Mannheim – „In den neuen US-Ernährungsleitlinien sind die Obergrenzen für den Gesamtfettanteil der Nahrung abgeschafft; gewarnt wird stattdessen vor zugesetztem Zucker. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung“, sagte bei einem Symposium auf dem DGIM-Kongressder Internist, Sport- und Ernährungsmediziner Dr. Johannes Scholl, Rüdesheim [1]. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) sieht der Geschäftsführer von Prevention First und Vorsitzender der Deutschen Akademie für Präventivmedizin jetzt allerdings im Zugzwang. Im Gespräch mit Medscape Deutschland bekräftigte Scholl seine Forderung an die DGE, ihre Empfehlungen ebenfalls an der aktuellen Evidenz auszurichten und alte Zöpfe endlich abzuschneiden.
Griffig, aber überholt: die „10 Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung“

Dr. Johannes Scholl
So raten die „10 Regeln der DGE“ zum ausgedehnten Kohlenhydratverzehr und zum Verzicht auf Fett und Eiweiß, die Tipps lauten etwa: „reichlich Getreideprodukte sowie Kartoffeln“, „Milch und Milchprodukte täglich, Fisch ein- bis zweimal in der Woche, Fleisch, Wurstwaren sowie Eier in Maßen“ oder „wenig Fett und fettreiche Lebensmittel“. Als Obergrenze für den gesamten Fettkonsum werden 30% der Tagesenergiemenge genannt, wobei „pflanzliche Fette bevorzugt“ werden sollen. „Das ist sehr ungenau, denn darunter würden theoretisch auch Backfette und Frittierfett fallen, also gehärtete Pflanzenfette“, beanstandet Scholl.
Lediglich Tipp Nr. 6 der DGE, „Zucker und Salz in Maßen“, empfehle eine gewisse Beschränkung der Kohlenhydratzufuhr, aber dies „ebenfalls sehr unpräzise“, kritisiert Scholl weiter.
Gegenüber Medscape Deutschland erklärt er: „Insbesondere für Menschen mit wenig Bewegung, mit Insulinresistenz, Adipositas und/oder Fettleber ist kohlenhydratreiche Kost kontraproduktiv. Sie erhöht den Insulinspiegel, fördert die Leberverfettung, erschwert das Abnehmen und lässt den Blutdruck ansteigen.“
DGE-Tipps nur für Gesunde?
Auf den häufig vorgebrachten Einwand, die Ernährungsempfehlungen der DGE seien für Gesunde konzipiert, entgegnet Scholl: „Wie viele Personen in der Allgemeinbevölkerung sind schon metabolisch völlig gesund?“ So hätten Präventions-Checks in seiner Praxis gezeigt, dass nur 11% der Männer und 19,6% der Frauen die Vorgaben für das Prädikat „gesund“ erfüllen.
Zu diesen Vorgaben gehörte neben einem Body Mass Index unter 25 kg/m², Taillenumfang unter 80 (Frauen) bzw. unter 94 cm (Männer), Nicht-HDL-Cholesterin unter 160 mg/dl und Triglyzeriden unter 150 mg/dl sowie ein Blutdruck von unter 130/85 mmHg. Außerdem durften weder Diabetes noch Prädiabetes oder Insulinresistenz vorliegen. Ein Blutdruck von unter 130/85 mmHg ist nach Erkenntnissen der kürzlich veröffentlichten SPRINT-Studie mit einer deutlichen Reduktion des Schlaganfall- und Herzinfarktrisikos verbunden.
Starke Evidenz: Ernährungsempfehlungen sollten auf Interventionsstudien gründen
„Wichtig ist es, als Grundlage für neue Leitlinien Studien zu Ernährungsinterventionen heranzuziehen und nicht nur epidemiologische Studien zu selbst gewählten Ernährungsgewohnheiten, die offen für systematische Fehler sind“, betont Scholl. „Glauben wir den Beobachtungen, aus denen wir Hypothesen ableiten, oder den Interventionsstudien, die gemacht werden, um diese Hypothesen zu überprüfen? Denn darum geht es ja: Welche Erfolge können wir erzielen, wenn wir Ernährungsmuster bewusst umstellen?“
Oftmals wurden in Studien zu Ernährungsinterventionen Surrogatparameter gemessen, sie weisen aber alle in eine Richtung: So ist laut einer schon 2003 erschienenen Analyse die Warnung vor gesättigten Fetten übertrieben, da sie keinen Effekt auf das Verhältnis von HDL- zu LDL-Cholesterin haben. Eine Kohlenhydrat-Beschränkung zugunsten von Proteinen hilft Adipositaspatienten bei der Gewichtsstabilisierung, dies wurde in einer weiteren Studie deutlich. Und Diabetiker, so die Aussage einer australischen und einer US-Studie, profitieren schon allein wegen der geringeren glykämischen Last von der Umstellung auf kohlenhydratarme Kost.
