Mannheim – Der 122. DGIM-Kongress steht unter dem Motto „Demografischer Wandel fordert Innovation“. Thema einer Kongress-Pressekonferenz waren deshalb auch innovative Kommunikationswege über eHealth, Telemedizin und Co. Medscape sprach mit Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann, Abteilung Community Medicine der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, und mit Dr. Markus Müschenich, Vorstandsmitglied im Bundesverband Internetmedizin (BiM), Berlin.
Medscape: Bei eHealth denken viele nur an die elektronische Gesundheitskarte; was zählt noch dazu?

Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann
Prof. Dr. Hoffmann: eHealth ist viel mehr – und meint die Unterstützung der medizinischen Versorgung durch Informationstechnologie insgesamt. Dazu gehören die Krankenhausinformationssysteme genauso wie Selbstmanagement-Portale für Patienten oder die Telemedizin. eHealth hilft bei der Zusammenarbeit der Gesundheitsprofis in der Behandlung eines Patienten, und idealerweise geschieht dies papierlos und zügig. So lassen sich Wartezeiten und Doppeluntersuchungen vermeiden.
Medscape: Was macht die zunehmende Digitalisierung des Gesundheitswesen sonst noch möglich?

Dr. Markus Müschenich
Dr. Müschenich: Mit Hilfe von eHealth oder Internetmedizin können vorliegende Befunde zur fachärztlichen Abklärung oder zum Einholen einer Zweitmeinung zeitnah an einen ärztlichen Kollegen versandt werden. Die meisten Befunde liegen heute ohnehin in Dateiform vor, sogar manche Stethoskope funktionieren schon elektronisch.
Medscape: Ist die Vermeidung von Doppeluntersuchungen durch eHealth bereits Realität – oder vertraut nicht doch jede Klinik und jeder Facharzt lieber nur auf die selbst erhobenen Befunde?
Dr. Müschenich: Das Klischee, dass Klinikärzte prinzipiell die Befunde niedergelassener Kollegen anzweifeln, gehört wohl weitgehend der Vergangenheit an. Sicherlich hat mancher noch Vorbehalte, aber die Nutzung einmal generierter Patientenbefunde ist heute Standard, schon aus Kostengründen.
Prof. Dr. Hoffmann: In einigen Bereichen existieren bereits klare Vorgaben oder sie sollen laut eHealth-Gesetz jetzt zeitnah präzisiert und beschlossen werden, etwa bei der Teleradiologie oder auch der Videokonsultation. In vielen anderen Bereichen dagegen ist der Austausch von Patientendaten noch nicht genau geklärt.
Medscape: Wo liegen die Probleme?
Prof. Dr. Hoffmann: Vorrangig bei dem Menschen, der die Befunde versendet: Mancher hat heute noch Zweifel hinsichtlich der Datensicherheit bei der Übertragung sowie der Fälschungssicherheit und Rechtsverbindlichkeit der elektronischen Arztsignatur. Wir erleben momentan eine sehr komplexe Situation, eine Umbruchsituation.
Medscape: Wie kann man denn die Übertragungssicherheit gewährleisten, damit die Daten nicht in falsche Hände geraten, etwa in die von Versicherern oder Arbeitgebern?
Prof. Dr. Hoffmann: An der Gewährleistung der Datensicherheit wird intensiv gearbeitet. Die technischen Voraussetzungen für die elektronische Fallakte sollten bald gegeben sein, bei einer umfassenden elektronischen Patientenakte wird es noch etwas länger dauern. Ganz unabhängig von Datenschutz und Datensicherheit wird auch die durch eHealth aufkommende Transparenz der ärztlichen Arbeit allerdings nicht von allen begrüßt, dazu kommen noch diffuse Ängste vor den elektronischen Medien, die bei einigen älteren Kollegen noch bestehen. Die Patienten haben heute schon viel weniger Probleme mit dem Gedanken, dass der Datenaustausch zwischen ihren Ärzten künftig elektronisch abläuft.
