichten Ärztestatistik für das Jahr 2015 erhöhte sich zwar die Zahl der bei den Landesärztekammern gemeldeten ärztlich tätigen Mediziner im Vergleich zum Vorjahr um 1,7% auf 371.302. Doch die Zahl der Behandlungen nahm in den vergangenen Jahren ebenfalls stark zu: Von 2004 bis 2014 stieg die Zahl der ambulanten Behandlungen um 152 Millionen auf 688 Millionen pro Jahr [1].
Viele der heute in der Statistik noch als „ärztlich tätig“ geführten Mediziner werden sich in den nächsten 10 Jahren in den Ruhestand verabschieden. Der Anteil der 50- bis 59-jährigen Ärzte in Deutschland liegt inzwischen bei 28,6% (2014: 28,5%). Über 59 Jahre alt sind derzeit 17,3% (2014: 16,4%).
Mancher erhoffte sich durch die Öffnung der Grenzen nach Osten eine Entspannung der Situation. Doch durch Zuwanderung ergab sich 2015 nur ein kleines Plus an Ärzten: Den 3.560 Ärzten, die im vergangenen Jahr vorwiegend aus Syrien, Serbien, Rumänien, Russland, Bulgarien und Ägypten nach Deutschland gekommen sind, stehen 2.143 Ärzte gegenüber, die aus Deutschland ausgewandert sind.
Nur leichte Erholung beim Nachwuchs
Und wie ist es um den ärztlichen Nachwuchs bestellt? Nach einem Allzeittief im Jahr 2005 – damals betrug der Anteil der unter 35-Jährigen in der deutschen Ärzteschaft nur noch 15,4% – hat sich die Zahl wieder etwas erholt: Die Ärztestatistik 2015 weist für sie einen prozentualen Anteil von 18,3% aus. Vergleichbar mit Werten aus früheren Jahren – 1993 waren noch mehr als 26% der Ärzte in Deutschland unter 35 – ist dies aber noch lange nicht.

Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery
Steigender Bedarf, alternde Ärzte und nicht genug Nachwuchs – wie soll so künftig eine angemessene ärztliche Versorgung der Bevölkerung sichergestellt werden? Die Meinungen darüber gehen auseinander.
Mehr Ärzte ausbilden oder die vorhandenen besser verteilen?
Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, Präsident der Bundesärztekammer, fordert in einer Pressemitteilung, die Zahl der Studienplätze bundesweit um mindestens 10% zu erhöhen.

Prof. Dr. Ferdinand Gerlach
© Michael Fuchs, Remseck
„Da bin ich dezidiert anderer Meinung“, sagt Prof. Dr. Ferdinand Gerlach, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), im Gespräch mit Medscape Deutschland. „Wir haben im internationalen Vergleich genügend Ärzte. Unser Hauptproblem ist eine doppelte Fehlverteilung. Es werden zu viele Spezialisten und zu wenige Generalisten weitergebildet.“
Auch die regionale Verteilung sei nicht zufriedenstellend: „Die meisten Ärztinnen und Ärzte sind dort, wo sie am wenigsten benötigt werden, nämlich in den überversorgten, wohlhabenden Stadtteilen unserer Ballungsgebiete“, kritisiert er. „Eine Erhöhung der Zahl der Studienplätze würde an diesen Fehlverteilungen nichts ändern, sie teilweise sogar verschlimmern.“
Auf dem Land droht ein Mangel an Hausärzten
Auch der deutsche Hausärzteverband warnt: „Es herrscht in der Bevölkerung ein enormer Bedarf an Hausärzten. Dieser kann aktuell nicht überall vernünftig gedeckt werden. Das gilt insbesondere für ländliche Regionen und strukturschwache Ballungsgebiete“, betont Vincent Jörres, Pressesprecher des Deutschen Hausärzteverbandes, gegenüber Medscape Deutschland.
„Wir sehen an den gestiegenen Weiterbildungsabschlüssen in der Allgemeinmedizin, dass die Maßnahmen der Vergangenheit durchaus fruchten“, ergänzt Jörres. Er spielt damit u. a. auf die Verträge zur Hausarztzentrierten Versorgung (HZV) an, die der Deutsche Hausärzteverband gemeinsam mit den Krankenkassen für inzwischen schon knapp 6 Millionen Patienten umgesetzt hat. Dadurch verbessere sich nicht nur die Qualität der Versorgung. „Darüber hinaus stärken wir so die Rolle des Hausarztes und sichern eine faire Vergütung. Das steigert die Attraktivität des Hausarztberufes ungemein“, so Jörres.
