Die SPRINT-Studie setzt neue Blutdruck-Maßstäbe – aber tatsächlich auch für alle Hypertoniker?

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

13. April 2016

Mannheim – „Eine der wichtigsten Studien des letzten Jahres“, so bezeichnete Prof. Dr. Stefan Blankenberg, Direktor der Klinik für Allgemeine und Interventionelle Kardiologie des Herzzentrums Hamburg, die SPRINT-Studie auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) in Mannheim [1]. Denn SPRINT (Systolic blood PRessure INtervention Trial) wird wohl die empfohlenen Blutdruckziele in der antihypertensiven Therapie verändern, zeigte er sich überzeugt: Nicht mehr 140/90 mmHg, was bislang für die meisten Patienten als ausreichend galt, sondern ein systolischer Blutdruck von unter 120 mmHg wird demnächst wohl das Therapieziel für viele Hypertoniker sein.

Prof. Dr. Michael Böhm

„SPRINT adressiert die Frage, ob wir neue Blutdruckzielwerte bei Patienten mit Bluthochdruck anstreben sollten“, erläuterte Prof. Dr. Michael Böhm, Direktor der Klinik für Kardiologie, Angiologie und Internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg/Saar.

Eine für die Umsetzung im Praxisalltag wichtige Frage ist für ihn vor allem, ob sich ähnlich gute Ergebnisse wie in SPRINT auch dann erreichen lassen, wenn die Patienten deutlich höhere Ausgangswerte des Blutdrucks haben als das in der Studie der Fall war. Wie Böhm erläuterte, hatten in SPRINT die Patienten bei Studienstart in beiden Gruppen einen mittleren Blutdruck von 140/78 mmHg – weit niedriger als viele Alltagspatienten, bei denen eine Blutdrucksenkung begonnen wird. Die Frage sei, so Böhm, wenn die Patienten einen höheren Ausgangswert, etwa zwischen 180 und 190 mmHg, hätten, ob unter dieser Voraussetzung dann auch ein Ziel von 120 mmHg mit noch zu vertretenden Nebenwirkungen erreicht werden könne.

Hier sei Skepsis angebracht. Böhm verwies darauf, dass in keiner Studie vor SPRINT ein so niedriger systolischer Wert erzielt worden sei und die Teilnehmer früherer Studien auch höhere Ausgangswerte aufgewiesen hatten.

Zur Erinnerung: SPRINT hatte 9.361 Teilnehmer mit einem systolischen Ausgangsblutdruck über 130 mmHg und erhöhtem kardiovaskulärem Risiko eingeschlossen. 28% der Probanden war über 75 Jahre alt, Diabetiker und Patienten mit früherem Schlaganfall waren explizit ausgeschlossen. Die Patienten wurden in 2 Gruppen randomisiert auf entweder eine Standard-Behandlung (systolisches Blutdruckziel unter 140 mmHg) oder eine Intensivtherapie mit dem Ziel eines systolischen Blutdrucks von unter 120 mmHg. Unter der Intensivtherapie war die kardiovaskuläre Ereignisrate um 25% und die Gesamtmortalität um 27% geringer, so dass die eigentlich auf 5 Jahre angelegte Studie frühzeitig bereits im September vergangenen Jahres nach 3,3 Jahren beendet wurde.

 
Der Zielwert in der SPRINT-Studie entspricht, übertragen auf die ambulante Messung, einem Zielwert von 124 mmHg. Dr. Franz Goss
 

Blutdruckmessung ohne „White-coat-Effekt“

Auch die ambulante Blutdruckmessung im SPRINT-Studienprotokoll unterschied sich „erheblich von unserer täglichen Praxisroutine“, informierte Dr. Franz Goss, Kardiologe am Herzzentrum Alter Hof in München und Vorstandsmitglied des Bundesverbandes niedergelassener Kardiologen (BNK). „Die Patienten in SPRINT waren fünf Minuten lang in einer ruhigen Umgebung untergebracht, in diesem Zeitraum wurde der Blutdruck 3-mal gemessen. Es war kein Arzt im Raum. Diese Art der Messung vermeidet den ‚White-coat-Effekt‘ – das ergibt per se bereits niedrigere Messwerte als die normale Messung beim Arzt“, erklärte Goss. Mit den ambulant gemessenen Werten (ABPM) sei dies demnach nicht direkt vergleichbar.