Medscape: Werden die Daten lediglich elektronisch übermittelt oder auch in einer abgesicherten Cloud gespeichert?
Prof. Dr. Hoffmann: Eine zentrale Speicherung etwa von Patientenakten ist derzeit noch nicht vorgesehen, selbst deren Erfassung auf der individuellen elektronischen Gesundheitskarte liegt noch in weiter Ferne. Ab Juli 2016 werden erst einmal die Stammdaten der Patienten auf der Gesundheitskarte verfügbar sein und müssen überprüft werden; ab Januar 2018 sollen dann auch die Daten zur Notfallversorgung und zur Medikation dezentral auf der Karte gespeichert sein.
Medscape: Werden die Patienten denn auch direkt von den neuen Optionen profitieren und selbst Zugriff auf ihre Daten haben?
Prof. Dr. Hoffmann: Es ist bereits jetzt gesetzlich geregelt, dass der Patient die Hoheit über seine Daten hat. er kann jederzeit eine Kopie der ihn betreffenden Befunde und Arztbriefe anfordern. Das wird durch die elektronische Übermittlung künftig noch einfacher möglich sein, auch wenn der Patient dafür kein eigenes Lesegerät hat.
Medscape: Gibt es dabei Grenzen? Würde mit einer vollständigen Datenfreigabe nicht der intuitiven Selbstbehandlung ohne ärztliche Konsultation Tür und Tor geöffnet?
Dr. Müschenich: Viele Dinge können vom Patienten selbst geregelt werden. So kann einfaches Grundlagenwissen über die Bedeutung leichter Krankheitssymptome – Dinge, die früher die im Haushalt lebende Großmutter in ihrem Erfahrungsschatz hatte – heute im Rahmen der Internetmedizin aus anderen Quellen abgerufen werden. Sicherlich ist nicht jeder der jährlich 590 Millionen Arztbesuche in Deutschland dringend notwendig. Darüber hinaus profitieren chronisch kranke Menschen, etwa Menschen mit Diabetes, zwischen den vierteljährlichen Facharztbesuchen von der Nutzung spezieller Internetportale.
Prof. Dr. Hoffmann: Wir als Ärzte können und sollten es deshalb als unsere Aufgabe ansehen, unseren Patienten Empfehlungen zu geben, wie sie seriöse und wissenschaftlich fundierte Portale finden und erkennen können.
Medscape: Patienten nutzen nicht nur Internetportale, sondern auch zahlreiche Gesundheits-Apps und generieren damit große Datenmengen, die einige gern zum Arztbesuch mitbringen. Ist es dem Arzt im Zeitalter der Acht-Minuten-Konsultationen überhaupt möglich, darauf einzugehen?
Dr. Müschenich: Mit Messwerten, die bislang so nicht zur Verfügung standen, wie etwa lückenlosen Blutzucker- oder Fieberkurven, können wir bessere Medizin machen. Und als gute Ärzte wollen wir eine bessere Medizin; wir sollten uns dem nicht verschließen, sondern unseren Patienten auf Augenhöhe begegnen.
Medscape: Gibt es Unterschiede in der Akzeptanz von eHealth bzw. Internetmedizin durch jüngere vs. ältere Mediziner?
Prof. Dr. Hoffmann: Durchaus: die traditionelle IT-Ferne vieler Mediziner ist ein Hindernis für die Umsetzung der geplanten umfassenden Telematik-Infrastruktur. Diese Probleme werden sich aber ganz von selbst lösen, wenn eine jüngere Generation von Ärzten nachrückt, die mit diesen technischen Möglichkeiten ganz selbstverständlich im Alltag umgeht. Und mit kollegialer Arbeitsteilung, innerhalb der Ärzteschaft ebenso wie über die Grenzen der Medizinberufe hinweg, haben die jüngeren Kollegen kaum Probleme.