Aber auch Endpunktstudien liegen vor: So wurde kürzlich in einer Metaanalyse gezeigt, dass der Konsum von gesättigten Fetten nicht zu einer Steigerung der Mortalitätsrate oder der Raten an koronarer Herzkrankheit, Schlaganfall und Diabetes führt. Die Ergebnisse einer anderen Studie sprechen Eier von dem Verdacht frei, bei regelmäßigem Verzehr das KHK- und Schlaganfallrisiko zu erhöhen.
Lehren aus PREDIMED und WHI
„Es gibt nur zwei gut gemachte, große, randomisiert-kontrollierte Studien zu Ernährungsinterventionen und harten klinischen Endpunkten“, so Scholl, „die PREDIMED- und die WHI-Studie.“ Die mehr als 40.000 Teilnehmerinnen der Women’s Health Initiative (WHI) hatten ihren Fettverzehr im 1. Jahr um relative 12% und dauerhaft um 8% reduziert. Das Ergebnis des Fettverzichts war jedoch enttäuschend: „Weder Herzinfarkt- noch Schlaganfallrate oder Gesamtmortalität waren reduziert.“
In der PREDIMED-Studie (PREvención con DIeta MEDiterránea) wurden 7.447 Spanier mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko auf eine Mittelmeerdiät mit viel Olivenöl oder mit verstärktem Nusskonsum oder auf eine fettarme Kontrolldiät randomisiert. Die fettarm ernährte Gruppe sollte beispielsweise untypisch wenig Olivenöl zu sich nehmen (maximal 2 Esslöffel pro Tag), Milchprodukte nur fettarm genießen, stattdessen aber mehr Brot, Kartoffeln und Reis konsumieren, ganz ähnlich wie in den DGE-Tipps. Die mittlere Nachbeobachtungszeit lag bei knapp 5 Jahren.
„Die beiden Gruppen mit Mittelmeerdiät schnitten deutlich besser ab als die Fettsparer“, fasst Scholl das Ergebnis zusammen. So trat der primäre Endpunkt aus Herzinfarkt, Schlaganfall und kardiovaskulärem Tod unter der öl- und der nusshaltigen Diät signifikant seltener auf als in der Kontrollgruppe. Die kardiovaskuläre Todesrate sank unter beiden Mittelmeerdiäten um etwa 30% gegenüber der fettarmen Diät. Die Studie wurde deshalb vorzeitig abgebrochen.
Flexi-Carb: Kohlenhydrate vorher durch Sport verdienen
Scholl plädiert deshalb für wenig Beilagen und das Weglassen von Zucker. Die Konsequenz ist allerdings keine strikte Low-Carb-Kost. Vielmehr stellte er bei der Tagung in Mannheim eine Flexi-Carb-Ernährungspyramide vor mit Lebensmitteln geringer Energiedichte (Gemüse, Obst, Salat), viel Proteinen (Fisch, Geflügel, Fleisch, Milchprodukte) und gesunden Fetten (Oliven- und Rapsöl, Nüsse, Fisch).
Günstig ist laut Scholl eine lange Kohlenhydratpause im Tagesverlauf: Stärkehaltiges sollte nur morgens und mittags oder nur mittags und abends konsumiert werden, vorzugsweise in Form von Vollkornprodukten, erklärte er auf Nachfrage von Medscape Deutschland. Und man sollte sich die Portion Nudeln, Brot oder Reis schon vor dem Essen durch Sport verdienen: „Dafür kann man etwa 30 bis 45 Minuten joggen oder 45 bis 60 Minuten Radfahren.“
Die kohlenhydratlastigen DGE-Empfehlungen sollten nach Meinung von Scholl zügig überarbeitet werden: „Es ist höchste Zeit.“
REFERENZEN:
1. 122. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), 9. bis 12. April 2016, Mannheim
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Diesen Artikel so zitieren: DGE-Ernährungsregeln beim DGIM unter Beschuss: „Es ist höchste Zeit alte Zöpfe abzuschneiden“ - Medscape - 13. Apr 2016.
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