„Der Zielwert in der SPRINT-Studie entspricht, übertragen auf die ambulante Messung, einem Zielwert von 124 mmHg“, erklärte Goss. Die in SPRINT erreichten systolischen Blutdruckwerte betrugen bei intensiver Therapie im Schnitt 121,4 mmHg und bei Standardtherapie 136,2 mmHg, die diastolischen Werte lagen bei 68,7 bzw. 76,3 mmHg. „Das zeigt, dass auch die Mehrheit der Patienten in SPRINT einen Zielblutdruck erreicht hatte, der zwischen 120 und 130 mmHg lag und eben nicht kleiner als 120 mmHg war“, fügte Goss hinzu.

Überraschend ausgeprägter Effekt auf die Herzinsuffizienz

Niedergelassene Kardiologen in Deutschland haben in den vergangenen 12 Monaten 2,8 Millionen Patienten mit einem mittleren Alter von 69 Jahren behandelt, berichtete Goss und bezog sich dabei auf die Datenbank Kar-Dat des BNK. 20% dieser Patienten hatten Diabetes, 15% ein Herzversagen, 4% beides.

Doch waren in SPRINT neben Diabetikern und Patienten mit früherem Schlaganfall auch Patienten mit symptomatischer Herzinsuffizienz in den letzten 6 Monaten oder einer linksventrikulären Ejektionsfraktion (LVEF) von unter 35% ausgeschlossen. Goss kritisierte die fehlenden Angaben zu Subgruppen der Herzinsuffizienz zu Beginn der Studie, „weil das sehr wichtig ist für die Erklärung der Ergebnisse, die Herzversagen betreffen“.

In SPRINT war der Nutzen der intensiven Blutdrucksenkung im kombinierten kardiovaskulären Endpunkt im Wesentlichen getrieben durch den deutlichen Effekt auf das Herzversagen, bezog sich Goss auf eine Anfang März erschienene Analyse der SPRINT-Daten von Prof. Dr. Rainer Düsing. SPRINT, so Düsing, füge offensichtlich neue Informationen zu den komplexen Wechselbeziehungen zwischen Hypertonie und Herzinsuffizienz hinzu und zeige, dass eine stärkere Blutdrucksenkung als die derzeit empfohlene, künftig die Inzidenz dieses speziellen Endpunktes reduzieren könne – ohne signifikant koronare Ereignisse oder Schlaganfälle zu beeinflussen.

Wirkten einige der Antihypertensiva präventiv gegen die Herzinsuffizienz?

Dass das Herzversagen in SPRINT einen wichtigen Beitrag zur Reduktion des primären Endpunkts leistete – im Vergleich zu ACCORD – kann aus Düsings Sicht auch mit der Wahl der Antihypertensiva zu tun haben. In der Standardtherapie erhielten 43% der Patienten ein Diuretikum, in der Intensivtherapie waren es 67%. Bei den ACE-Hemmern war das Verhältnis 28% vs 37%, bei den ARBs 27% vs 40% und bei den Beta-Blockern 31% vs 41%. Möglicherweise sei durch den höheren Anteil an Diuretika und ACE-Hemmern eine Art präventive Therapie der Herzinsuffizienz erfolgt.

Auch Goss hält die Wahl der Antihypertensiva für entscheidend. Er stellt aber auch klar, dass sich die in SPRINT verwendete Medikation so wohl kaum auf die tägliche Praxis übertragen lasse. Selbst in der Standardtherapie wurden bei 42% der Patienten Diuretika eingesetzt, 55% der Patienten erhielten ACE-Hemmer oder ARBs oder beides: „Das ist unrealistisch in unserer täglichen Praxis. Denn wollen wir die Intensivtherapie umsetzen, müssten wir diese Prozentsätze ja noch erhöhen.“

Jeder zweite Patient – selbst unter Standardtherapie – hatte schwere Nebenwirkungen

Die intensive Blutdrucksenkung hatte zudem in SPRINT ihren Preis: Die Rate von schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen war erhöht. Hypotonie: 2,4 vs 1,4%, Synkopen 2,3 vs 1,7%, Elektrolytabweichungen 3,1 vs 2,3% und akute Nierenschädigungen bzw. renale Funktionsstörungen 4,1 vs 2,5%.

