Mannheim – Off-Label-Use in der Rheumatologie: „Das Thema brennt uns Rheumatologen unter den Nägeln, denn in unserer täglichen Praxis kommen wir um die Off-Label-Therapie nicht herum“, sagte PD Dr. Susann Patschan, Oberärztin in der Rheumatologischen Ambulanz am Universitätsklinikum Göttingen, beim Internistenkongress in Mannheim [1].
Wie auch off-label rechtssicher behandelt werden kann, zeigte Prof. Dr. Gunnar Duttge, Abteilung für strafrechtliche Medizin- und Biorecht an der Universität Göttingen. „Nicht alles, was Sie tun, führt direkt ins Gefängnis – da sind Ihre Sorgen wahrscheinlich größer als es der strafrechtlichen Realität entspricht“, beruhigte der Jurist.
Off-label kann nicht nur der Wirkstoff selbst sein
Patschan stellte klar, dass sich Off-Label-Use nicht nur auf den Wirkstoff bezieht, sondern auch auf die Dosierung und das Dosierungsintervall. Doch die Vorgaben aus klinischen Studien müssen individuell nicht unbedingt passen: „Ist das Biologikum, der Antikörper, alle 14 Tage mit 40 Milligramm gegeben, beim 50 Kilo-Patienten genau so wirksam wie beim 120 Kilogramm-Patienten?“ Zudem sei zu berücksichtigen, ob die Erkrankung hochaktiv ist oder mittelaktiv. „Können wir wirklich allen unseren Patienten genau die gleiche Therapie geben?“, fragte die Rheumatologin.
Off-label kann auch die Behandlungsdauer sein: Nach Studienlage darf der Antikörper nur zur Induktionstherapie gegeben werden. „Wir wissen aber, dass es auch für die Erhaltungstherapie mittels Antikörper gute Daten gibt – aber noch dürfen wir ‚in-label‘ so nicht therapieren. Entspricht unsere Therapie nicht genau den Zulassungskriterien, dann befinden wir uns schnell im Off-Label-Bereich.“ Auch die Vormedikation ist im Label oft festgelegt: „Wir dürfen gewisse Medikamente eigentlich nur dann geben, wenn zuvor DMARDs verordnet worden sind oder ein TNF-alpha Blocker“, nannte Patschan als Beispiel.
Wo beginnt der Off-Label-Use?
Off-Label-Use bedeutet die Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels jenseits der vom Hersteller vorgegebenen Indikation, erklärte Duttge und ergänzte: „Es hängt also immer davon ab, was Gegenstand der Zulassung des Medikaments ist.“
In Deutschland komme hinzu, dass 90% der Patienten gesetzlich versichert seien. Laut SGB V muss eine Maßnahme notwendig und wirtschaftlich vertretbar sein. So werden durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts limitierende Regeln festgelegt. Im Urteil des Bundessozialgerichts zu Sandoglobulin (BSGE 89, 184ff ;BSG, 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R) heißt es z.B.: „Ein Off-Label-Use ist gerechtfertigt bei einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Krankheit, bei fehlenden therapeutischen Alternativen und der begründeten Aussicht auf einen Behandlungserfolg, vergleichbar mit Phase-3-Studien.“
Der im Urteil formulierte hohe Anspruch an die Evidenz – „vergleichbar mit Phase-3-Studien“ – schließe vieles aus, so Duttge. In der Entscheidung des Bundessozialgerichts zu Tomudex (BSGE 96, 170 ff; 7. 11 2006·- B 1 KR 24/06 R) wurde dieser Aspekt ein wenig abgemildert. „Konkrete Erfahrungen“ des Arztes sollen jetzt mit einbezogen werden.
„Es gibt damit eine Art Stufenschema für Off-Label-Verordnungen“, erklärte Duttge: Liege ein leichter bis mittlerer Schweregrad einer Erkrankung vor, sei etwa ein Off-Label-Use unzulässig. Liege eine schwerwiegende Erkrankung vor, sei der Off-Label-Use zulässig bei evidenzbasierter Aussicht auf Behandlungserfolg (entsprechend BSGE 89, 184 ff). Ist der Schweregrad lebensbedrohlich, dann ist auch eine geringere Evidenz als die aus Phase-3-Studien zulässig (BSGE 96, 170 ff). „Klar ist aber auch: Für mittelschwere Erkrankungen ist der Off-Label-Use von Medikamenten unzulässig“, betonte Duttge.
