Meinung

Süßholz bei Dyspepsie, Rhabarberkraut bei Obstipation: Pflanzliche Mittel als Therapieoption in der Gastroenterologie

Sabine Ohlenbusch

Interessenkonflikte

25. April 2016

Prof. Dr. Karin Kraft

In einer Gesellschaft, die sich durch Alterung und Migration sehr schnell wandelt, sind Innovationen gefragt. Der 122. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin machte dies zum Kernthema. Doch Innovation bedeutet auch, traditionelle Wege neu zu bewerten. Phytopharmaka können zum Beispiel helfen, wenn Erkrankungen zu komplex für chemisch definierte Medikamente werden. Auf dem Symposium zu Optionen in der Gastroenterologie sagt dies Prof. Dr. Karin Kraft als einer der bekanntesten Experten der Phytotherapie. Prof. Dr. Kraft ist Mitglied der Kommission E, die als selbstständiges Sachverständigengremium das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bei der Zulassung von Phytopharmaka berät, sowie Vorsitzende der Gesellschaft für Phytotherapie. Medscape hat mit ihr über phytotherapeutische Optionen in der Gastroenterologie gesprochen.

Medscape: Welche Bedeutung haben Phytopharmaka in der Gastroenterologie?

Prof. Dr. Kraft: Die Phytotherapie ist bei funktionellen gastroenterologischen Erkrankungen wie dem dyspeptischen Syndrom oder dem Reizdarmsyndrom von großer Bedeutung, da Prokinetika aufgrund von Nebenwirkungen hier nicht mehr verwendet werden dürfen. Auch bei Obstipation und Diarrhoe ist die Phytotherapie eine wertvolle Therapieoption.

Medscape: Wann helfen pflanzliche besser als herkömmliche Medikamente?

Prof. Dr. Kraft: Magen und Darm werden komplex reguliert. Im Gegensatz zu chemisch definierten Substanzen, die in der Regel nur ein Teilsystem ansprechen, ist bei Phytopharmaka aufgrund des großen Spektrums an wirksamen Inhaltsstoffen in den Arzneipflanzen gewährleistet, dass auch komplexe Regulationen stattfinden können. Deshalb sind pflanzliche Arzneimittel bei gastroenterologischen Regulationsstörungen besonders gut geeignet.

Medscape: Welche pflanzlichen Mittel finden bei welchen gastroenterologischen Krankheitsbildern Einsatz?

Prof. Dr. Kraft: Bei der funktionellen Dyspepsie oder dem Reizdarmsyndrom ist eine Kombination aus Iberis amara, Angelika, Kümmel, Mariendistel, Schöllkraut, Süßholz, Kamille, Melisse, Pfefferminze oder aus Pfefferminze und Kümmel wirksam. Bei chronischer Diarrhoe oder Obstipation allgemein wie auch als Bestandteil dieser Syndrome sind Leinsamenschleim, (indische) Flohsamen oder deren Schalen zu empfehlen. Man sollte hier auf die im Handel erhältlichen Arzneimittel zurückgreifen.

Pflanzliche Arzneimittel sind bei Regulations-störungen besonders gut geeignet.

Gegen akute Diarrhoe helfen Blutwurzstock (Potentilla officinalis) oder getrocknete Heidelbeeren, die man in jeder Apotheke erhalten kann. Bei akuter Obstipation können für wenige Tage Aloe, Rhabarberwurzel, Faulbaumrinde, Sennesfrüchte und -blätter Einsatz finden. Flohsamen und Leinsamen sind Mittel der ersten Wahl, insbesondere bei chronischer Obstipation, da sie sich auch zur Langzeitanwendung eignen.

Medscape: Wie schätzen Sie die Gefahr für chronische Nebenwirkungen und Vergiftungen durch Pflanzen gerade im gastroenterologischen Bereich ein – zum Beispiel bei Selbstmedikation durch den Patienten? Wie können Ärzte hier eingreifen?

Prof. Dr. Kraft: Die in Deutschland zugelassenen pflanzlichen Arzneimittel sind außerordentlich nebenwirkungsarm – Phytopharmaka mit nebenwirkungsträchtigen und giftigen Pflanzen sind nicht mehr erhältlich. Phytopharmaka sind deshalb nicht verschreibungspflichtig und seit 2004 durch die gesetzlichen Krankenkassen nicht mehr erstattungsfähig. Die Selbstmedikation (nicht nur mit Phytopharmaka) ist übrigens aus Gründen der Kostenersparnis politisch erwünscht. Die Aufklärung findet in der Regel in den Apotheken statt, phytotherapeutisch tätige Ärzte sehen Patienten mit Nebenwirkungen und Vergiftungen durch Selbstmedikation extrem selten. Alle in Europa zugelassenen und registrierten Arzneimittel unterliegen dem Vigilanzsystem der Europäischen Arzneimittelagentur.