 
Das ist unrealistisch in unserer täglichen Praxis. Dr. Franz Goss
 

Jeder zweite Patient – selbst unter Standardtherapie – erlebte schwere Nebenwirkungen, betonte Goss. Bedenke man, dass in der täglichen Praxis der Anteil von älteren (> 75 Jahre) und hochbetagten Patienten jetzt schon bei 39% liege und weiter steige, wirke sich dies auch bei den Nebenwirkungen aus. Speziell die Blutdrucksenkung bei Hochbetagten sollte mit Bedacht umgesetzt werden, riet Goss und verwies dazu auf die Empfehlungen der European Society of Hypertension und der European Union Geriatric Medicine Society Working Group.

Und noch ein wichtiger Punkt für die Praxis ist laut Goss die Patienten-Adhärenz: „Das ist eine tägliche Diskussion. Wir versuchen den Patienten zu überzeugen, dass es sinnvoll ist, die Medikamente zu nehmen. Doch der Patient ist es, der beispielsweise täglich Probleme mit einer Pollakisurie hat. Und er wird, wenn er morgens oder nachts eine Synkope hat, die Mittel nicht nehmen wollen – das ist die Realität. Wir müssen unsere Patienten deshalb coachen um ihnen klar zu machen: Je niedriger der Blutdruck, desto besser der kardiovaskuläre Schutz.“

Strikte Blutdruckkontrolle führt nicht automatisch zum Ziel

Böhm stelle aber auch die Gretchenfrage nach SPRINT, nämlich: „Lassen sich durch eine umfangreiche medikamentöse Blutdrucksenkung tatsächlich normale oder optimale Blutdruckwerte erreichen und kann dieser niedrigere Blutdruck dann die Prognose im Alter verbessern?“

Denn dass eine strikte Blutdruckkontrolle nicht immer zum Ziel führt, schwere kardiovaskuläre Ereignisse wirklich weiter zu reduzieren, hatten z.B. die Ergebnisse des Hochdruck-Arms der ACCORD-Studie gezeigt. Bei den in diese Studie eingeschlossenen Typ-2-Diabetespatienten war es nicht gelungen, einen signifikanten Nutzen einer Blutdrucksenkung unter das allgemein empfohlene systolische Blutdruckziel von 140 mmHg nachzuweisen.

Gelingt es nicht, den systolischen Blutdruck auf unter 140 mmHg zu senken, ist dies nach aller Erfahrung besonders für KHK-Patienten mit einer schlechten Prognose verknüpft. Doch in einigen Studien, etwa in der INVEST-Studie, wurde auch durch eine strikte Blutdruckkontrolle (< 130/85 mmHg) gegenüber einer normalen Kontrolle (< 140 mmHg) das kardiovaskuläre Risiko nicht gesenkt. „Wie Cooper DeHoff und sein Team aber auch nachweisen, kommt es bei einer sehr strikten Kontrolle – einer Senkung des Blutdrucks unter 110 mmHg – sogar zu einem Anstieg kardiovaskulärer Ereignisse“, erinnerte Böhm.

Keine Reduktion von Schlaganfällen – vom Selektionsbias verursacht?

Dagegen war in SPRINT unter den niedrigeren Blutdruckzielen die allgemeine Sterblichkeit um 27% geringer. Der primäre Endpunkt setzte sich zusammen aus Myokardinfarkt oder akutem Koronarsyndrom, Schlaganfall, Herzversagen oder Tod aus kardiovaskulärer Ursache.

 
Wir müssen unsere Patienten coachen um ihnen klar zu machen: Je niedriger der Blutdruck, desto besser der kardiovaskuläre Schutz. Dr. Franz Goss
 

Die Reduktion der Sterblichkeit war zum Großteil durch die Senkung der kardiovaskulären Todesfälle bedingt – aber überraschenderweise fand sich keine signifikante Reduktion bei den nicht-tödlichen Myokardinfarkten (p = 0,19) und beim Schlaganfall (p = 0,50), „den eigentlich typischen Endpunkten einer antihypertensiven Therapie“, so Böhm.