Zwar nehme auch das SGB V mit dem Paragrafen 35c den Off-Label-Use in den Blick und leite einen Versorgungsanspruch ab: „Dieser ist aber wiederum begrenzt auf schwerwiegende Erkrankungen“, betonte Duttge. Im Paragraf 35c heißt es: „Eingesetzt werden dürfen nur Medikamente, die sich in klinischen Prüfungen befinden bzw. in Phase-3-Studien geprüft worden sind.“ Und gegen den Off-Label-Use dieser Mittel gibt es noch ein Widerspruchsrecht des GBA. Auch die Kosten spielen eine Rolle: Sie müssen in „angemessenem Verhältnis“ zum erwarteten Zusatznutzen stehen. „Wenn man das prüfen muss, ist der Ausgang meist offen“, so Duttge.
Methotrexat ist das Off-Label-Medikament Nummer eins
Klare Methotrexat (MTX)-Indikationen sind Rheumatoide Arthritis (RA), Psoriasis vulgaris und die Psoriasis-Arthritis. „Unser Off-Label-Medikament Nummer eins ist das gute alte MTX, das so preiswert ist, dass viele es schon gar nicht mehr herstellen wollen und unsere Patienten manchmal Schwierigkeiten haben, das Rezept entsprechend einzulösen“, berichtete Patschan.„In Einzelfällen setzen wir MTX bei Kollagenosen (Lupus), Vaskulitiden, Spondylarthropathie, Polymyalgia rheumatica und Riesenzellarteriitis ein.“
Der Vorteil von MTX: Wirkung und Nebenwirkungen lassen sich aufgrund der häufigen Anwendung bei RA gut abschätzen: „Es existieren auch gute Langzeitdaten zur Medikamentensicherheit, insbesondere zur kardiovaskulären Mortalität“, so Patschan. Die Kostenträger tragen bei akzeptablem Preis im Vergleich vor allem zu den Biologika die Therapie im Rahmen eines individuellen Heilversuchs auch meist mit.
Eine Arbeit, die den Off-Label-Use von Methotrexat auf verschiedene Erkrankungen des rheumatologischen Formenkreises untersucht hat, zeigt beim systemischen Lupus eine Wirksamkeit auf Haut und Gelenke, beim Sjögren-Syndrom eine subjektive Besserung der Sicca-Symptomatik, der Parotisschwellungen und des trockenen Hustens und bei der problematisch zu therapierenden Sklerodermie eine signifikante Verbesserung der Hautsklerose. Auch für die Polymyositis deuten Fallbeobachtungen und eine Studie auf eine suffizientere Krankheitskontrolle unter MTX hin.
Rituximab off-label beim systemischen Lupus und beim Sjögren-Syndrom
Rituximab hat bei vielen Erkrankungen zu enormen Durchbrüchen geführt, ist relativ gut verträglich, wird auch von älteren, multimorbiden Patienten gut toleriert und hat zu einer wesentlichen Kontrolle der Krankheitsaktivität beigetragen. Zugelassen ist es bei RA nach TNF-alpha-Gabe und zur Initialtherapie bei Kleingefäß-Vaskulitiden.
„Es mehren sich die Hinweise, dass Rituximab auch bei anderen systemischen und vor allem refraktären Erkrankungen sehr effektiv ist. Der Wille es einzusetzen, ist sehr hoch“, erklärte Patschan. Eine kleine Studie zeigt für Rhupus – das Überlappungssyndrom aus der RA und dem systemischen Lupus eine gute Evidenz.
Die Effektivität und Sicherheit von Rituximab bei Lupus und beim Sjögren-Syndrom zeigt auch eine Arbeit, die 2015 erschienen ist. Auch beim Antisynthetase Syndrom (Jo-1-Ak Syndrom), das potenziell tödlich verläuft, „haben wir nicht viel Zeit und nicht viele Therapieversuche, um diese hochaktiven Patienten in Remission zu bringen – hier hat das Rituximab hervorragend das Kortison reduziert. Es ist ein großer Unterschied, ob sie pro Tag 50 Milligramm Kortison nehmen müssen oder nur neun Milligramm“, betonte Patschan.