Medscape: Was kann Phytotherapie außerhalb der symptomatischen oder komplementären Behandlung leisten, in der Gastroenterologie und anderswo?

Prof. Dr. Kraft: Die Phytotherapie wird infolge wissenschaftlichen Studien zunehmend mehr eine positiv empfohlene Option in den medizinischen Leitlinien werden. Im gastrointestinalen Bereich gilt das schon für die funktionelle Dyspepsie, das Reizdarmsyndrom, die chronische Obstipation und, mit Einschränkung, auch für die Colitis ulcerosa. Damit haben die entsprechenden Phytopharmaka die Komplementärmedizin für diese Indikation verlassen. Weitere Beispiele dafür sind Ginkgo-Extrakt bei der Therapie dementieller Erkrankungen oder Johanniskrautextrakte bei leichter bis mittelschwerer Depression. Möglicherweise werden zukünftig z. B. auch bestimmte Phytoextrakte in den Leitlinien zu akuten oder chronischen Harnwegserkrankungen empfohlen werden.

Medscape: Forschung in der Phytotherapie: Was sind die Herausforderungen aus Ihrer Sicht?

Prof. Dr. Kraft: Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern ist die klinische Forschung zur Phytotherapie in Ländern der EU aufgrund von regulativen Vorgaben stark erschwert. Hinzu kommen die weitgehend fehlende Patentierbarkeit pflanzlicher Extrakte und die sehr hohen Kosten einer klinischen Studie bei infolge der Selbstmedikation notwendigerweise niedrigen Produktpreisen. Kleine und mittlere Unternehmen sind deshalb kaum noch in der Lage, eine derartige Forschung zu betreiben. In anderen Ländern, z. B. in China oder Südkorea, wird die Forschung zur Phytotherapie staatlich stark unterstützt. Das heißt, dass dort Forscher gezielt nach Phytopharmaka suchen, die sich auch bei schweren Erkrankungen eignen, weil diese Staaten ihrer Bevölkerung preisgünstige und wirksame Alternativen zu teuren chemisch definierten Substanzen bieten möchten.

Andererseits unterstützen Länder wie die USA intensiv die Forschung zu pflanzlichen Nahrungsergänzungsmitteln, sogenannt Botanicals, auch bei schweren Erkrankungen. Diese Produkte haben jedoch oft den Nachteil einer nicht genau definierten Qualität, was aber die selbstzahlenden Endverbraucher in der Regel nicht wissen.

Medscape: Ein Vorwurf an ältere phytotherapeutische Studien ist, dass sie keine klaren Aussagen träfen. Wie hat sich dies in Studien bis heute entwickelt und wie gehen Sie in ihrer Forschungspraxis vor?

Die Selbstmedikation (nicht nur mit Phytopharmaka) ist aus Gründen der Kostenersparnis politisch erwünscht.

Prof. Dr. Kraft: Der Vorwurf ist nicht richtig. Diese älteren Studien haben sich am damaligen Forschungsstand orientiert. Deshalb wird aber oft seitens der Zulassungsbehörden ihre Gültigkeit für die gegenwärtig definierten Indikationen angezweifelt. Die modernen Studien werden natürlich entsprechend dem gegenwärtigen Forschungsstand durchgeführt. Da diese zentral bei den Zulassungsbehörden registriert werden müssen, würde ihre Durchführung ansonsten auch nicht genehmigt werden.

Medscape: Wo liegt die Zukunft für die Forschung in der Phytotherapie?

Prof. Dr. Kraft: Schwerpunkte werden chronische Erkrankungen sein, denn wir benötigen hier Alternativen, wenn die chemisch definierten Medikamente ihre Wirkung verlieren oder wegen des Eintretens von Nebenwirkungen nicht mehr verwendet werden können. Die Forschung zu den Regulationsstörungen sollte intensiviert werden können. Auch die Prävention von Erkrankungen durch Phytotherapie könnte zukünftig zu einem Thema werden.

Medscape Deutschland: Vielen Dank für das Gespräch.

Kommentar

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