Doch war die Zahl der Schlaganfälle in SPRINT insgesamt sehr klein. Dafür kann es, so Böhm, 2 Gründe geben: „Erstens – Schlaganfälle sind mit höheren Blutdruck-Ausgangswerten assoziiert – die Ausgangswerte in der Studie waren aber niedrig. Deshalb lassen sich diese Daten nicht auf alle Hypertoniker generalisieren.“

Als möglichen zweiten Grund führte Böhm einen Selektionsbias an: Von SPRINT ausgeschlossen waren neben Diabetikern nämlich auch Patienten mit einem Schlaganfall in der Vorgeschichte – sekundäre Schlaganfälle tauchten in der Studie deshalb gar nicht auf. Der Schlaganfall-Arm in SPRINT sei „underpowered“ gewesen, betonte Böhm.

Abnahme der GfR könnte ein pharmakologischer Effekt sein, der mit der Zeit nachlässt

 
Langfristig wird die Niere geschützt, weil der Druck vom Nierengewebe genommen wird. Prof. Dr. Michael Böhm
 

Ein weiterer Aspekt für die Praxis ist die Auswirkung einer strikten Blutdrucksenkung auf die Niere: In SPRINT war bei Patienten ohne bestehende Nierenerkrankung in der intensiv behandelten Gruppe die Rate derjenigen, bei denen die GFR um mehr als 30% abnahm und damit unter 60 ml/min fiel, um mehr als das Dreifache erhöht (3,8 vs 1,1%). Dabei zu beachten: Unter Intensivtherapie nahm in SPRINT auch die Gabe von ACE-Hemmern und Angiotensin-Rezeptorblockern (ARB) zu: Von 28 auf 37% und von 27 auf 40%, Diuretika erhielten 67 anstelle von 42%.

Bei dieser intensiven Therapie sei es naheliegend, dass es zunächst zu einer Verringerung der GFR komme, erklärte Böhm. Die Studienautoren führen den GFR-Abfall auf einen reversiblen intrarenalen hämodynamischen Effekt der stärkeren Blutdrucksenkung zurück und schreiben, dass die Daten keine Hinweise auf wesentliche permanente Nierenschädigungen lieferten.

Wie Böhm aufzeigte, verläuft der GFR-Abfall unter ACE-Hemmern und ARB unterschiedlich. Bei den Patienten, die ACE-Hemmer bekamen, kam es tendenziell zu einem steileren Abfall der GFR, der sich dann deutlich abschwächte und im Verlauf stabilisierte. Bei ARB dagegen war der GFR-Abfall bei den meisten Patienten kontinuierlich. „Dieser pharmakologische Effekt verschwindet mit der Zeit normalerweise. Langfristig wird die Niere geschützt, weil der Druck vom Nierengewebe genommen wird“, erklärte Böhm.

Dass die GfR bei den Patienten zwar abnahm, zeitgleich aber weder die Inzidenz von Proteinurien noch von Albuminurien anstieg, weist Böhms Auffassung nach eher auf eine langfristige Schutzwirkung hin. Ob nicht allerdings trotzdem auch mit permanenten Schädigungen zu rechnen sei, sei nicht geklärt und müsse untersucht werden.

Wie lassen sich nun in der Praxis solch niedrige Blutdruckwerte am besten erreichen? Dazu nannte Böhm mehrere Möglichkeiten. Er verwies auf Spironolacton, das sich in der ASPIRANT-Studie 2011 als effektiv bei der Senkung des resistenten Blutdrucks erwiesen hatte und aus PATHWAY 2 als effektivstes Add-on zur Senkung des therapierefraktären Bluthochdrucks hervorgegangen war. Einen weiteren Ansatz sieht Böhm in der frühzeitigen Kombination mehrerer Antihypertensiva oder einem Versuch mit renaler Denervierung oder Barorezeptorstimulation.

 

REFERENZEN:

1. 82. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, 30. März bis 2. April 2016, Mannheim

 

Kommentar

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