Individueller Heilversuch: Gut dokumentieren, schriftliches Einverständnis des Patienten
Insbesondere bei den selteneren entzündlich-rheumatischen Systemerkrankungen sind Standardtherapien ineffektiv oder es existieren keine zugelassenen Therapien. „Dann liegt es nahe, vom Wirkmechanismus her vielversprechende Therapieformen einzusetzen“, berichtete Patschan. Das geschehe zunächst in Form eines individuellen Heilversuchs.
Die Einverständniserklärung des Patienten sollte grundsätzlich schriftlich vorliegen. Wichtig ist, den Einsatz gut zu dokumentieren und zu prüfen, ob für das jeweilige Krankheitsbild Therapieempfehlungen oder gar Leitlinien nationaler und internationaler Fachgesellschaften existieren.
Schwieriger wird die Situation, wenn keine Expertenempfehlungen existieren. Patschan rät, die Literatur nach großen Fallserien, Registerstudien, retrospektiven Datenanalysen und offenen Studien zu durchsuchen und einen gut fundierten Antrag auf Kostenübernahme zu stellen. Es sei auch möglich, Eilanträge zu stellen, die in der Regel innerhalb von 3 bis 7 Tagen bearbeitet würden (v a. bei Rituximab).
Laut RABBIT-Register werden in Deutschland 11 bis 18% aller Biologika-Patienten in Kombination mit Leflunomid (LEF) behandelt. Allerdings wurden für zahlreiche deutsche Rheumatologen in den letzten 2 Jahren wegen der Verwendung dieser weltweit üblichen und problemlos zu verordnenden Kombination Regresse ausgesprochen. In einigen Fällen wurde vor dem Sozialgericht der Regress bestätigt. „Die Anwendung der Kombination Biologikum plus Leflunomid – obgleich erfolgreich und bewährt – ist in Deutschland nicht ratsam“, warnte daher Patschan
Off-Label-Use ist nicht per se eine Außenseitermethode
Duttge betont, dass der Off-Label-Use nicht per se eine „Außenseitermethode“ sei. Die Notstandsidee, die sowohl dem Off-Label-Use als auch dem Compassionate Use zugrunde liege, hält Duttge als generelle Leitmaxime für „inadäquat – weil zu grobschlächtig, zu simplifizierend“. Die entscheidende Frage gehe dahin, wie wissenschaftliche Evidenz definiert werde. „Wie wollen wir das in Zukunft handhaben? Es wird nicht adäquat sein, alles ausschließlich an klinischen Prüfungen festzumachen“, so Duttge.
Seine Idee ist, künftig eine Art unbürokratisches Off-Label-Verfahren zu implementieren, das die nötige Rechtssicherheit gewährleiste. Weiterhin sollten vom Gesetzgeber Anreize für klinische Prüfungen in der Pädiatrie, Onkologie, Rheumatologie geschaffen und andererseits Negativanreize beseitigt werden. Derzeit ist ein Mittel während der klinischen Prüfungsphase für einen individuellen Heilversuch gesperrt. Der Hersteller wird dann ein Mittel nicht herausgeben wollen, weil er Angst hat, dadurch sein eigenes Zulassungsverfahren zu gefährden.
Um in der Rheumatologie eine bessere Rechtssicherheit für den Off-Label-Use zu schaffen, wird in Göttingen zusammen mit den Rheumatologen derzeit im Rahmen eines Graduiertenkollegs ein Antrag vorbereitet. Im Antrag soll die Evidenz zum Off-Label-Use in der Rheumatologie zusammengetragen werden, auf die dann in den Begründungen gegenüber den Kassen zurückgegriffen werden kann. „So dass auch die Krankenkassen Sie nicht mehr mit Regressansprüchen zu sehr behelligen“, schloss Duttge.
REFERENZEN:
© 2016 WebMD, LLC
Diesen Artikel so zitieren: Mit einem Bein im Gefängnis? Am Off-Label-Use kommt in der Rheumatologie niemand vorbei - Medscape - 19. Apr 2016.
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