Gleichzeitig müsse man aber feststellen, dass vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und der Tatsache, dass immer mehr Patienten an chronischen Erkrankungen litten, zukünftig deutlich mehr Hausärzte gebraucht würden. Jörres ist sich sicher: „Das wird eine der entscheidenden Herausforderungen werden, wenn wir auch zukünftig eine qualitativ hochwertige ärztliche Versorgung sicherstellen wollen.“
Mehr Lehrstühle für Allgemeinmedizin
Montgomery will die hausärztliche Versorgung sicherstellen, indem bis 2017 an allen medizinischen Fakultäten in Deutschland Lehrstühle für Allgemeinmedizin eingeführt werden. Gerlach geht dies aber nicht weit genug: „Mehr Lehrstühle für Allgemeinmedizin – das ist eine sinnvolle Forderung, die aber allein nicht ausreichend ist. Auch deshalb, weil wir in Deutschland inzwischen schon eine sehr gute Entwicklung der universitären Allgemeinmedizin haben.“
Derzeit gebe es schon an 30 von 37 medizinischen Fakultäten Institute und Abteilungen für Allgemeinmedizin, zählt er auf. Doch trotzdem würden nur 10% der Absolventen Ärzte für Allgemeinmedizin oder Ärzte für Innere Medizin mit hausärztlicher Tätigkeit, kritisiert Gerlach.
Ändern soll das der Masterplan Medizinstudium 2020, dessen Verabschiedung für dieses Jahr geplant ist. Er hat 3 Ziele: „Das Medizinstudium soll praxisnäher werden, es soll eine Stärkung der Allgemeinmedizin im Studium erfolgen und es soll eine gezieltere Auswahl der Studienplatz-Bewerber geben“, erläutert Gerlach. Letzteres fordert auch Montgomery: „Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen ausgewählt werden, die hinterher auch in der Versorgung der Bevölkerung arbeiten wollen.“ Deswegen sollten neben der Abiturnote auch Faktoren wie psychosoziale Kompetenzen, soziales Engagement und einschlägige Berufserfahrung stärker berücksichtigt werden.
Der Deutsche Hausärzteverband sieht das ähnlich: „Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass weitere Kriterien neben der Abiturnote bei der Bewerberauswahl stärker berücksichtigt werden sollten. Dazu können zum Beispiel abgeschlossene Ausbildungen im sozialen Bereich, in der Pflege oder als MFA zählen“, erinnert Pressesprecher Jörres.
Veränderte Prioritäten junger Mediziner
Gerlach weißt zudem auf einen weiteren wichtigen Aspekt hin, der künftig die ärztliche Versorgung mitbestimmen wird: Junge Ärzte setzen heute andere Prioritäten als früher. „Die jetzt nachrückende Generation erwartet vor allem eine Balance zwischen Arbeit auf der einen Seite und Freizeit und Familie auf der anderen Seite. Das steht noch vor allen anderen Erwartungen wie z.B. dem Einkommen.“ Auch Montgomery weist im Hinblick auf die Ärztestatistik für 2015 auf diese Veränderung hin: Diese Ärztegeneration „ist verständlicherweise nicht mehr bereit, Versorgungslücken bedingungslos auf Kosten der eigenen Lebensplanung zu schließen“.
Er fordert daher: „Bund und Länder müssen in den Krankenhäusern für eine ausreichende Personalausstattung und Personalfinanzierung sorgen.“ Der Deutsche Hausärzteverband sieht z. B. in Hausarztzentren ein Konzept, das diesen Wünschen entgegenkommt. „Wir beschäftigen uns aktuell sehr intensiv mit der Frage, wie wir Hausarztzentren umsetzen können“, berichtet Jörres. Dabei handelt es sich um hausärztliche Versorgungszentren, in denen mehrere Hausärzte gemeinsam praktizieren. Das erlaube mehr Flexibilität und sei gerade auch für junge Hausärzte ein hochinteressantes Konzept.
Auch Gerlach sieht in ländlichen Gesundheitszentren, in denen mehrere Ärzte und medizinische Fachangestellte zusammenarbeiten, eine Möglichkeit, in Zukunft eine ausreichende hausärztliche Versorgung anzubieten.
REFERENZEN:
1. Bundesärztekammer: Ärztestatistik für 2015
© 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Ärztezahlen 2015: Viele Patienten, wenig Ärzte – oder ist es doch nur ein Verteilungsproblem? - Medscape - 25. Apr 2016.
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