Musik, nur wenn sie laut ist … Studie bestätigt: Ohrstöpsel schützen vor temporärem Hörverlust bei Live-Konzerten

Dr. Ingrid Horn

Interessenkonflikte

20. April 2016

In den vergangenen Jahren hat die Häufigkeit von erworbenem Hörverlust stark zugenommen. Laut der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde ist in den 2 Jahrzehnten nach 1988 die Prävalenz bei Erwachsenen um 31% gestiegen. Besonders bei Musikfestivals und Konzerten sind die Zuhörer hohen gehörschädigenden Schalldruckpegeln ausgesetzt. Wie eine im Journal of the American Medical Association (JAMA) veröffentlichte holländische Studie zeigt, kann das Tragen von Ohrstöpseln während eines Konzerts die Gefahr eines temporären Hörverlustes deutlich mindern [1].

„Allgemein ist die Bereitschaft unter den Zuhörern, während einer Musikveranstaltung Ohrstöpsel zu tragen, sehr gering“, schreiben Dr. Geerte G. J. Ramakers von der Fakultät für Otorhinolaryngologie und Kopf- und Hals-Chirurgie an der Universität Utrecht und ihre Kollegen. Die randomisierte einfach-verblindete Studie band deshalb erstmals mehrere akustische Parameter ein, um die Effektivität von Ohrstöpseln unter den Rahmenbedingungen einer Open-Air-Veranstaltung in Amsterdam zu erfassen.

Prof. Dr. Birgit Mazurek

Die Gefahr wird unterschätzt

„Studien zur Prävention wie die holländische sind extrem wichtig“, urteilt Prof. Dr. Birgit Mazurek von der Charité in Berlin. Die meisten Menschen seien sich nicht bewusst, dass laute Dauerbeschallung zu irreversiblem Hörverlust führen kann, betont die Direktorin des Berliner Tinnitus-Zentrums gegenüber Medscape Deutschland. Kritisch werde es bereits ab 85 dB bei einer über 8 Stunden anhaltenden Beschallung. Je höher der Schalldruck, umso geringer die Expositionszeit, die zu einer Schädigung des Gehörs führt. Bei 100 dB, die auf Festivals ohne weiteres erreicht werden, genügten schon 4 Stunden, erläutert sie weiter.

Ob die Hörzellen irreversibel geschädigt werden, kann außer vom Schalldruckpegel noch von anderen Faktoren abhängen. Die Häufigkeit der Exposition trage ebenso dazu bei wie eine genetische Prädisposition; außerdem seien die Ohren nachts sowie unter Alkohol- und Drogeneinfluss empfindlicher, gibt Mazurek zu bedenken.

Ohne Hörschutz hört man schlechter

Die holländischen Wissenschaftler untersuchten das Hörvermögen von 51 Teilnehmern vor der 4 1/2-stündigen Veranstaltung und 30 Minuten nach deren Ende. Die eine Hälfte trug Ohrstöpsel desselben Herstellers, die die Beschallung um 18 dB dämpften. Bei der anderen Hälfte der Studienteilnehmer blieben die Ohren dagegen ungeschützt. Lediglich 8% der Ohrstöpsel-Träger hörten nach dem Konzert schlechter im Vergleich zu 42% der Teilnehmer ohne Gehörschutz.

Als objektives Maß für einen Hörverlust gilt die Verschiebung der Hörschwelle. Hierzu wertete das Autorenkollektiv die Audiogramme jedes einzelnen Ohres für die Frequenzen von 3 bzw. 4 kHz aus. Mit Ohrstöpsel erhöhte sich die Schwelle für das rechte bzw. linke Ohr bei 3 kHz im Mittel um 3,3 dB bzw. 2,1 dB, während der Mittelwert für ungeschützte Ohren bei 8,8 dB bzw. 7,1 dB lag. Noch drastischer fiel der Unterschied für 4 kHz aus. „Das relative Risiko, bei lauter Musik einen temporären Hörverlust zu erleiden, war damit bei ungeschützten Ohren um das Fünffache höher”, schreiben die Autoren.

 
Für den Gebrauch von Ohrstöpseln sollte aktiv geworben werden. Dr. Geerte Ramakers und Kollegen
 

Außerdem ermittelten Ramakers und ihre Kollegen die Distorsionsprodukte otoakustischer Emission (DPOAE), die eine differenziertere Aussage über die Funktionsfähigkeit der Hörschnecke zulassen. Wie sie feststellten, nahm die DPOAE-Amplitude im Frequenzbereich von 2 bis 8 kHz bei der Gruppe mit ungeschützten Ohren deutlicher ab als bei den Ohrstöpsel-Trägern.

Auch hinsichtlich der subjektiven Empfindung eines Tinnitus unterschieden sich beide Gruppen. Während nur 3 von 25 Teilnehmern mit Ohrstöpseln über Ohrgeräusche nach dem Festivalbesuch klagten, betraf dies 10 Personen ohne Gehörschutz.

Gehörschutz braucht mehr Akzeptanz

Die Konsequenz aus ihrer Studie ziehen die Autoren ganz unverblümt: „Für den Gebrauch von Ohrstöpseln sollte aktiv geworben und dadurch ermutigt werden, einen durch Freizeitlärm verursachten Hörverlust zu vermeiden“, schreiben sie.

 
Wir vertreten den Einsatz von Ohrstöpseln bei Großveranstaltungen sehr offensiv. Prof. Dr. Birgit Mazurek
 

Dieser Forderung kann sich Mazurek nur anschließen. Als Vorsitzende der Deutschen Tinnitus-Stiftung der Charité verfolgt sie seit 2012 eine Strategie, die die Prävention in den Vordergrund stellt. „Wir vertreten den Einsatz von Ohrstöpseln bei Großveranstaltungen sehr offensiv“, erläutert sie mit Verweis auf die Kampagne „Ich höre was, was Du nicht hörst“.

Inzwischen engagieren sich bundesweit über 100 Ehrenamtliche, die auf Großveranstaltungen wie Musikfestivals und Bundesligaspielen Aufklärungsmaterial und Ohrstöpsel verteilen. „Wir wollen vor allem Jugendliche früh sensibilisieren, ihre Ohren zu schützen“, betont die Berliner Tinnitus-Expertin. Wenn es zusätzlich noch eine gesetzliche Begrenzung des Schalldruckpegels bei öffentlichen Großveranstaltungen und auch für iPhones gäbe, wäre dies in ihren Augen eine weitere wichtige Maßnahme, um die Gefahr drohenden Hörverlusts durch Freizeitlärm zu bannen.

 

REFERENZEN:

1. Ramakers GGJ, et al: JAMA (online) 7. April 2016

 

Kommentar

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