Dr. Müschenich: Letztlich ist es eine Frage von Präferenzen und Engagement, auch über die Altersgrenzen hinaus, und entsprechend ihren Präferenzen werden Ärzte und Patienten zueinanderfinden. Langfristig werden die analogen Methoden jedoch verschwinden und die Internetmedizin wird sich gewissermaßen als ein dritter Sektor neben der ambulanten und der stationären Medizin etablieren, als ein Sektor, der alles miteinander verbindet.
Medscape: Die Digitalisierung des Gesundheitswesen soll nun aber nicht erst in einigen Jahren, sondern bereits jetzt beginnen. Der Gesetzgeber hat Vertragsstrafen angedroht, wenn dies nicht funktioniert. Was kann jetzt getan werden, um die Vorgänge zu beschleunigen?
Prof. Dr. Hoffmann: Es tut sich ja schon einiges, es gibt durchaus gute Beispiele. Dazu gehört etwa die Initiative der Bundesärztekammer in der AG Telemedizin unter Leitung von Dr. Franz Joseph Bartmann, dem Präsidenten der Ärztekammer Schleswig-Holstein. Darin wird betont, dass Telemedizin keine neue und eigene Richtung der Medizin ist, sondern ein integraler Bestandteil der alltäglichen ärztlichen Versorgung – eben nur mit elektronischen Mitteln. Diese Betrachtungsweise nimmt der Telemedizin und eHealth insgesamt den falschen Nimbus eines Paradigmenwechsels und diese realistische Verortung kann ihre Implementierung in der Versorgung erleichtern. Wichtig ist, dass die Umsetzung nicht vom grünen Tisch aus erfolgt, sondern dass ärztlicher und technischer Sachverstand einbezogen wird.
Erfolgversprechendes Beispiel für Telemedizin Das vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Bayern entwickelte telemedizinische Expertenkonsil PädExpert® vernetzt niedergelassene Kinder- und Jugendärzte und spezialisierte Pädiater digital. Damit wird die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit seltenen oder schwer einstellbaren chronischen Krankheiten in diesen Regionen deutlich verbessert. Lange Anfahrtswege und Wartezeiten durch Überweisungen zum Facharzt können oftmals entfallen. „Es ist für uns wichtig, dass wir rasch und ohne großen Aufwand einen Experten konsultieren können“, betonte Dr. Martin Lang, Kinder- und Jugendarzt, Bayerischer Vorsitzender der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ), Augsburg, bei einer DGIM-Pressekonferenz in Mannheim. Dafür bieten sich Projekte wie PädExpert® als Lösung an. Erste Erfahrungen aus der Pilotphase 2014/15 mit etwa 500 Kindern zeigen, dass 70% der Patienten bzw. ihre Eltern gern auf den zusätzlichen Facharztbesuch verzichteten, dass sich 63% der Fälle durch telemedizinischen Rat lösen ließen und dass die Zeit von der Anfrage an den Facharzt bis zur sicheren Diagnose von durchschnittlich 24 auf 8 Tage verkürzt wurde. Besonders gut angenommen wurde das internetbasierte System von jüngeren Ärzten, berichtete Lang. „Eine besondere Ausrüstung benötigen die teilnehmenden Kinderärzte nicht, ein Internetanschluss genügt“, erklärte er auf Nachfrage von Medscape Deutschland. Auch Daten von Patienten-Apps werden einbezogen. Die Datenübertragung erfolgt verschlüsselt. Der deutschlandweite Einsatz des Telemedizin-Systems ist ab dem 1. Juli 2016 geplant. |
REFERENZEN:
1. 122. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Inneren Medizin, 9. bis 12. April 2016, Mannheim
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Diesen Artikel so zitieren: Digitalisierung auf dem Vormarsch – alles nur eine Frage der Generation? - Medscape - 13. Apr 2016.
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